Der bestirnte Himmel über mir (eBook)
352 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3075-4 (ISBN)
Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, studierte Philosophie und Germanistik. Sein Studium schloss er mit einer Diplomarbeit über Schillers Theorie der Entfremdung ab, eine Dissertation über das Erhabene bei Kant brach er nach ersten schriftstellerischen Erfolgen ab. Für sein Werk wurde er unter anderem mit dem Candide-Preis, dem WELT-Literaturpreis, dem Per-Olov-Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet, zuletzt wurden ihm der Frank-Schirrmacher-Preis, der Schubart-Literaturpreis und der Anton-Wildgans-Preis verliehen. Sein Roman Die Vermessung der Welt ist zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit geworden, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf der Bestsellerliste, schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize 2020 und begeistert Leser im In- und Ausland. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.
Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, studierte Philosophie und Germanistik. Sein Studium schloss er mit einer Diplomarbeit über Schillers Theorie der Entfremdung ab, eine Dissertation über das Erhabene bei Kant brach er nach ersten schriftstellerischen Erfolgen ab. Für sein Werk wurde er unter anderem mit dem Candide-Preis, dem WELT-Literaturpreis, dem Per-Olov-Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet, zuletzt wurden ihm der Frank-Schirrmacher-Preis, der Schubart-Literaturpreis und der Anton-Wildgans-Preis verliehen. Sein Roman Die Vermessung der Welt ist zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit geworden, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf der Bestsellerliste, schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize 2020 und begeistert Leser im In- und Ausland. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.
Freudentränen eines Bürgers über die Revolution
Boehm Vielleicht sollte es auch typisch für einen Philosophen sein … Womit ich nicht abstreiten möchte, dass eine bestimmte Art von Interesse an der Person eines Philosophen – die seine »Identität« sein kann, aber nicht muss – aus einer historischen, literarischen oder sogar philosophischen Perspektive fruchtbar sein mag. Fichte hat einmal gesagt: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt […] davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.«2 Ich wollte nur sagen, dass ich nicht zu jenen Philosophen gehöre, die nach Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, fahren, um ein Selfie an Kants Grab zu machen … Auch bin ich nicht so sehr an der »Identität« eines Philosophen interessiert, die sich als das Gegenteil der interessanten Frage nach seinem Charakter oder seiner Persönlichkeit erweisen kann. Und hier ist es sehr bezeichnend, dass wir gleich mit der Widersprüchlichkeit von Kant konfrontiert sind: ein dröger und seelenloser konservativer deutscher Techniker auf der einen Seite, ein revolutionärer Terrorist auf der anderen. Und in der Mitte ist sozusagen die Position Herders, der einen plötzlich mit etwas ganz anderem überrascht – einem Bild Kants als einem freundlichen Lehrer, der sogar eine gewisse väterliche Wärme an den Tag legen konnte.
Wie gehen wir also mit dieser großen Widersprüchlichkeit um, von der du sprichst – vor allem vor dem Hintergrund von Fichtes Behauptung, dass ein Zusammenhang zwischen Person und Philosophie besteht? Jemand, der die Berechtigung dieser Frage erkannte, war Ernst Cassirer. Er sagte, dass man keine zwei Philosophen finden könne, die auf den ersten Blick unterschiedlicher im Charakter oder Stil seien als Kant und Jean-Jacques Rousseau. Und gerade deshalb sei es interessant festzustellen, wie nah sie sich eigentlich waren – tatsächlich war Rousseau der Philosoph, den Kant am meisten bewunderte. Du hast zu Recht gesagt, dass Philosophen für Kant keine Genies sein konnten, doch bekommt man den Eindruck, dass er Rousseau für ein Genie hielt – in dem Sinne vielleicht eher für einen Autor als für einen »Philosophen«. Und man rührt, glaube ich, an eine tiefe Schicht, wenn man eher die Kontinuität als den Gegensatz zwischen Kant und Rousseau sieht, die dem Gegensatz – und der Kontinuität – zwischen dem Bild des trockenen Kant in Musils Törleß und Heines Terrorist nicht unähnlich ist. In gewisser Weise hoffte Kant, dieselbe zentrale Einsicht, die Rousseau in seiner leidenschaftlichen Sprache formuliert hatte, systematisch zu verteidigen. Ich will damit sagen, dass wir die Widersprüchlichkeit von Kants Person als eine Antinomie verstehen können – das heißt, der Widerspruch in seinem Charakter ist nur ein scheinbarer. Und wie bei allen Antinomien verhilft es einem zu einer klaren Einsicht in die Wirklichkeit, wenn man sie auflöst, wenn man entdeckt, dass der Widerspruch nicht real ist; in diesem Fall zu einer tieferen Einsicht, wer Kant, als Philosoph und als Person, in Wirklichkeit war. Das innere Bekenntnis, das man auf diese Weise entdeckt, das vorrangige persönliche philosophische Bekenntnis ist das zum Humanismus. Und zu der Überzeugung, dass der Humanismus durch die Freiheit zu verteidigen ist, nicht durch die Natur. Das war es, was Rousseau Kant beigebracht hat, würde ich sagen – über sich selbst und über die Philosophie. Doch kann dieser Humanismus, wenn er pervertiert wird, auch in Terrorismus abgleiten – jedenfalls ist das eine der Anschuldigungen, die immer wieder gegen Kant erhoben wird. Er versuchte, den Humanismus, die rousseausche Form von Humanismus mit seinen sehr technischen, rationalen Argumenten zu verteidigen, aber durch dieses System kann man den Kontakt mit dem Menschen verlieren und im Zuge dieses Versuchs in einen robespierreschen Terrorismus abgleiten.
Kehlmann Vielleicht ist die Denkbewegung der Antinomien, die Kant ja in dieser Form erfunden hat, tatsächlich das Persönlichste an ihm. Widersprüche, die man scheinbar hilflos nebeneinander stehen lassen muss und die dann letztlich doch ein konsistentes Bild ergeben – aber nicht indem man sie auflöst, sondern indem man sich über ihre Unauflöslichkeit Rechenschaft ablegt.
Boehm Was du hier das Persönlichste an Kant nennst, zeigt sich, sobald man es einmal bemerkt hat, wohin man auch schaut. Viele haben Kant beispielsweise als einen Philosophen in Erinnerung, der vom Begriff des Gesetzes fast schon besessen ist. Das hängt mit dem Bild des »staubtrockenen Ingenieurs« zusammen. Wenn man aber noch einmal auf Kant in dem Moment blickt, in dem er sich fragt, ob er ein »Vorzeichen« dafür erkennen kann, dass das »menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei«, da nennt er die Französische Revolution auf dem Höhepunkt des Terrors als Zeichen dafür, dass das Menschengeschlecht sehr wohl fortschreitet … 3 Er lässt es sich sogar nicht nehmen, zu sagen: Ganz gleich, ob die Revolution Gewalt hervorbringt, ganz gleich, ob sie Erfolg haben oder scheitern wird, ist die Revolution ein Zeichen des Fortschritts. Und da muss man sich schon fragen: Warum sollte jener staubtrockene Ingenieur, der angeblich von den Begriffen des Rechts und des Gesetzes besessen ist, die Revolution, also gerade den Moment, in dem die Menschen das Recht in ihre eigenen Hände nehmen, für ein Zeichen des Fortschritts halten? Wenn man Kants Philosophie in sehr enger Weise fasst, muss man zu dem Schluss kommen, dass eine Revolution definitionsgemäß ungerecht ist – ein direkter Verstoß gegen die Gerechtigkeit. Warum sollte der angeblich konservative Kant dieses Ereignis in seinem gewaltsam ungerechtesten Moment als das Zeichen des Fortschritts und der Hoffnung betrachten? Ich bin mir sicher, dass wir noch zu einer technischen Antwort auf diese Frage kommen; für den Moment soll sie nur noch einmal zeigen, dass die Antinomie von Kants Charakter tief reicht.
Kehlmann Ein Zeitgenosse hat berichtet, dass Kant, als er von der Erstürmung der Bastille erfuhr, beim Mittagessen mit Tränen in den Augen aufstand und die Bibel zitierte: »Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast.«
Boehm Das wusste ich gar nicht, aber der Bezug auf die Bibel, die Größenordnung, die das Ereignis in seinen Augen hat, ergibt absolut Sinn. Als Kant die Frage aufwarf, ob es ein »Zeichen« dafür gebe, dass Fortschritt möglich sei, suchte er ausdrücklich nach einer »wahrsagenden Geschichtserzählung des Bevorstehenden«, also der Prophetie.4 Ich bin immer davon ausgegangen, dass er diesen Begriff ziemlich wörtlich verstand. Wobei … Heine hat recht: So begrüßenswert es ist, dass sich Kant derart für die Französische Revolution begeistert, so stimmt es doch auch, dass er selbst bereits mehr erreicht hatte als die Franzosen. So verstehe ich Heine, wenn er sagt: O ja, ihr Franzosen habt einen König getötet, wir Deutschen aber haben durch Kant Gott getötet. Euch ist es geglückt, die Autorität des Königs abzuschütteln, was wir abgeschüttelt haben … sagen wir es so: Wir haben nicht nur den Kopf irgendeines alten weißen Mannes abgeschlagen, wir haben eine ganze Denkweise umgestürzt. Und es ist eine interessante Frage, ob Kant so begeistert über die Revolution ist, weil er das auch weiß, weil er versteht, dass die Revolution in gewisser Weise ein Ausdruck seiner eigenen Philosophie ist. Auch hier haben wir also wieder diese Widersprüche.
Vielleicht besteht ein Weg, diesen Widerspruch aufzulösen, falls Auflösung in diesem Zusammenhang nicht viel zu kurz gegriffen ist, vielmehr über ihn nachzudenken, darin, dass wir uns jenes berühmte Bild in Erinnerung rufen, das auch Heine erwähnt: das Bild jenes Kant, der so langweilig ist, dass jeder in Königsberg seine Uhr nach seinem Spaziergang stellen konnte. Jeden Tag macht er um genau dieselbe Zeit einen Spaziergang, lässt ihn nie aus – oder fast nie, und am interessantesten sind natürlich die Momente, wenn er doch einmal auf ihn verzichtet: als die Nachricht von der Französischen Revolution eintraf oder als, glaube ich, Rousseaus Émile oder Über die Erziehung erschien und er zu Hause blieb, um das Buch zu lesen, wenn diese Anekdote stimmt. In beiden Fällen ist der Grund im Wesentlichen der gleiche: Das ethische Ideal der Menschheit, das Kant aus dem Émile schöpfte, ist zutiefst mit der Revolution verbunden. Ich beginne meine Kant-Seminare oft damit, dass ich meine Studierenden frage, ob sie alle diese Anekdote kennen: Wie viele hier im Raum wissen, dass Kant so langweilig war, dass man die Uhr nach seinem Spaziergang stellen konnte? Alle Hände gehen hoch. Und dann frage ich: Und wie langweilig ist es, diese Anekdote immer wieder zu wiederholen? Wie kann man sich einen Reim auf diesen Revolutionär machen,...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
---|---|
Übersetzer | Michael Adrian |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Logik |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie | |
Schlagworte | Aufklärung • Erkenntnistheorie • Freiheit • Gerechtigkeit • Gott • Humanismus • Judentum • Kategorischer Imperativ • Kolonialismus • Köngisberg • Kunst • Moral • Philosophie • Rassismus • Religion • Universalismus • Universum • Vernunft • Wille |
ISBN-10 | 3-8437-3075-X / 384373075X |
ISBN-13 | 978-3-8437-3075-4 / 9783843730754 |
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