Die ideale Frau (eBook)
512 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3083-9 (ISBN)
Dr. Eleanor Janegalehrt mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte an der London School of Economics. Ihre Forschung konzentriert sich auf Sozialgeschichte mit den Schwerpunkten Sexualität, Propaganda und apokalyptisches Denken im Spätmittelalter. Sie betreibt den erfolgreichen Blog Going Medival und lebt in London.
Dr. Eleanor Janega lehrt Mediävistik und moderne Geschichte an der London School of Economics. Sie publiziert auch in Publikumsmedien, betreibt den Blog Going Medieval und hat das Buch The Middle Ages: A Graphic History veröffentlicht.
Einführung
Im Prag des späten 14. Jahrhunderts stattete der Erzdiakon Pavel von Janovice allen Gemeindekirchen der prächtigen Residenzstadt einen Besuch ab und fragte auch nach etwaigen religiösen Problemen, um die man sich kümmern müsste. In der Andreas-Gemeinde in der Altstadt wurde der Erzdiakon auf »eine bestimmte Frau namens Domka« aufmerksam gemacht. Den anderen Gemeindemitgliedern der Pfarrei zufolge lebte Domka mit einer Gruppe von »verdächtigen Frauen« im Haus eines Mannes namens Jindrˇich und leitete die Gruppe sogar, obwohl sie mit einem Kammerherrn des Königs verheiratet war. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, verkauften die Frauen gesegnete Kräuter an Kunden, die an Kopfschmerzen litten.1 Dieses Arrangement stellte aus verschiedenen Gründen eine »verdächtige« religiöse Notlage dar: Erstens lebte Domka außerhalb der Kontrolle ihres Ehemannes, während die anderen Frauen offenbar überhaupt keinem Mann außer ihrem Vermieter verpflichtet waren; zweitens war zwar ihr Kräutergeschäft grundsätzlich erlaubt, doch die Tatsache, dass eine Gruppe von Frauen es ausübte, schien die Grenzen üblicher Kräutermedizin hin zu magischen Heilmitteln zu verschieben; und drittens mussten Frauen, die so zusammenlebten, ganz sicher ein unerlaubtes Bordell führen und darin arbeiten.
Die Sorgen der Gemeinschaft in Bezug auf Domka und ihre Mitbewohnerinnen zeigen uns, dass es Frauen im mittelalterlichen Europa schwer hatten – allerdings nicht so, wie wir es uns meist vorstellen. Wir wissen, dass sie es schwer hatten, weil unsere Gesellschaft auf ihrer aufbaut und Frauen noch immer gegenüber Männern benachteiligt sind. Heute bekommen Frauen unter anderem weniger Lohn für die gleiche Arbeit; sie übernehmen überproportionale Anteile der Hausarbeit; medizinische Fachleute glauben ihnen nicht, wenn sie Schmerzen haben; man erwartet, dass sie stets sexuell attraktiv wirken, aber Sex immer nur mit ihren richtigen, festgelegten Partnern und genau in der richtigen Menge haben; und sie ertragen sexuelle Belästigungen und die große Gefahr eines sexuellen und körperlichen Übergriffs, während sie ihren Alltagsaufgaben nachgehen. Wenn wir jetzt, im Zeitalter des Feminismus, mit alldem zu kämpfen haben, können wir doch davon ausgehen, dass es den Frauen des Mittelalters noch schlechter ging – ohne die Pille, die Gleichberechtigung und Dolly Partons Nine to Five, ein Aufruf zur Gleichbehandlung von Frauen am Arbeitsplatz. Und doch nehmen wir uns selten die Zeit, herauszufinden, wie die Frauen des Mittelalters in ihrer eigenen Zeit betrachtet und behandelt wurden und warum dies so war. Stattdessen gehen wir einfach davon aus, dass sie mit einer drakonischeren Version unserer eigenen Probleme konfrontiert waren. Das stimmt auch in gewisser Hinsicht, da Domka und ihre Gefährtinnen beim Erzdiakon angeschwärzt wurden, der die Macht hatte, sie zu exkommunizieren und aus ihrem Heim zu vertreiben. In diesem Fall scheint allerdings überhaupt nichts passiert zu sein. Waren diese Frauen »verdächtig«, standen sie unter Beobachtung in ihrer Gemeinde und wurde über sie geklatscht? Ja! Und griff die Kirche deswegen ein? Nein. Schließlich taten diese Frauen offenbar nur, was Frauen normalerweise taten – verdächtiges Zeug. Es gab keine Möglichkeit, dies wirksam zu unterbinden.
Wenn wir – also die Gesellschaft als Ganze – historische Begebenheiten wie diese ignorieren und annehmen, dass Frauen stets auf ebenjene bestimmte Art und Weise behandelt wurden, die wir erst jetzt allmählich überwinden, gehen wir fälschlicherweise davon aus, dass unsere Gesellschaft immer so gewesen ist und im Grunde so sein sollte. Unsere Welt als Ganze reagiert in dieser Perspektive schlicht und einfach auf die natürlichen Defizite der Frauen und organisiert sich so, dass sie sie ausgleicht. Wir neigen zu der Ansicht, dass unsere Gesellschaft heutzutage allmählich beginnt, diese Unzulänglichkeiten anzugehen. Und gehen dabei davon aus, dass Frauen in der Vergangenheit so behandelt wurden, wie wir behandelt werden – aus denselben Gründen, nur ohne die Vorzüge der modernen Welt, die uns helfen, unsere angeblich angeborenen und natürlichen Defizite zu kompensieren.
Der Fatalismus solcher Annahmen macht mich wütend. Die Vorstellung, dass die Dinge immer so waren und dass unsere gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen sich als das Ergebnis einer unveränderlichen Wahrheit in Bezug auf mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung entwickelt haben, ist einfach zu bequem. Schlimmer noch: Sie ist auch falsch und entbehrt jeder historischen Basis. Welche Probleme unsere Gesellschaft auch immer heute mit Frauen haben mag – wir halten sie nicht ganz allgemein für so sexbesessen und häretisch, dass sie, wenn man sie gewähren lässt, ein Bordell mit einem netten kleinen Nebenerwerb durch den Handel mit magischen Kräutern eröffnen. Ganz offensichtlich hat sich doch manches geändert.
Wenn wir verstehen wollen, wie die westliche Gesellschaft zu ihren gegenwärtigen Einstellungen in Bezug auf Frauen kommt, müssen wir sie bis ins mittelalterliche Europa zurückverfolgen. Leider betrachten wir die damalige europäische Geschichte als den Gipfel an obskurem oder unnötigem Wissen. Wir verwenden den Begriff mittelalterlich als Kürzel für »rückständig« oder »barbarisch«, als etwas, aus dem wir gelernt und das wir längst hinter uns gelassen haben, wodurch wir letztendlich besser geworden sind. Wir sind so selbstgewiss in unserer Überzeugung, was wir fänden, wenn wir einen vertiefenden Blick auf die mittelalterliche Geschichte werfen würden, dass wir uns oft gar nicht mehr die Mühe machen. Doch diese Haltung ist nicht nur falsch, sie ist auch ein Grund dafür, dass unsere Gesellschaft sich nicht auf eine gleichberechtigte Zukunft zubewegt.
Mittelalter bedeutet ja im Grunde »mittleres (Zeit-)Alter«. Es beschreibt eine Spanne von mehr als einem Jahrtausend, vom Fall Westroms im Jahr 476 bis zum Ende des 15. Jahrhunderts – die Zeit zwischen dem Altertum und der Neuzeit. Es fungiert mit anderen Worten als eine Art Brücke und erklärt, wie die Gesellschaft der antiken Welt sich zu ihrer heutigen Form wandelte – oder würde das vielmehr erklären, wenn wir uns dafür interessieren würden. Weil dieses Zeitalter zwischen zwei anderen liegt, können wir durch die Beschäftigung mit seinen Geschlechternormen sehen, woher einige unserer fortbestehenden Gender-Annahmen stammen. Dass wir Frauen als »von Natur aus« schwach und minderwertig betrachten und deshalb annehmen, sie bräuchten Schutz und Führung, ist ein Überbleibsel aus der Antike und dem Mittelalter. Wenn wir das verstehen, können wir fragen, warum wir noch immer daran glauben. Wenn wir die Menschen des Mittelalters für so rückständig halten, warum sind wir dann in dieser Hinsicht einer Meinung mit ihnen?
Zudem können wir bei der Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Gender-Normen feststellen, dass viele Annahmen über Frauen sich in Wirklichkeit seit dem Mittelalter drastisch geändert haben. Wenn wir das bewusst wahrnehmen, können wir unsere schlimmsten und rückständigsten Verhaltensweisen hinter uns lassen. Die einzige ungebrochene Tradition in Bezug auf Geschlechternormen besteht schließlich darin, dass Frauen als minderwertig behandelt werden. Und damit können wir jederzeit aufhören.
In diesem Buch untersuchen wir das historische Problem unseres gesellschaftlichen Beharrens darauf, dass Frauen X sind und wir deshalb mit Y reagieren. Zunächst werden wir uns auf den intellektuellen Unterbau der mittelalterlichen Vorstellungen konzentrieren. Die antiken philosophischen Schriften eines Platon, Aristoteles, Galen und Hippokrates prägten die Auffassungen der mittelalterlichen Gesellschaft zu Frauen und Geschlecht. Außerdem werden wir uns, um die religiösen Grundlagen des mittelalterlichen Europa zu verstehen, mit Kirchenvätern wie Augustinus und Hieronymus beschäftigen, deren Werke den Rahmen der christlichen Theologie lieferten. Ausgerüstet mit einem guten Verständnis der antiken Denker können wir uns ihren mittelalterlichen Nachfolgern zuwenden. Dazu gehören Theolog:innen wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Hildegard von Bingen, aber auch weltliche Autor:innen wie Geoffrey Chaucer und Christine de Pizan, deren literarische Werke Ansichten widerspiegeln, über die gebildete Zeitgenoss:innen debattierten.
Sobald wir klar erfasst haben, wessen Vorstellungen das waren und wie sie weitergegeben wurden, werden wir zu einer Betrachtung der Schönheit übergehen, jener angeblich wichtigsten aller weiblichen Eigenschaften. Wir werden sehen, dass die Menschen des Mittelalters nicht nur bei der Vermittlung von Wissen auf die Vergangenheit schauten, sondern auch bei der Bewertung weiblicher Schönheit. Wenn wir die mittelalterliche Checkliste für attraktive Attribute kennen, hilft uns das, die Körperpflege und die Mode mittelalterlicher Frauen zu verstehen, und erlaubt uns, den Aufwand zu bewerten, den sie betrieben, um dem damals gängigen Schönheitsideal zu entsprechen. Man sagte ihnen einerseits, dass es genau einen Weg gebe, attraktiv zu sein, machte ihnen andererseits aber auch klar,...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Übersetzer | Karin Schuler |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Mittelalter |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Mittelalter | |
Schlagworte | Aktivismus • Alltagsgeschichte • Antike • Bibel • Feminismus • Frauenhass • Gender • Geschlechterbilder • Gleichberechtigung • Klischee • Lebensgeschichten Frauen • Misogynie • Patriarchat • Sex • Weiblich • Weiblichkeit |
ISBN-10 | 3-8437-3083-0 / 3843730830 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3083-9 / 9783843730839 |
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