Briefwechsel 1965-1994 (eBook)
181 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77562-2 (ISBN)
Über drei Jahrzehnte pflegten Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck eine von Sympathie, aber auch von Distanz geprägte Korrespondenz. Sie zeigt zwei akademische Akteure, die in hochschulreformerischen Aufbruchszeiten über Universitätsgründungen und Interdisziplinarität diskutieren - und zwei sensible Gelehrte, die sich über zentrale Aspekte ihrer Forschung zu verständigen suchen: Begriffsgeschichte und Metaphorologie, den Fortschritt und die Machbarkeit der Geschichte sowie die lange Debatte zur Säkularisierung, in der sie anfangs gegensätzlich positioniert waren.
Der Philosoph und der Historiker lernen sich 1963 beim ersten Kolloquium der Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik« kennen, wirken bald darauf für einige Jahre an der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum und engagieren sich beim Aufbau der Universität Bielefeld. Dann jedoch trennen sich ihre Wege: Während sich Blumenberg immer mehr aus der Öffentlichkeit zurückzieht, um ungestört seine großen Monographien schreiben zu können, bleibt Koselleck nicht nur als Herausgeber der Geschichtlichen Grundbegriffe vom Wissenschaftsbetrieb absorbiert. Diese Diskrepanz verleiht ihrem Gipfelgespräch seine eigentümliche Grundstimmung<p>Hans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als ?Halbjude?. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation <em>Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie</em> an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie <em>Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls</em>. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentlicher Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«.</p>
41[20] Koselleck an Blumenberg
Heidelberg, 23. Juni 1971
Koselleck
ARBEITSKREIS FÜR MODERNE SOZIALGESCHICHTE E. V.
HEIDELBERG
Herrn |
Prof. Dr. Hans Blumenberg |
4400 Münster | 69 HEIDELBERG, DEN 23. 6. 1971 |
Universität | BERGHEIMER STRASSE 104-106 |
Philosophisches Seminar | TELEFON 2 52 28, 2 64 29, APP. 91 |
Prof. Kos./Bö. |
Lieber Herr Blumenberg,
nun ist es schon über ein Jahr her, daß Sie mir Ihre Arbeit über Selbsterhaltung und Beharrung übersandt haben. In der Tat hätte diese großartige Studie ausgezeichnet in unsere Reichenauer Thematik hineingepaßt. Die Tagung auf der Reichenau war, wie Sie von Herrn Fellmann schon gehört haben werden, nicht sehr glücklich verlaufen. Mitten im Semester hatte ich nicht genügend Zeit, mich vorzubereiten; der Teilnehmerkreis war zu heterogen; der abendliche Auslauf war zu sehr gesteuert durch die Einladungen seitens der Konstanzer Kollegen, die zum Abendessen nach Hause strebten. – Ihre Thematik war auch von Herrn Buck behandelt worden, für den Zeitraum zwischen Hobbes und Rousseau; Sie werden die Vorlage ja eingesehen haben.
Was nun Ihre eigene Studie betrifft, so kann ich nur bewundern, mit welcher Kunst Sie den jeweiligen Argumentationshaushalt auf seine Lücken hin zu untersuchen fähig sind. Wie Sie durch eine Abschichtung der metaphorischen Bedeutungen zu einer Geschichte vorstoßen, die mehr ist als eine Geschichte des Geistes, ist methodisch sicher nicht mehr zu übertreffen. Sachlich traue ich mir keine Kritik zu, da ich die von 42Ihnen interpretierten Texte zu wenig kenne. Ihr Stil, wenn ich das sagen darf, strengt mich manchmal an wegen der Häufung von Substantiven, vor allem in Genitiv-Reihungen. – Eine gewisse private Freude habe ich dabei empfunden, daß Sie einen meiner hugenottischen Vorfahren, nämlich Formey, auseinandergenommen haben. Ich kenne ihn eigentlich nur im Goldrahmen.
Was mich gerade heute veranlaßt, zu schreiben, ist eine Bitte: Sie können aus der beiliegenden Einladung ersehen, welches Thema sich der Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte gestellt hat. Wir wollen im Herbst nächsten Jahres über den Beginn der Neuzeit eine Tagung abhalten, über deren methodischen Voraussetzungen Sie das beiliegende Schreiben unterrichtet.
Meine Frage ist nun, ob Sie Lust und Interesse haben, an dieser Tagung teilzunehmen, wenn möglich mit einem Referat, über dessen Eingrenzung Sie am besten selber befinden müßten. Ich kann nicht unmittelbar beurteilen, ob Ihnen unsere Fragestellung zusagt, denn von der »Legitimität der Neuzeit« her werden Sie mit ganz anderen Zeitfristen und Epochenschwellen arbeiten. Eine mögliche Eingrenzung der Fragestellung von Ihren eigenen Interessen her wäre etwa, über die philosophischen Voraussetzungen der modernen Technik zu sprechen. Dann könnten Sie eine Hintergrundsgeschichte liefern, die vom Ergebnis her sicher erst im 18. und 19. Jahrhundert sozial und politisch wirksam wird.
Ich bin natürlich gerne bereit, mit Ihnen persönlich über all dies zu sprechen, sei es daß Sie der Weg einmal nach Heidelberg führt, sei es daß ich auf einer meiner Bielefelder Reisen Sie aufsuchen dürfte.
In jedem Fall grüßt Sie und Ihre Frau herzlich
Ihr
Reinhart Koselleck
43Anlagen
1 Einladung
1 Rundschreiben (Sonderdruck)
ÜBERLIEFERUNG O: Ts.; gedruckter Briefkopf; mit hs. Korrekturen und Unterschrift Kosellecks; DLA Marbach, Nachlaß Hans Blumenberg.
Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte: Auf Kooptation beruhende interdisziplinäre Professorengruppe, die 1956/57 von Werner Conze gegründet wurde und 1963 den Rechtsstatus eines eingetragenen Vereins erhielt. Zur achtköpfigen Anfangsbesetzung gehörten außer Conze noch der Mediävist Otto Brunner, die Neuhistoriker Richard Nürnberger und Theodor Schieder, die Wirtschaftshistoriker Ludwig Beutin und Wilhelm Treue sowie die Soziologen Gunther Ipsen, Carl Jantke und Georg Weippert; später stießen neben anderen auch der Soziologe Rainer Lepsius (1967) sowie die Historiker Thomas Nipperdey (1968) und Hans-Ulrich Wehler (1970) dazu. Von den seit 1957 zweimal im Jahr stattfindenden Tagungen des Arbeitskreises sowie den Publikationen seiner Reihe »Industrielle Welt« gingen zentrale Impulse für die Entwicklung der Sozialgeschichte in der Bundesrepublik aus. Auch das Wörterbuch-Projekt Geschichtliche Grundbegriffe wurde im Auftrag des Arbeitskreises auf den Weg gebracht und herausgegeben. Koselleck war seit 1965 Mitglied und fungierte nach Conzes Tod im Jahr 1986 für neun Jahre als Vorsitzender.
Arbeit über Selbsterhaltung und Beharrung: Hans Blumenberg, Selbsterhaltung und Beharrung. Siehe Nr. 19.
Tagung auf der Reichenau: Siehe Nr. 14.
Herrn Buck: Der Romanist August Buck (1911-1998), von 1957 bis 1979 ordentlicher Professor in Marburg, trat vor allem mit Arbeiten zur Renaissance- und Humanismusforschung hervor. Seit dem fünften Kolloquium war er ein häufiger Gast bei »Poetik und Hermeneutik«. Seine Vorlage auf dem von Koselleck und Stempel organisierten Treffen trug den Titel »Selbsterhaltung und Historizität« und nahm auch ausführlich Bezug auf die Arbeiten Blumenbergs.
Formey: Jean Henri Samuel Formey (Johann Heinrich Samuel Formey, 1711-1797), hugenottisch-preußischer Theologe und Philosoph, Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Koselleck hatte über seine Mutter Elisabeth (geb. Marchand) hugenottische Vorfahren.
44Als Verfasser des Stichworts »conservation« im vierten Band der Encyclopédie (siehe Nr. 26, Anm.) steht Formey am Anfang von Blumenbergs begriffsgeschichtlicher Studie Selbsterhaltung und Beharrung (siehe Nr. 19), dies allerdings nicht wegen seiner philosophiehistorischen Kompetenz, sondern wegen seiner intellektuellen Bedeutsamkeit, denn gelegentlich »verhelfen zweitrangige Texte, gerade weil sie präparativ verfahren, dazu, einen Sachverhalt schärfer wahrzunehmen« (ebd., S. 4 bzw. 336). So sei auch Formeys Text vor allem eklektisch und kombiniere klassische metaphysische Positionen von Leibniz und Wolff mit einer Prise Hume.
An Hans Robert Jauß schrieb Blumenberg 1966 im Rahmen von Vorüberlegungen zu einer gemeinsam geplanten sechsbändigen zweisprachigen Diderot-Ausgabe, an der sich auch Koselleck beteiligen sollte: »Ich habe in der letzten Zeit in dem von Herrn Holzboog gestifteten Neudruck der ersten vier Bände manchen interessanten Fund gemacht, z. B. zu einer Begriffsgeschichte von conservatio im Sinne von ›Selbsterhaltung‹. Nun ist der von Formey gezeichnete Artikel zu diesem Begriff in der Dogmatik höchst konventionell, wenn auch in einigen Formulierungen überraschend. Besonders interessant aber ist, daß sich hinter der Zeichnung des Autors ein vierzeiliger Zusatz befindet, der den ganzen Gedankengang des Artikels ironisch aufhebt. Dieser Zusatz ist ungezeichnet.«
über den Beginn der...
Erscheint lt. Verlag | 2.4.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Schlagworte | aktuelles Buch • Begriffsgeschichte • Bielefeld • Bochum • bücher neuerscheinungen • Ehrenpromotion an der Universität Gießen 1982 • Geschichte • Gipfelgespräch • Ideengeschichte • Interdisziplinarität • Korrespondnez • Kuno-Fischer-Preis der Universität Heidelberg 1974 • Metaphorologie • Neuerscheinungen • neues Buch • Philosophie • Säkularisierung • Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt 1980 • Universitätsgründung • Universitätsphilosophie |
ISBN-10 | 3-518-77562-6 / 3518775626 |
ISBN-13 | 978-3-518-77562-2 / 9783518775622 |
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