KAIROS. Vom Leben im richtigen Augenblick. Für ein neues Zeitempfinden (eBook)
368 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0630-7 (ISBN)
Die Gelegenheit beim Schopfe packen! Ein philosophisches Plädoyer für das Leben im Augenblick
Wir haben chronisch zu wenig Zeit - Chronos, der alte Mann mit Sanduhr in der Hand versinnbildlicht das ewige Voranschreiten der Zeit, der wir so oft hinterherhetzen.
Dabei hält die griechische Mythologie einen Kontrahenten parat, den es wiederzuentdecken gilt: Begrüßen wir Kairos, mit punkigem Haarschopf gekrönt, jüngster Sohn des Zeus und Gott der günstigen Gelegenheit. Kairos verkörpert das Leben im Augenblick. Doch passen wir nicht auf, entwischt er uns. Um Kairos zu halten, muss man ihn beim Schopfe packen.
Bis zum Ende der Renaissance erfreute sich die Figur des Kairos in der Kunst- und Gelehrtenwelt großer Beliebtheit. Wie wurde Kairos rezipiert, welchen Einfluss hatte das kairotische Zeitkonzept auf die Menschen und wie konnte es in Vergessenheit geraten?
Joke J. Hermsen nimmt uns mit auf eine rasante Reise durch die Philosophiegeschichte der Zeit und zeichnet dabei ein beindruckendes Plädoyer für mehr kairotische Momente in unserem durchgetakteten Leben.
»Kairos war die Zeit, auf die es ankam, die Zeit, die Chancen bot oder für einen Durchbruch zu sorgen wusste. Er stand sinnbildlich für all die inspirierenden Momente der Schönheit, der Einsicht und der Entschlossenheit, die das Leben so besonders machen.«
Joke J. Hermens, Kairos
JOKE J. HERMSEN gehört zu den wichtigsten philosophischen Stimmen der Niederlande. Sie studierte Philosophie und Literatur in Amsterdam und Paris. In ihren oft preisgekrönten Essays und Artikeln schreibt sie über zeitgenössische Philosophie, Kunst und Literatur. Ihr Werk über die hoffnungsvolle Kraft der Melancholie »Melancholie in unsicheren Zeiten« erschien 2021 auf Spanisch (Ediciones Siruela) und Deutsch (HarperCollins). Joke J. Hermsen lebt und arbeitet in Amsterdam und im Burgund.
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ENTHUSIASMUS: EIN TATKRÄFTIGES UND MELANCHOLISCHES ERSTAUNEN
Um Veränderungen bewirken zu können, brauchen wir ein gewisses Maß an Enthusiasmus. Ohne jeden Enthusiasmus kämen wir gar nicht auf die Idee, etwas Neues zu ersinnen, und würden alles beim Alten lassen, denn der Enthusiasmus entsteht nicht aus dem, was ist, sondern aus dem, wonach man sich sehnt, wie Freud bemerkte. Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert galt Enthusiasmus daher als ein wichtiges philosophisches Thema. In den letzten hundert Jahren hat das philosophische Interesse daran allerdings beträchtlich nachgelassen. Diese geringe Aufmerksamkeit ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass der Begriff etwas Dunkles und Irrationales an sich hat, mit dem wir nicht mehr so gut umgehen können. Enthusiasmus und Inspiration verweisen zudem auf eine Erfahrung, die wir selbst nicht erzwingen oder kontrollieren, sondern der wir uns nur öffnen können.
Für die griechischen Philosophen bedeutete enthousiasmos dasselbe wie (göttliche) Inspiration. Sie galt für Dichter, Denker und politische Führer gleichermaßen als unverzichtbar. Auch in diesem Aufsatz werde ich Enthusiasmus und Inspiration als verwandte Begriffe beschreiben, obwohl sie im Laufe der Zeit zunehmend getrennt voneinander verwendet wurden. Der Begriff leitet sich von en-theos ab, was so viel bedeutet wie »von Gott erfüllt sein« oder »in Gott sein«. Es waren daher auch vor allem Priester, Wahrsager und Propheten, die von den Göttern »erfüllt« wurden und so ihre Funktion als Mittler zwischen der menschlichen und der göttlichen Welt ausüben konnten. Platon gestand diese göttliche Eingebung als Erster auch den Dichtern und Denkern zu, wodurch der Enthusiasmus zwar eine weniger religiöse Natur annahm, aber dennoch seinen sakralen und transzendenten Charakter behielt; der Dichter wurde von den Göttern in Verzückung versetzt.
In seiner autobiografischen Schrift Ecce homo (entstanden 1888/89) fragt sich Nietzsche: »Hat Jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten?« 1 Er vermutet, dass es nur wenige sind, denn er müht sich ausgiebig, die Antwort selbst zu geben. Inspiration ist etwas, das einen »wie ein Blitz« überkommt und »mit Nothwendigkeit« einen Gedanken aufleuchten lässt, der sich zudem »ohne Zögern« und in der richtigen Form zu erkennen gibt. Für Nietzsche hat dieser Gedanke jedoch etwas Merkwürdiges an sich. Man kann ihn zwar nicht unterdrücken, weil er unausweichlich ist, aber man hat ihn auch nicht bewusst gesucht, weil man ihn nur vernimmt und »nimmt« – und dann kommt das Entscheidende: ohne zu wissen, »wer da giebt«. 2 Bis ins 19. Jahrhundert hinein hielten es viele noch für selbstverständlich, dass Gott bei dieser Form der Inspiration seine Hand im Spiel hatte, doch für Nietzsche, den Pfarrerssohn, der den Tod Gottes verkündete, war dies keineswegs der Fall. Wer oder was könnte ihm dann diesen »notwendigen« Gedanken eingeflüstert haben?
Es muss sich um einen »geringsten Rest von Aberglauben« handeln, schreibt Nietzsche weiter, und dieser »geringste Rest« sorgt dafür, dass wir im Moment der Inspiration glauben, nur »ein Medium«, ein Bindeglied oder »ein Mundstück« für eine Stimme zu sein, die von außen zu uns kommt und in Abwesenheit vorsätzlicher Absichten zu uns spricht. Alles geschehe in höchstem Maße unfreiwillig, aber gleichsam in einem stürmischen Gefühl der Freiheit. Ziemlich mysteriös also, das alles, diese Stimme, die vom Jenseits einen inspirierenden Gedanken an uns »weitergibt« und ihn in einen »Sturme von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit« einschließt. Und zwar so geheimnisvoll, dass Nietzsche keinen Zweifel daran hatte, dass er »Jahrtausende zurückgehn« müsse, »um jemanden zu finden, der mir sagen darf, ›es [diese Erfahrung] ist auch die meine‹.« 3 Harry Mulisch veranlasste diese Bemerkung in seinem autobiografischen Essay Voer voor psychologen (Ein gefundenes Fressen für Psychologen) zu folgendem »bescheidenen« Bekenntnis: »Was Nietzsche als Inspiration beschreibt, habe ich Wort für Wort als meine eigene Erfahrung erkannt […], und so muss ich in aller Bescheidenheit anmerken, dass er kaum fünfundsiebzig Jahre hätte vorausgehen müssen, um so jemanden zu finden.« 4 Schriftsteller und Dichter würden den Moment der Inspiration kennen, aber Philosophen hätten nie richtig gewusst, wie sie damit umgehen sollen, abgesehen von Nietzsche, sagte Theo de Boer im Gespräch mit Ger Groot in Twee zielen (Zwei Seelen). »Dichter denken freiheraus. Inspiration kündigt sich als eine Erfahrung an, die nicht aus mir selbst kommt, sondern ›von oben‹.« 5 Es stellt sich natürlich die Frage, wie wir dieses »von oben« interpretieren sollen. Ist es tatsächlich »ein geringer Rest von Aberglauben«, wie Nietzsche behauptete? Oder handelt es sich um eine Erfahrung, die vom »Einbruch der Ewigkeit in die Zeit« beseelt ist, wie de Boer meint und damit einen Gedanken aufgreift, den er sowohl bei Levinas als auch bei dem Dichter Martinus Nijhoff in »Die Stunde X« findet: »Es verging eine Ewigkeit, bis eine Minute verglitt.« 6 Der Augenblick, der eine Ewigkeit dauert, unterbricht und übersteigt die chronologische Zeit und kann in diesem Sinne als transzendent oder »von oben« gesehen werden. Mit anderen Worten: Für die Erfahrung dieses Moments der Inspiration müssen wir keinen Gott verehren, aber wir sollten uns sehr wohl der Bedeutung dieser anderen Zeiterfahrung, die Kairos genannt wird, bewusst sein.
In Jenseits von Gut und Böse von 1886 (Nr. 274) erwähnt Nietzsche auch diesen griechischen Gott des rechten Augenblicks, der ein Intervall in der Zeit schafft, in dem eine andere Zeiterfahrung stattfindet, die die Fantasie beflügelt. Der Enthusiasmus zieht uns in dieses Intervall hinein, aber dann brauchen wir Nietzsche zufolge »fünfhundert Hände«, um den Gott beim Schopfe packen zu können. Während die Inspiration selbst eher eine Sache der Hingabe und der passiven Empfänglichkeit ist, erfordert es gerade eine große Wachheit, das Momentum zu nutzen: »Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten: aber die fünfhundert Hände, die es nöthig hat, um den καιρὁς, ›die rechte Zeit‹ – zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu fassen!« 7 Ohne Inspiration werden wir den Kairos-Moment nicht erleben, aber wenn wir uns in ihm befinden, gibt es einiges zu tun, und wir müssen zuschlagen, bevor der Moment wieder verflogen ist. Im Absatz 224 beschreibt Nietzsche »jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft, die freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb.« 8 Nietzsche war einer der wenigen Philosophen, der es trotz seines »Unglaubens« wagte, unbekümmert von Inspiration und Enthusiasmus zu sprechen, weil er sie als notwendig erachtete, um der werden zu können, der man ist, wie der Untertitel von Ecce homo »Wie man wird, was man ist« andeutet. Hat die zeitgenössische Philosophie etwa hundert Jahre danach noch eine Vorstellung von dem, was Nietzsche Inspiration nannte?
Das Erste, was einem auffällt, wenn man den Enthusiasmus philosophisch unter die Lupe nimmt, ist, dass er in den letzten fünfzig Jahren im In- wie im Ausland nur wenig Beachtung gefunden hat. In den Niederlanden veröffentlichte Cornelis Verhoeven 1967 eine »Filosofie van het enthousiasme« 9 (Philosophie des Enthusiasmus), die erst viele Jahre später dank Cyrille Offermans in der Zeitschrift Raster unter dem treffenden Titel »Enthousiasme. Een reddingspoging« 10 (Enthusiasmus. Ein Rettungsversuch) eine Fortsetzung erhielt. In Frankreich erschien im Jahr 1986 François Lyotards Essay L’enthousiasme la Critique Kantienne de L’Histoire, der unter dem Titel Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte ins Deutsche übersetzt wurde. Erst vor wenigen Jahren erschien das Buch Philosophie und Enthusiasmus des österreichischen Philosophen Bernd Bösel, der gleich zu Anfang feststellt, dass in der Gegenwart kaum ein philosophisches Interesse am Enthusiasmus besteht. 11 Wahrscheinlich ist das darauf zurückzuführen, dass Enthusiasmus mit jugendlicher Naivität, berauschenden Versprechungen und tollkühnen Anwandlungen assoziiert wird, was dem Bild des gelassen und wohlüberlegt denkenden Philosophen eher zuwiderläuft. Oder wie Offermans schreibt: »Von nun an wird das Adjektiv ›blind‹ immer häufiger verwendet«, wenn man auf Enthusiasmus zu sprechen kommt. Doch der Enthusiasmus ist eine etwas dunkle und vor allem unkontrollierbare Kraft, die sich mit dem in der Philosophie so geschätzten vernünftigen Denken nicht gut verträgt. Der »Ernüchterungsprozess« des Enthusiasmus »ist der Säkularisierung der Gesellschaft inhärent«, meint Offermans. 12 Der sakrale, intuitive und irrationale Charakter des Enthusiasmus hat die philosophischen Gelehrten zurückschrecken lassen, aber er hat nach Ansicht Verhoevens auch dafür gesorgt, dass »die Weisheit des Enthusiasmus selbst nicht überdacht« wird. 13
ENTHUSIASMUS:
EIN MELANCHOLISCHES ERSTAUNEN
In der Antike konnte der...
Erscheint lt. Verlag | 21.11.2023 |
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Übersetzer | Bärbel Jänicke |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Kairos |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie |
Schlagworte | Alle Zeit • Buch Geschichte der Zeit • Buch über Kairos • Buch über zu wenig Zeit • die gelegenheit beim Schopfe packen • Gott des richtigen Augenblicks • griechische Mythologie • Griechischer Gott • Gute Gelegenheiten wahrnehmen und nutzen • Kairos vs. Chronos • Melancholie in unsicheren Zeiten • neues Zeitempfinden nach Corona • Philosophiegeschichte der Zeit • Plädoyer für mehr Zeit • sich mehr Zeit nehmen • Zeit haben • Zeitkonzepte Antike und Gegenwart |
ISBN-10 | 3-7499-0630-0 / 3749906300 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0630-7 / 9783749906307 |
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Größe: 3,2 MB
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