Der elektrische Traum. Fortschrittsjahre oder eine Gesellschaft unter Strom (eBook)

Platz 10 der WELT-Sachbuchbestenliste Dezember | Hightech während der Kaiserzeit | Die Erfindung des künstlichen Lichts

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
352 Seiten
HarperCollins eBook (Verlag)
978-3-7499-0627-7 (ISBN)

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Der elektrische Traum. Fortschrittsjahre oder eine Gesellschaft unter Strom - Alexander Bartl
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Das magische Leuchten - über die Elektrifizierung der Welt und die erste Energiewende

Im Jahr 1878 sind sich die führenden Ingenieure der Kaiserzeit einig: Niemals wird Elektrizität das Gaslicht verdrängen. Strombetriebene Lampen seien unpraktisch und schadeten der Gesundheit. Leuchtgas werde unentbehrlich bleiben, meint etwa der Ingenieur Werner Siemens.

Dieses Licht hat der Menschheit aber auch eine Bedrohung beschert: Immer mehr Gasbrände verzeichnet die Statistik, immer mehr Explosionen. Und nirgendwo ist die Gefahr größer als in den Theatern, den Zentren des Zeitgeists im 19. Jahrhundert. Doch das Risiko ist zur Routine geworden - bis es 1881 im Wiener Ringtheater zur Katastrophe kommt und fast 400 Menschen sterben. Ein Wendepunkt mit weitreichenden Folgen.

Mit Verve und erhellender Sachkenntnis erzählt Alexander Bartl von einer Energierevolution, die ganz Europa und Amerika in Aufregung versetzte. Letztlich triumphiert Thomas Alva Edison mit der Erfindung seiner Glühbirne und bringt unsere Welt zum Leuchten.



ALEXANDER BARTL wurde 1976 in Wien geboren. Er studierte Film- und Theaterwissenschaft sowie Publizistik in Mainz und Edinburgh. Als Journalist schrieb er auch für dieFrankfurter Allgemeine Zeitung und für das österreichische Nachrichtenmagazin Profil. Heute arbeitet Alexander Bartl für Focus in Berlin. Sein erstes Sachbuch »Walzer in Zeiten der Cholera« schaffte es auf die Shortlist für das »Wissenschaftsbuch des Jahres 2022«.

1
IN FLAMMEN


NIZZA, 1881


Nizza war bereit für den Wahnsinn, doch als er die Stadt an jenem Mittwoch befiel, stürzte er sie ins Unglück.

Noch am Morgen deutete nichts darauf hin, zumindest übersahen die Gäste alle Vorzeichen mit beiläufiger Noblesse. Der 23. März 1881, der als schwarzer Tag in Frankreichs Geschichte eingehen sollte, begann so schillernd wie die vorherigen. Zwar hatte sich die Sonne hinter Wolken verschanzt, es sah nach Regen aus. Der Ozean war über Nacht ergraut, aber das störte niemanden, denn die Stadt besaß ihren eigenen Glanz, dank der Besucher, die ihn mitbrachten.

Schon vormittags führten russische Fürstinnen und englische Lords, deutsche Herzöge und österreichische Gräfinnen ihre prachtvollen Garderoben auf der Strandpromenade spazieren. Hier musste man sein, hier musste man renommieren, die Damen in dieser Saison möglichst in Kleidern mit aufgemalten Blumengirlanden, um sich eine der begehrten Einladungen zu den exklusiven Empfängen im Club de la Méditerranée oder in den Villen am Hang zu sichern. 1

In vielen Sprachen erörterten die Flaneure nun das Tagesprogramm. Sollten sie sich ins benachbarte Monaco begeben und nachsehen, ob beim internationalen Taubenschießen ein paar Vögel übriggeblieben waren, die sie eventuell selbst erlegen könnten? Das Casino dort lockte ebenfalls, wenngleich Nizza auf Plakaten davor warnte, weil die Behörden befürchteten, der Reichtum der Gäste versickere im Fürstentum nebenan: »Fahren Sie nicht nach Monte-Carlo!« 2 Deutlicher konnte man es kaum ausdrücken, verzweifelter auch nicht. Das Nachmittagskonzert bei dem in dieser Saison erstmals aufgetauchten Millionär aus Russland erschien manchen ebenfalls reizvoll. Er habe »sein eigenes, aus 50 Musikern bestehendes Orchester« 3 mitgebracht, hieß es in der Presse, und wolle nun demonstrieren, dass er mithalten könne mit hiesigen Luxusexzessen.

So wurden diverse Vergnügungen erwogen und wieder verworfen. Nur das Abendprogramm war diesmal unstrittig: Das Stadttheater gab Lucia di Lammermoor, die berühmte Oper von Gaetano Donizetti, die auf Walter Scotts Romeo-und-Julia-Adaption zurückging. Die Handlung hatte der Schriftsteller aus dem sonnigen Verona nach Schottland verlegt, wo die Herzen naturgemäß ein bisschen schwerer waren.

Düster dämmerte das Unheil herauf, bis die zwangsverheiratete Lucia ihren Ehemann erstach und im schönsten Belcanto den Verstand verlor. Die »Wahnsinnsarie« hatte sich zum Bravourstück entwickelt und oftmals auch zur Klippe für aussichtsreiche Sängerinnen, die von dort in die Bedeutungslosigkeit stürzten, wenn sie das Solo vermasselten.

Diesen Balanceakt zwischen Triumph und Tragik wollte Nizzas Hautevolee nicht verpassen, zumal ihn an diesem Abend die in Italien gefeierte Bianca Donadio wagen würde, die sich mit dem Auftritt auch in Frankreich etablieren wollte. Wer in Nizza bejubelt wurde, der hatte schon fast Paris erobert.

Es würde nicht einfach werden für sie, denn das Publikum war mindestens so verwöhnt wie das in der Metropole. Erst vor wenigen Wochen hatte die weltberühmte Koloratursopranistin Adelina Patti am Mittelmeer triumphiert und hinterher geprahlt, sie habe noch nie mehr verdient als an jenem Abend. Fünfzehntausend Francs! »Eine gleiche Summe dürfte bisher noch keine Künstlerin erhalten haben« 4 , meldeten Zeitungen ehrfürchtig.

Noch erstaunlicher als Pattis Honorar war allerdings die Karriere, die der Stadt Nizza in den vergangenen Jahren gelungen war. Bis dahin hatte sie als verschlafener Ort mit dem Charme eines Sanatoriums gegolten, allein dazu errichtet, den europäischen Adel aufzupäppeln. Im Süden zu überwintern, half den meisten. Manche starben. Selbst Nizza konnte keine Wunder wirken, trotz Meerblick und Strandpromenade.

Bald aber kamen Künstler, um von der Spendierlaune der frühen Kurgäste zu profitieren, und spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde Nizza auch für Gesunde interessant. Weil also Parvenüs, Prinzessinnen und Patienten dort mittlerweile eine ziemlich exaltierte Mischung bildeten, siedelte die Stadt grundsätzlich nah am Wahnsinn. Und am 23. März 1881 wollte man sich eine bis zur Genialität verfeinerte Spielart gönnen, die Lucia di Lammermoor, die hoffentlich ohne verrutschte Töne dem Irrsinn verfiel.

Zum Glück ahnten die vornehmen Gäste nicht, was an jenem Nachmittag in Nizzas Rathaus vorging, sonst hätten sie sich angemessen empört. Der Intendant des Stadttheaters war nach der letzten Probe vor der Premiere dorthin geeilt, um ihnen den Abend zu verderben. Aus einem defekten Rohr ströme Gas in den Bühnenraum, klagte er und empfahl, die Vorstellung abzusagen. Natürlich nicht, hieß es seitens der Behörden, schließlich war die Leitung schon seit Wochen undicht, weshalb man die Risse notdürftig mit Mörtel verspachtelt hatte. 5 Kein Grund zur Aufregung.

Ob die Aufführung stattfand oder nicht, die Sopranistin Bianca Donadio musste bezahlt werden. Sie erhielt zwar ein weit geringeres Honorar als die Patti, dennoch war es hoch genug, um das Leck lieber mit einer weiteren Mörtelschicht zu überschminken, anstatt die Premiere zu streichen und das Gasrohr auszutauschen. Herr Cottoni, der für die Oper verpflichtete Bassist, war übrigens auch nicht billig gewesen.

Fast alle kostspieligen Logenplätze hatte man verkauft, ebenso jene im Parterre. Ein kleines Vermögen lag in der Theaterkasse. Müsste man das Geld zurückerstatten, würde es das enttäuschte Publikum als Vergeltung für das entgangene Bühnenamüsement womöglich im Casino von Monaco verprassen. Nicht auszudenken!

WIEN, 1875


Die Stadt wartete auf Mister Kennedy. Schon Anfang Februar kursierten Gerüchte über seine Respekt einflößende Statur, zwei Wochen später hieß es, er sei womöglich gefährlich. Dann vermeldete die erste Zeitung endlich seine Ankunft in Österreich, um kurz darauf einzuräumen, mit dem zuständigen Redakteur sei leider die Fantasie durchgegangen. Noch sei Kennedy nicht gesichtet worden im Kaiserreich. Schade.

Nun wurden die Wiener nervös, und mit der Unruhe wuchsen die Zweifel. Hatte Kennedy überhaupt vor, sie zu beehren, wie Franz Jauner versicherte, wann immer ihn Journalisten bedrängten? Dabei sollte der Direktor des Wiener Carltheaters eigentlich wissen, wie empfindlich man in der Hauptstadt reagierte, wenn Wunschträume platzten. Wilhelm von Schwarz-Senborn zum Beispiel, der Generaldirektor der Wiener Weltausstellung vor zwei Jahren, war als Botschafter nach Washington verbannt worden, weil sich die Großveranstaltung zum finanziellen Debakel entwickelt hatte. Wer wollte schon in Amerika darben, wenn es daheim demnächst Mister Kennedy auf der Bühne zu bestaunen gab, den imposantesten und talentiertesten Elefanten des Erdballs?

»Der vierfüßige Künstler, der für 600 Pfund Sterling gekauft wurde, und ein Spielhonorar von einem halben Centner Brot per Abend erhält, wird in dem Ausstattungsstücke ›Die Reise um die Welt in achtzig Tagen‹ (nach Jules Verne’s Roman) auftreten« 6 , schrieb die Neue Illustrirte Zeitung. Noch weile das Tier in London, wo es beim Zirkus für Aufsehen sorge. Bis zur Wiener Premiere am 28. März 1875, dem Ostersonntag, waren es zwar noch mehrere Wochen, aber wer wusste schon, ob Kennedy nicht im letzten Moment seinen Auftritt verweigern würde.

Die Kaiserstadt kannte sich aus mit exotischem Großwild. Sie rühmte sich immerhin des ersten Zoos der Welt, 1752 in Schönbrunn eröffnet. Auch dort gab es einen Elefanten, doch aus London erwartete man einen Star.

In der Fantasie der Wiener wuchs das Tier über sich hinaus. »Vorderhand hat das Carltheater keine Thüre groß genug, um den interessanten Gast passiren zu lassen; man wird eine eigene Ehrenpforte von colossalem Umfange für ihn errichten müssen« 7 , spekulierte die Neue Illustrirte Zeitung. In der Hofoper an der Ringstraße könne man den Elefanten wohl unterbringen, aber für das Privattheater in der Leopoldstadt erscheine er entschieden zu imposant.

Für die kaiserlichen Bühnen, neben der Oper noch das Hofburgtheater, waren solche Überlegungen wenig schmeichelhaft. Eigentlich sollten doch sie für Aufsehen sorgen mit ihren Stücken. Jahrzehntelang waren sie Maß und Orientierung gewesen. Und nun riss Franz Jauner alle Aufmerksamkeit an sich – mit einer Zirkusattraktion! In der Hofburg war man alarmiert, so gern diverse Angehörige der kaiserlichen Großfamilie einen Abstecher ins Carltheater machten.

Am 7. März gab es endlich wieder Neuigkeiten von Kennedy. Der Direktor verkündete vor Journalisten, er habe seinen Buchhalter nach London geschickt, um das Tier abzuholen. 8 Reklame, Reklame, darauf verstand sich Franz Jauner wie kein zweiter Theatermann. Er pries seine Produktionen nicht nur in der Presse an, sondern auch auf überdimensionalen Plakaten, die renommierte Künstler entwarfen. Wer mitreden wollte an den Stammtischen, in den Amtsstuben, sogar in den Salons der Ringstraße, der musste ins Carltheater.

Das Haus war 1847 in der Leopoldstadt errichtet worden, nahe dem Prater, also in der Sphäre des Wiener Amüsements – ein Standortvorteil. Unter den frühen Direktoren hatte es sich mit österreichischen und deutschen Volksstücken einen Namen gemacht. Der Dramatiker und...

Erscheint lt. Verlag 26.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Neuzeit bis 1918
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 1880er • AEG • Beleuchtung • Buch • edison und die erfindung des lichts • ein leben voller licht • elektrisches • Elektrizität • Elektrizitätswerke • Elektroingenieur • Emil Rathenau • Energierevolution • Energiewende • Erfindung • Fortschrittsglauben • Gasbeleuchtung • Gaslicht • Glühbirne • Hightech in der Kaiserzeit • Kaiserzeit • Licht • Phonogragh • Stromerzeugung • Tesla • Thomas Alva Edison • Werner Siemens • Wiener Ringtheaterbrand
ISBN-10 3-7499-0627-0 / 3749906270
ISBN-13 978-3-7499-0627-7 / 9783749906277
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