Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten -  Veronika Hermes

Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten (eBook)

Das Praxishandbuch mit systemisch-ressourcenorientiertem Hintergrund
eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
200 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-76254-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
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Der systemische Ansatz kann gewinnbringend in der Beratung und Therapie bei Menschen ohne und mit Lernschwierigkeiten eingesetzt werden. Für Letztere sind jedoch manche Anpassungen hilfreich, um den kognitiven Fähigkeiten entsprechend zu agieren.  Veronika Hermes bereitet in diesem Praxisbuch systemische Methoden für diese Zielgruppe auf. Menschen mit Lernschwierigkeiten werden dabei konsequent in den Mittelpunkt gestellt; das Vorgehen ist in der Praxis erprobt und in supervisorischen Kontexten evaluiert.  Für die zweite Auflage wurde das Buch grundlegend überarbeitet:  •Der Begriff 'geistige Behinderung' wurde gemäß aktuellen Fachpublikationen durch 'Lernschwierigkeiten' ersetzt.  •Die Entwicklungen im deutschen Psychotherapeutengesetz in Bezug auf die Therapie mit Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten werden skizziert.  •Ausgewählte Methoden wurden in Einfache Sprache übersetzt. Diese richten sich explizit an Menschen mit Lernschwierigkeiten, die selbst beratend tätig sind (beispielsweise in Werkstattrat oder Bewohnervertretung oder als Frauenbeauftragte oder Peer Counseler). So nimmt das Buch Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht nur als Ratsuchende, sondern auch als Ratgebende in den Blick.

|22|1  Eckpfeiler der systemischen Theorie


Arist von Schlippe hat das Wort „systemisch“ in seinem Lehrbuch (Schlippe & Schweitzer, 1998) mit einem projektiven Test verglichen: Jeder liest daraus, was er oder sie möchte, und es stellt sich die Frage, ob man am Ende vom Gleichen spricht. Um die Chance zu erhöhen, dass Sie in etwa wissen, wovon ich spreche, wenn ich „systemisch“ sage, stelle ich die Eckpfeiler, die meine Arbeit tragen, im Folgenden kurz vor.

|23|1.1  Die Entwicklung der Familientherapie


In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts begannen einige Psychiaterinnen und Psychiater in den USA und in Europa, den Blick in der Psychotherapie nicht mehr ausschließlich auf das Individuum zu richten, sondern die Familie, in der der Patient lebt, miteinzuschließen. Therapeuten, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, waren Virginia Satir, Salvador Minucchin, Mara Selvini Palazzoli und viele andere mehr. Sie alle haben bedeutende familientherapeutische Ansätze entwickelt; eine hervorragende Übersicht bietet das Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer (Schlippe & Schweitzer, 2012). Allen gemeinsam ist, dass psychische Erkrankungen nicht mehr als individuelles Problem des Patienten betrachtet wurden, sondern als Ausdruck von Interaktionsstörungen in der Familie. Es ging also darum, Interaktionen innerhalb der Familie zu „heilen“, damit der sogenannte Patient gesunden konnte. Es wurde auch nicht mehr von „dem Patienten“ gesprochen, sondern der Patient wurde als die Person verstanden, die durch ihre Symptome zum Ausdruck bringt, dass die Interaktionen innerhalb der Familie aus dem Gleichgewicht geraten sind. Die Person, die die Symptome zeigt, wird entsprechend „Indexpatient“ oder „Symptomträger“ genannt. Gearbeitet wurde folgerichtig stets mit der ganzen Familie. Die Familientherapie hat sich weiterentwickelt, und heute spricht man nicht nur von Familie, sondern von Systemen und fasst den Begriff entsprechend weiter. Wurde anfangs immer mit der ganzen Familie gearbeitet, findet systemische Therapie heute auch mit einzelnen Personen statt (vgl. Weiss, 1988), und systemische Grundsätze wendet man nicht nur in der Therapie, sondern auch in Beratung, Coaching und Supervision an. Die handlungsleitenden Annahmen bleiben stets die gleichen. Seit 2020 ist die systemische Therapie bei Erwachsenen in Deutschland als Richtlinienverfahren anerkannt und kann mit der Krankenkasse abgerechnet werden. In Österreich und der Schweiz ist dies schon deutlich länger möglich.

Was ist nun aber ein System?

Eine viel benutzte Metapher, um Systeme im Sinne der Familientherapie zu beschreiben, ist das Mobile. Auch ich möchte diese Metapher aufgreifen, da sie einfach und einleuchtend ist: Stellen Sie sich vor, die Familienmitglieder (oder die Mitglieder eines anderen Systems) sind die Schmuck|24|teile eines Mobiles. Sie alle sind miteinander verbunden, manchmal auf gar nicht direkt sichtbare Weise (s. Abbildung 1).

Wenn ein Teil ins Schwingen gerät, schwingen alle anderen Teile automatisch mit, und zwar so lange, bis wieder Ruhe einkehrt. Die Teile hängen nach wie vor aneinander, vielleicht haben sie sich im Raum aber anders ausgerichtet.

Übersetzt in eine fachlichere Sprache bedeutet das Bild Folgendes: Die Mitglieder eines Systems stehen zueinander wie die Schmuckteile eines Mobiles. Luhmann, einer der führenden Systemtheoretiker, postulierte, dass die Verbindungen innerhalb eines sozialen Systems durch Interaktion und Kommunikation entstehen. Durch die besondere Art der Interaktionen unterscheidet sich jedes System von allen anderen und kann als eigenständige Einheit wahrgenommen werden, auch wenn es Koppelungen zu anderen (ebenfalls eigenständigen) Systemen gibt (Ludewig, 2005).

Wird das System verstört (sprich: das Mobile angestoßen), bewegt es sich so lange, bis es wieder einen Zustand des Gleichgewichts erreicht, auch „Homöostase“ genannt (sprich: bis das Mobile wieder ruhig hängt). Störungen können von außen oder von innen erfolgen. Jedes System strebt stets einen Zustand des Gleichgewichts an. Da sich die Welt um uns herum ständig verändert, bedarf es einer gewissen Anstrengung innerhalb des Systems, einen bestimmten Zustand beizubehalten (Schlippe & Schweitzer, 2012).

Aus diesen Grundüberlegungen leiten sich einige Folgerungen ab, die in der Beratung unmittelbar zum Tragen kommen – Überzeugungen, die für die systemische Haltung prägend sind.

|25|1.2  Systemverstörung – vertraue darauf, dass die Ergebnisse deiner Interventionen nicht planbar sind


Aus systemischer Sicht ist es sinnlos zu glauben, dass eine bestimmte Intervention eine vorhersagbare Verhaltensänderung nach sich zieht. Wenn Sie an das Mobile denken: Keiner würde wohl wagen, die exakte Bewegung eines jeden Teilchens vorherzusagen, nachdem man an einem Teil etwas fester gezogen oder geschubst hat. Für die Beratung bedeutet das, dass wir als Beraterinnen nur den „Schubs“ von außen geben. Wir „verstören“ das System oder derail them (wir lassen es entgleisen), wie Erickson es ausdrückte (Nemetschek, 2011, S. 24), um zu verdeutlichen, dass Verhalten manchmal so eingefahren ist wie eine Eisenbahnschiene und wir den Zug zum Entgleisen bringen müssen, damit neue Interaktionen möglich werden. Das System entscheidet, wie es auf die Verstörung reagiert. Diese Entscheidungen laufen nicht zwingend bewusst ab, vielleicht auch nicht sofort oder nicht direkt beobachtbar. Eine Reaktion ergibt sich jedoch in jedem Fall.

In den Anfängen der Familientherapie hat man diese Verstörungen sehr genau geplant, und die Therapeuten gingen davon aus, dass sie als Außenstehende die Interaktionen des Systems beobachten und entsprechend agieren konnten. So entwickelte beispielsweise die Gruppe um Mara Selvini Palazzoli eine spezifische Interventionstechnik, die als „Mailänder Modell“ bekannt ist (Schlippe & Schweitzer, 1998) und bei der es genau festgelegte Verschreibungen für die Familie gab. Unter dem Theorem des Konstruktivismus wurde diese Haltung jedoch aufgegeben (siehe unten).

|26|1.3  Zirkuläres Denken – suche nach der Funktion von Verhalten und nicht nach seinen Ursachen


Angesichts der Komplexität von Systemen und ihrem Verhalten wird schnell klar, dass man deren Wirkzusammenhänge nicht mit einfachen Wenn-dann-Beziehungen auszudrücken vermag. Die Suche nach der Ursache von Verhalten wird im systemischen Denken daher aufgegeben zugunsten der Suche nach der Funktion von Verhalten. Die Frage nach dem „Warum“ wird ersetzt durch die Frage nach dem „Wozu“. Während das „Warum“ einem kausalen, linearen Ansatz folgt, entspricht das „Wozu“ einem zirkulären Ansatz: Verhalten löst eine Wirkung aus, die wiederum eine Wirkung auslöst, die wiederum … Man ist eingeladen, in Regelkreisen zu denken.

Ein Beispiel für einen einfachen Regelkreis aus dem Bereich der Technik ist der Tempomat eines Autos: Teil des Systems sind Bremse, Motor und Geschwindigkeitssensor (Menschen, Kurven, Berge etc. lassen wir für den Moment außer Acht). Wenn der Tempomat auf 120 km/h eingestellt ist, misst der Geschwindigkeitssensor ständig die Geschwindigkeit. Angenommen, diese liegt aktuell bei 90 km/h, dann erfolgt der Auftrag an den Motor, zu beschleunigen. Irgendwann werden die 120 km/h erreicht, der Sensor misst dies, und es erfolgt ein Signal an die Bremse. Der Wagen wird langsamer, und irgendwann fällt die Geschwindigkeit vielleicht wieder unter 120 km/h. Dann erfolgt wieder ein Signal zur Beschleunigung und so weiter. Es entsteht also ein System mit ständigen Rückmeldungen und Wechselwirkungen, das in sich stabil ist und bei dem jede...

Erscheint lt. Verlag 6.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-456-76254-2 / 3456762542
ISBN-13 978-3-456-76254-8 / 9783456762548
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