Westeuropa zwischen Antike und Mittelalter (eBook)
172 Seiten
wbg Academic in der Verlag Herder GmbH
978-3-534-27556-4 (ISBN)
PD Dr. Laury Sarti lehrt Geschichte des Mittelalters an der Universität Freiburg. Dort habilitierte sie sich 2022 mit einer Arbeit zum römischen Erbe in der fränkischen Welt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören außerdem Fragen zur Mobilität, dem Militärwesen sowie dem Epochenübergang von der Antike zum Mittelalter.
III. Identität und Wandel
Überblick
Die westeuropäische Gesellschaft am Übergang von der Antike zum frühen Mittelalter durchlief tiefgreifende Veränderungen, die in der Forschung zu Recht als „Transformation der römischen Welt“ beschrieben wurden. Dieser Veränderungsprozess lässt sich auf allen Ebenen der Gesellschaft erkennen. Inwiefern die stattgefundenen äußeren Umwälzungen langfristig alles Dagewesene auf den Kopf stellten und sich damit auch auf die damalige Wahrnehmung und Empfindung auswirkten, lässt sich eindrücklich am Beispiel vorherrschender Identitäten nachvollziehen. Im folgenden Kapitel möchte ich darum der Frage nachgehen, inwiefern sich nach dem Ende der römischen Ordnung die vorhandenen Identitäten veränderten und inwiefern auch neue Bezugspunkte entstanden.
1.Gleichzeitigkeit und Wandelbarkeit
Gundila
Der Historiker Patrick Amory hat in seinem sowohl viel beachteten als auch umstrittenen Buch von 1997 zur ostgotischen Identität in Italien auf das Beispiel des Soldaten Gundila aufmerksam gemacht (S. 149f.). Sein Schicksal ist auf einem fragmentarisch erhaltenen Papyrus (Ital. 49) überliefert, der einen Fall dokumentiert, der 557 vor Gericht verhandelt wurde: Gundila hatte um 539 seinen Besitz an das Heer Justinians verloren, erhielt es aber nach einem Gesuch gegenüber dem byzantinischen Heerführer Belisar († 565) und nach seiner Konvertierung zum katholischen Glauben vorerst zurück – also nach seiner Abkehr von der arianisch-gotischen Glaubensgemeinschaft. Im Rahmen eines späteren Feldzuges riss der Gotenkönig Totila aber diese Güter an sich und übertrug sie seinem comes („Graf“) Tzalico. Daraufhin schloss sich Gundila Belisars Rückeroberungszug an – offenbar in der Hoffnung, so seinen Besitz wiederzuerlangen. Nach dem Sieg gegen die Goten gab der römische Heerführer die Güter aber nicht wie erwartet an Gundila zurück, sondern schenkte sie dem Kloster von St. Aelia. Darauf wandte sich Gundila direkt an den Papst Vigilius, der bereits an seiner Konvertierung zum katholischen Glauben beteiligt gewesen war und der sich nun auch tatsächlich für die Rückerstattung seines Besitzes einsetzte.
Amory unterstreicht, dass Gundila jeweils seine politische und religiöse Zugehörigkeit anzupassen gewusst habe: Als die Umstände es erforderten, war es ihm sogar möglich, seine gotische Identität für die römische aufzugeben. Damit waren nicht nur sein Eintritt in das byzantinische Heer, sondern allen voran seine Bekehrung zum katholischen Glauben verknüpft. Gundilas Priorität war offenbar der Erhalt seines Besitzes, nicht seine Identität als Gote oder seine Zugehörigkeit und Loyalität zum gotischen Königreich.
Identität
Nicht anders als heute waren auch im frühen Mittelalter Identitäten vielschichtig und unbeständig. Diese entstanden und veränderten sich kontinuierlich in Abgrenzung zu anderen Gruppen und wurden nie anhand nur eines einzigen Faktors definiert, deren relative Bedeutung kontextabhängig variieren konnte. Bereits der Mediävist Reinhard Wenskus hat in seinem Werk Stammesbildung und Verfassung (1961) die Heterogenität und Wandelbarkeit der bis dahin vermeintlich klar definierten Volkstämme hervorgehoben und damit die traditionelle Ansicht eines starren Germanenbegriffs nachhaltig infrage gestellt. Menschen definieren sich immer gleichzeitig auf unterschiedlichen Ebenen über recht verschiedene Merkmale, welche sich im Laufe ihres Lebens verändern und gleichzeitig ihre eigene Identität bestimmen. Laut Wenskus wurde Identität im frühen Mittelalter durch die subjektiv definierte Zugehörigkeit zu einer Gruppe, das daraus hervorgehende „Wir-Gefühl“ sowie den Glauben an eine gemeinsame Herkunft geprägt. Ein Gefühl der Zugehörigkeit entstand nicht nur durch den Bezug zur eigenen (lokalen) Heimat und zu dem damit verbundenen (großräumigen) Herrschaftsraum, sondern auch durch die darin beheimatete Gesellschaft und Kultur.
Die Identität einer Person konnte sich selbst durch die Kombination sich scheinbar widersprechender Elemente zusammensetzen. Hierfür wurde bereits in der Vergangenheit gerne auf das Zeugnis einer Kalksteininschrift aus der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts aus dem heutigen Ungarn (Aquincum, Pannonia Inferior) verwiesen. Im ersten Teil der Grabinschrift steht: „Ich bin ein Franke, römischer Bürger, Soldat in Waffen“ (Francus ego cives Romanus miles in armis, CIL III 3576, cf. Abb. 4). Offenbar war es für den Auftraggeber dieser Inschrift selbstverständlich, dass ein Franke gleichzeitig auch römischer Bürger sein konnte, ein Rechtsstatus, den er womöglich in seiner Funktion als römischer Soldat erworben hatte.
Abb. 4: Inschrift CIL III 3576. Magyar Nemzeti Múzeum, Inv. R-D 175 (Abzeichnung)
Odoaker
Wie das Beispiel des Gundila zeigt, stellten selbst ethnische Identitäten, die von der Forschung lange als selbstverständliches Element antiker und frühmittelalterlicher Zugehörigkeit und Identität erachtet wurden, weder ein statisches noch ein unumkehrbares Charakteristikum dar. Der bereits angesprochene Heerführer und König Odoaker ist ein weiteres Beispiel für die Komplexität frühmittelalterlicher Identitäten. Als Sohn einer Skirin und des Thüringers Edeco, der im Dienst Attilas stand und dadurch eng mit dem Vater des Romulus Augustus, Orestes, verbunden war, wird Odoaker in den Quellen nicht nur als Skire, Rugier oder Thüringer, sondern auch als Gote oder Heruler bezeichnet. Womöglich passte auch Odoaker seine Identität den Erwartungen seiner Umgebung und aktuellen Notwendigkeiten an. Dieses Vorgehen dürfte ihm geholfen haben, in Italien jene Unterstützung zu erlangen, ohne die er 476 kaum den örtlichen Kaiser Romulus absetzen und den Titel eines rex hätte annehmen können. Ebenso bemerkenswert ist, dass Odoaker anschließend – und anders als die späteren gentilen Könige – auf eine ethnische Charakterisierung seines Königtums verzichtete, indem er sich lediglich als „König“ (rex Italiae) bezeichnete.
Stichwort
Ethnische Identität
Ethnische Identität (vom Altgriechischen „Völkerschaft“) bezeichnet die sich potenziell verändernde Zugehörigkeit einer Person zu einer größeren Gruppe, die sich durch eine (ggf. vermeintliche) gemeinsame Herkunft, Sprache und Kultur definiert und durch eine ethnische Bezeichnung und die zu diesem Zeitpunkt damit verbundenen Merkmale von anderen Gruppen abgrenzt. Die ethnische Identität stellt dabei immer nur eine Form der Identifikation eines Individuums dar, dessen Identität gleichzeitig auch durch weitere familiäre, regionale, kulturelle, sprachliche, gesellschaftliche, religiöse oder auch politische Zugehörigkeiten bestimmt wurde.
Alemannen
Die Quellen erwähnen über viele Jahrhunderte Volksgruppen wie die Goten, Franken, Vandalen, Burgunden oder Alemannen und belegen damit die anhaltende Bedeutung ethnischer Zugehörigkeit (cf. Quelle). Diese Gruppen lassen sich eindeutig fassen und innerhalb eines spezifischen historischen und politischen Kontextes einordnen. Einige dieser Benennungen lassen erkennen, dass sie als Sammelbezeichnung konzipiert worden waren, indem sie unterschiedliche Gruppen unter einem gemeinsamen Namen vereinten. Das wohl eindeutigste Beispiel ist der Begriff „Alemannen“: Er lässt sich grob mit „alle Männer“ übersetzen. Das Bewusstsein dafür, dass die mit solchen Namen verbundene Identität nur eine übergeordnete Zuordnung darstellte, ist bereits beim byzantinischen Geschichtsschreiber Agathias (1.6) belegt, der erklärt, der Historiker Asinius Quadratus aus dem 3. Jahrhundert habe die Alemannen als gemischten Haufen beschrieben und dass ihr Name auf diesen Umstand verweise.
Quelle
Fredegarchronik 4.78 (Übersetzung Haupt 1982, S. 249–251)
Weil die Basken im 14. Regierungsjahre Dagoberts [I.] einen wilden Aufstand begannen und in das Frankenreich, das Charibert [II.] beherrscht hatte, viele Raubzüge unternahmen, ließ Dagobert aus dem gesamten Reich Burgund ein Heer aufbieten, an dessen Spitze er den Referendar Chadoindus stellte, der sich einst, zu den Zeiten des Königs Theuderich [II.], in vielen Kämpfen als mannhafter Streiter erwiesen hatte. Als nun aber zehn duces mit ihren Heerhaufen, nämlich die Franken Arnebert, Amalgar, Leudebert, Wandalmar, Walderich, Ermeno, Barontus und Chairaardus, der Romane Chramnelenus, der Patricius Willebad aus dem Volke der Burgunder und der Sachse Aeghyna und außerdem noch eine große Anzahl comites [Grafen], die keinen dux über sich hatten, im Baskenland angekommen waren und das ganze Land der Basken vom burgundischen Heere erfüllt war, brachen die Basken zwischen den Felsbergen hervor und eilten in den...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Mittelalter |
ISBN-10 | 3-534-27556-X / 353427556X |
ISBN-13 | 978-3-534-27556-4 / 9783534275564 |
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