Kulturen des Risikos im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (eBook)

Benjamin Scheller (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
287 Seiten
De Gruyter Oldenbourg (Verlag)
978-3-11-061917-1 (ISBN)

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Kulturen des Risikos im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit -
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Zum Historischen Kolleg: http://www.historischeskolleg.de/



Benjamin Scheller ist Professor für Geschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit an der Universität Duisburg-Essen.

Susanne Reichlin

Risiko und âventiure


Die Faszination für das ungesicherte Wagnis im historischen Wandel


Im neuen „Mittelhochdeutschen Wörterbuch“ wird als Bedeutung von âventiure angeführt: „(risikoreiches) Unternehmen, dem sich jmd. willentlich aussetzt, ritterliche Aufgabe, Herausforderung, Bewährungsprobe, Abenteuer“.44 Als erster Beleg dafür wird eine Szene aus Hartmanns „Erec“ angeführt, in der dem Helden die âventiure von Joie de la Curt angekündigt wird (V. 7999). Interessiert man sich für die Historisierung von Risiko nicht nur in wortgeschichtlicher, sondern auch in konzeptioneller Hinsicht, stellt sich die Frage, weshalb „risikoreich“ in Klammern gesetzt worden ist und was die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen einem „risikoreiche[n] Unternehmen“ und einer „Herausforderung“, „Bewährung“ oder „ritterliche[n] Aufgabe“ sind. Versteht man Risiko im modernen soziologischen Sinne als Entscheidung, eine berechenbare Ungewissheit einzugehen, weil die Chance, dass das „Unternehmen“ glücklich beziehungsweise mit persönlichem Vorteil endet, höher eingeschätzt wird als ein negativer Ausgang,45 dann trifft dies auf die Protagonisten der höfischen Romane nicht zu: Weder wägt der Ritter Wahrscheinlichkeiten ab, noch stellt der Text die Situation überhaupt als eine Entscheidungs- oder Wahlsituation46 dar. Vielmehr ist eine âventiure wie Joie de la Curt eine Herausforderung, der sich der Ritter im Rahmen einer Art Übergangsritual zu stellen hat und die für ihn und die Gesellschaft letztlich heilbringend ist.47 Handelt es sich bei einer âventiure also gerade nicht um ein Risiko, sondern – mit Bezug auf Luhmanns berühmte Unterscheidung – um eine Gefahr,48 die sich auf Ereignisse bezieht, die nicht vorhersehbar sind und die deshalb auch nicht in Form einer Entscheidung eingegangen werden?49 Auch wenn dies der Sache vielleicht punktuell näher kommt, so ist auch diese Umschreibung wenig treffend, weil die âventiure den Ritter nicht wie eine Naturkatastrophe ereilt, sondern er sie sucht und ihm der Ruhm des Gelingens oder der Misskredit des Scheiterns zugeschrieben werden.

Die Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr ist somit ihrerseits risikobehaftet, da sie keineswegs allen Verhaltensformen im Umgang mit künftigen Ungewissheiten gerecht wird. Dies liegt wohl nicht zuletzt daran, dass Luhmann dabei zwei Unterscheidungskriterien, die Berechenbarkeit und die Zurechnung, aneinanderkoppelt. Im Rückgriff auf den Ökonomen Franklin H. Knight50 charakterisiert er Risiken dadurch, dass sie sich auf berechenbare Ungewissheiten (known unknowns) beziehen, die sich einschätzen und damit ansatzweise beherrschen lassen. Gefahren dagegen stellten unberechenbare Ungewissheiten dar (unknown unknowns), die man deshalb auch nicht einschätzen oder gar kalkuliert auf sich nehmen kann.51 Während Knight sich ganz auf diese Unterscheidung beschränkt, ergänzt Luhmann sie um den Aspekt der Zurechenbarkeit. Risiken charakterisieren sich zusätzlich dadurch, dass man den Schaden oder Gewinn, weil sich deren Wahrscheinlichkeit einschätzen lässt, der Entscheidung eines Einzelnen zurechnet respektive diesen dafür verantwortlich macht. Bei der Gefahr dagegen kann mit dem Eintreten des entsprechenden Ereignisses nicht gerechnet werden.52 Der Mehrwert dieses zweiten Unterscheidungskriteriums liegt auf der Hand: Die Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr bezieht sich nicht nur auf die (objektive oder subjektive) Berechenbarkeit, sondern auch auf sozial-kulturelle Parameter, nämlich darauf, ob und wie stark Schäden auf die Entscheidung eines Einzelnen zurückgeführt werden.53 Allerdings untergräbt das zweite Unterscheidungskriterium im Extremfall das erste, weil damit jeder noch so unberechenbare Schaden als Risiko des Einzelnen verstanden werden kann. Risikowahrnehmung bedeutet dann nicht nur, berechenbare und unberechenbare Ungewissheiten als Chance zu begreifen,54 sondern auch, die Einzelnen für das Inkaufnehmen unberechenbarer Ungewissheiten verantwortlich zu machen.55

Luhmanns Unterscheidung von Risiko und Gefahr öffnet das Thema somit einerseits für historische Fragen, weil über die Berechenbarkeit hinaus soziale Zuschreibungen im Umgang mit künftigen Ungewissheiten und ihr historischer Wandel beobachtet werden können. Andererseits hat sie den Nachteil, dass Kriterien, die auf unterschiedlichen Ebenen liegen, ineinander verknotet werden. Während das Kriterium der Berechenbarkeit zwei Gruppen von künftigen Ungewissheiten unterscheidet, stellt das Kriterium der Zurechnung ein Deutungsschema56 dar, das sich dadurch auszeichnet, dass es sich auf alle möglichen Fälle respektive auf ganz unterschiedliche Formen von Ungewissheiten anwenden lässt.57 Damit kann es auch auf historische Quellen appliziert werden, denen dieses Zurechnungs- und Deutungsschema nicht entspricht. Die âventiure im höfischen Roman wird so zu einem „riskante[n] Unternehmen“, das der Ritter eingeht, um Ruhm zu erlangen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob damit das ritterliche Verhalten angemessen beschrieben ist oder ob nicht moderne Zurechnungsformen rückprojiziert werden und der höfische Roman vielleicht ganz andere Deutungsschemata nahelegt.

Anstatt binär zwischen Risiko und Gefahr zu unterscheiden, könnte es deshalb gerade im Hinblick auf historische Quellen erfolgsversprechender sein, die Kriterien der Berechenbarkeit und der Zurechnung voneinander zu trennen und unterschiedliche Typen von Risikoverhalten, aber auch unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Motivierung, Deutung und Beurteilung dieses Verhaltens zu unterscheiden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der moderne Risikobegriff die Konvertierbarkeit von sozialen oder körperlichen Schäden respektive Gewinnen in eine einheitliche Rechengröße (meist Geldwerte) impliziert.58 Es ist deshalb zu fragen, wie historische Quellen soziale, moralische oder ökonomische Risiken bewerten und ob sie die Werte konvertieren.

Ich möchte diesen Fragen im Folgenden anhand zweier spätmittelalterlicher Mären59 nachgehen, in denen im ökonomischen Bereich Risikoabwägungen sichtbar werden, die dem probabilistischen Risikobegriff60 nahekommen: Das Risiko wird dann eingegangen, wenn die geschätzte Chance eines Gewinns höher ist als die Chance des Verlusts. Doch prägen diese Risikoabwägungen das Verhalten der Protagonisten keineswegs durchgehend, sondern ihr Verhalten ist, sobald Ehre, Liebe oder Sexualität im Spiel sind, weitaus riskanter – wobei die Pointe der Erzählungen darin besteht, dass das sexuell oder ehrbezogen riskante Verhalten ökonomische Konsequenzen hat. Es gilt deshalb zu untersuchen, ob und inwiefern sich in diesen Erzählungen die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Risikotypen und Deutungsschemata im Umgang mit künftigen Ungewissheiten beobachten lässt. Dabei wird auch das eingangs erwähnte Erzählmuster der ritterlichen âventiure aufgerufen, dieses aber – wie zu zeigen sein wird – seinerseits transformiert. Die âventiure als narratives Konzept ist dabei vom Wort âventiure zu unterscheiden, das im Frühneuhochdeutschen auch das ökonomische Wagnis bezeichnen kann und häufig, gemeinsam mit wette, wagnus und angst, als Vorläufer des neuhochdeutschen Risikobegriffs angeführt wird.61 Statt Wort- und Konzeptgeschichte kurzzuschließen, soll im Folgenden eher auf die je anders gelagerten Transformationen von Wort- und Konzeptgeschichte geachtet werden.

Das gesicherte und das ungesicherte Wagnis


Ich möchte als erstes eine Erzählung untersuchen, die nur in einer Handschrift aus der Mitte des 14. Jahrhunderts überliefert und die von zwein kaufman überschrieben ist.62 Erzählt wird die Geschichte des Kaufmanns Bertram, der mit Irmengard, der Tochter eines anderen Kaufmanns, in Verdun verheiratet ist. Nach zehn Jahren Ehe bereitet er eine Handelsreise zur Messe in Provins vor. Sein Aufbruch wird vom Erzähler folgendermaßen begründet:

der herre mîn her Bertram

mit koufe mêrte sîn guot:

wan swer zem dinge niht entuot

und alzît dâ von nemen wil,

des muoz wesen harte vil,

ezn werde schiere vertân.

[…]

er [Bertram] was kündec unde wîs

ûf aller hande koufmanschaft.

[…] aller hande rîche wât

vuorte er ûf den jârmarkt hin.

dar an nam er rîchen gewin. (V. 249–263)63

Der gewinnorientierte Handel mit Stoffen und Kleidern wird...

Erscheint lt. Verlag 21.10.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Mittelalter
Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
ISBN-10 3-11-061917-2 / 3110619172
ISBN-13 978-3-11-061917-1 / 9783110619171
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