Seneca - Epistulae morales ad Lucilium - Liber XI-XIII Epistulae LXXXIV - LXXXVIII -  Michael Weischede

Seneca - Epistulae morales ad Lucilium - Liber XI-XIII Epistulae LXXXIV - LXXXVIII (eBook)

Latein/Deutsch
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2023 | 1. Auflage
116 Seiten
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978-3-7578-4595-7 (ISBN)
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In den 60er-Jahren des ersten Jahrhunderts n. Chr. hat der römische Politiker und Philosoph Lucius Annaeus Seneca (Seneca der Jüngere) eine Sammlung von 124 Briefen verfasst, in denen er seinem Freund Lucilius Einblicke in seine persönliche Ausdeutung der stoischen Philosophie gewährt. Dabei geht die heute geläufige Einteilung der Briefe in 20 Bücher bereits auf die Antike zurück. Der vorliegende Band beinhaltet die Briefe 84-88 aus den Büchern 11 bis 13 in deutscher Übersetzung sowie den lateinischen Originaltext.

Der Autor Michael Weischede hat Geschichte an der Ruhruniversität in Bochum studiert und arbeitet zurzeit als freier Schriftsteller in Dortmund.

Buch 11-13 – Brief 84


Seneca grüßt seinen Lucilius,

(1) Diese kurzen Reisen, die mir meine Trägheit austreiben, sind, glaube ich, sowohl meiner Gesundheit als auch meinen Studien zuträglich. Du erkennst, warum sie die Gesundheit fördern: weil mich die Liebe zur Wissenschaft träge und dem Körper gegenüber nachlässig macht, übe ich mich in fremder Tätigkeit. Weshalb sie für meine wissenschaftliche Beschäftigung nützlich sind, will ich verraten: ich habe [während der Reisen] die Lektüre nicht aufgegeben. Sie ist nämlich notwendig, wie ich meine, zuerst, damit ich mich nicht auf eine einzige Sache beschränke, alsdann, damit ich, sooft ich die Forschungen von anderen kennengelernt habe, danach sowohl über diese Ansichten urteilen als auch darüber nachdenken kann, was noch entdeckt werden muss. Nachdem er von der wissenschaftlichen Beschäftigung erschöpft wurde, fördert und erquickt das Lesen den Geist – allerdings nicht ohne ein eifriges Streben.

(2) Weder sollen wir nur schreiben noch nur lesen: das eine wird unsere Kräfte beeinträchtigen und erschöpfen (ich spreche über das Schreiben), das andere wird sie zerstreuen und aufweichen. Abwechselnd muss man zwischen diesem und jenem herpendeln und das eine zum anderen ins richtige Verhältnis setzen, um alles, was durch die Lektüre aufgenommen wurde, mit dem Griffel zurück in eine materielle Substanz zu bringen.

(3) Wir müssen, wie man sagt, die Bienen nachahmen, die umherstreifen und die zur Honigbereitung geeigneten Blüten aussaugen, danach alles, was sie herbeigetragen haben, passend machen und auf die Waben verteilen und, wie unser Vergil sagt:

den flüssigen Honig dicht zusammendrücken

und mit dem süßen Nektar die Zellen ausfüllen.

(4) De illis non satis constat utrum sucum ex floribus ducant qui protinus mel sit, an quae collegerunt in hunc saporem mixtura quadam et proprietate spiritus sui mutent. Quibusdam enim placet non faciendi mellis scientiam esse illis sed colligendi. Aiunt inveniri apud Indos mel in arundinum foliis, quod aut ros illius caeli aut ipsius arundinis umor dulcis et pinguior gignat; in nostris quoque herbis vim eandem sed minus manifestam et notabilem poni, quam persequatur et contrahat animal huic rei genitum. Quidam existimant conditura et dispositione in hanc qualitatem verti quae ex tenerrimis virentium florentiumque decerpserint, non sine quodam, ut ita dicam, fermento, quo in unum diversa coalescunt.

(5) Sed ne ad aliud quam de quo agitur abducar, nos quoque has apes debemus imitari et quaecumque ex diversa lectione congessimus separare (melius enim distincta servantur), deinde adhibita ingenii nostri cura et facultate in unum saporem varia illa libamenta confundere, ut etiam si apparuerit unde sumptum sit, aliud tamen esse quam unde sumptum est appareat. Quod in corpore nostro videmus sine ulla opera nostra facere naturam

(4) Es ist von ihnen nicht hinreichend bekannt, ob sie einen Saft, der sogleich Honig ist, aus den Blüten saugen, oder ob sie das, was sie gesammelt haben, durch eine gewisse Beimischung und durch ihre besondere Lebensart zu einer solchen Leckerei umwandeln. Manche sind nämlich der Ansicht, dass sie nicht die Geschicklichkeit besitzen, den Honig hervorzubringen, sondern [nur] ihn zu sammeln. Sie behaupten, dass bei den Indern Honig von den Blättern des Bambusrohrs gewonnen wird, den entweder der Tau in jenem Klima oder der süße und ziemlich dick[flüssige] Nahrungssaft des Bambusrohrs selbst erzeuge; dass auch in unseren Halmen dieselbe Kraft angelegt ist, aber weniger deutlich und auffallend; diesem würde ein dafür erschaffenes Lebewesen beharrlich folgen und an sich ziehen. Einige meinen, dass das, was sie aus dem Zartesten der Pflanzen und Blüten entnehmen, durch Zubereitung und Verteilung in seiner Beschaffenheit verwandelt wird, nicht ohne ein gewisses, um es so zu benennen, Ferment, mit dem sie voneinander Getrenntes zu einem Einzigen verschmelzen.

(5) Aber um mich nicht zu etwas anderem als das, worum es geht, verleiten zu lassen: auch wir müssen diese Bienen nachahmen und alles trennen, was wir aus zerstreuter Lektüre zusammengetragen haben (was streng gegliedert wurde, wird nämlich besser bewahrt), hierauf, unter Hinzuziehung unseres Verstandes, jene verschiedenen Kostproben mit Sorgfalt und Talent zu einem einzigen Leckerbissen verbinden, damit sichtbar wird, selbst wenn offenkundig ist, von wo es entnommen wurde, dass es trotzdem etwas anderes ist, als das, von wo es entnommen wurde. Wir sehen, dass die Natur diese Dinge in unserem Körper ohne irgendeine Tätigkeit unsererseits bewirkt.

(6) (alimenta quae accepimus, quamdiu in sua qualitate perdurant et solida innatant stomacho, onera sunt; at cum ex eo quod erant mutata sunt, tunc demum in vires et in sanguinem transeunt), idem in his quibus aluntur ingenia praestemus, ut quaecumque hausimus non patiamur integra esse, ne aliena sint.

(7) Concoquamus illa; alioqui in memoriam ibunt, non in ingenium. Adsentiamur illis fideliter et nostra faciamus, ut unum quiddam fiat ex multis, sicut unus numerus fit ex singulis cum minores summas et dissidentes conputatio una conprendit. Hoc faciat animus noster: omnia quibus est adiutus abscondat, ipsum tantum ostendat quod effecit.

(8) Etiam si cuius in te comparebit similitudo quem admiratio tibi altius fixerit, similem esse te volo quomodo filium, non quomodo imaginem: imago res mortua est. 'Quid ergo? Non intellegetur cuius imiteris orationem? Cuius argumentationem? Ccuius sententias?' Puto aliquando ne intellegi quidem posse, si magni vir ingenii omnibus quae ex quo voluit exemplari traxit formam suam inpressit, ut in unitatem illa conpetant.

(6) (Nahrungsmittel, die wir aufgenommen haben, fallen beschwerlich, solange sie ihre Beschaffenheit beibehalten und unverdaut im Magen schwimmen; wenn sie jedoch aus dem, was sie waren, transformiert worden sind, dann gehen sie schließlich in Körperkräfte und Lebensfrische über), dasselbe sollten wir den Dingen widerfahren lassen, die uns gedeihen lassen, nämlich nicht geschehen zu lassen, dass alles, was wir aufgenommen haben, unverändert bleibt, damit es nicht ein fremdes Gut bleibt.

(7) Machen wir sie uns zu eigen; andernfalls werden sie in unser Gedächtnis, nicht in unseren schöpferischen Geist eingehen. Wir sollten ihnen aufrichtig zustimmen und zu dem Unsrigen machen, damit sozusagen aus den Vielen ein Einziges entsteht, gleichwie aus einzelnen eine einzige Zahl entsteht, sooft eine Berechnung kleinere und getrennte Summen zu einer einzigen zusammenfasst. Dies möge unser Geist zuwege bringen: alles, wodurch er gefördert wurde, soll er unsichtbar werden lassen, [und] nur offenbaren, was er selbst hervorgebracht hat.

(8) Auch wenn sich bei dir eine Ähnlichkeit mit irgendjemanden einstellt, die dir eine allzu tiefe Bewunderung eingeprägt hat, will ich lieber, dass du ihm ähnlich bist wie ein Sohn, nicht wie ein Abbild: ein Bild ist ein toter Gegenstand. „Was nun also? Wird man sich nicht denken, wessen Rede, wessen Beweisführung, wessen Ideen du nachahmst?‟ Ich glaube, dass man irgendwann nicht einmal mehr wahrnehmen kann, wenn ein Mann mit großem geistigen Talent allem, was er sich von einem wünschenswerten Vorbild zu eigen machte, seinen charakteristischen Ausdruck aufgedrückt hat, so dass es in einem einheitlichen Ganzen zusammentrifft.

(9) Non vides quam multorum vocibus chorus constet? Unus tamen ex omnibus redditur. Aliqua illic acuta est, aliqua gravis, aliqua media; accedunt viris feminae, interponuntur tibiae: singulorum illic latent voces, omnium apparent.

(10) De choro dico quem veteres philosophi noverant: in commissionibus nostris plus cantorum est quam in theatris olim spectatorum fuit. Cum omnes vias ordo canentium implevit et cavea aeneatoribus cincta est et ex pulpito omne tibiarum genus organorumque consonuit, fit concentus ex dissonis. Talem animum esse nostrum volo: multae in illo artes, multa praecepta sint, multarum aetatum exempla, sed in unum conspirata.

(11) 'Quomodo', inquis, 'hoc effici poterit?' Adsidua intentione: si nihil egerimus nisi ratione suadente, nihil vitaverimus nisi ratione suadente. Hanc si audire volueris, dicet tibi: relinque ista iamdudum ad quae discurritur; relinque divitias, aut periculum possidentium aut onus; relinque corporis atque animi voluptates, molliunt et enervant; relinque ambitum, tumida res est, vana, ventosa, nullum habet terminum, tam sollicita est ne quem ante se videat quam ne secum, laborat invidia et quidem duplici. Vides autem quam miser sit si is cui invidetur et invidet.

(9) Siehst du nicht, auf wie viele Stimmen sich ein Chor gründet? Dennoch wird von allen ein einziger Ton vorgetragen. Dabei ist manch eine [Stimme] hoch, manch eine tief, manch eine dazwischenliegend; Frauen schließen sich den Männern an, dazwischen drängen sich die Flöten: die Stimmen der Einzelnen bleiben dabei verborgen, die aller [als Ganzes] kommen zum Vorschein.

(10) Ich spreche von dem Chor, den die alten Philosophen kannten: in unseren Aufführungen gibt es mehr Sänger als es einstmals in den Theatern Zuschauer gab. Wenn die Reihe der Singenden alle Gänge füllt und der Zuschauerraum ringsum besetzt ist mit Blechbläsern und von jeder Bühne jede Art von Flöten und Pfeifen...

Erscheint lt. Verlag 27.2.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
ISBN-10 3-7578-4595-1 / 3757845951
ISBN-13 978-3-7578-4595-7 / 9783757845957
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