Geschwisterliche Gerechtigkeit (eBook)

Prinzipien einer politischen Utopie
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
410 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45549-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geschwisterliche Gerechtigkeit -  Jochen Bojanowski
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Geschwisterlichkeit wird in der Tradition des politischen Liberalismus häufig als moralischer Wert verstanden, der über das Ideal der Gerechtigkeit hinausgeht. Im Unterschied dazu argumentiert Jochen Bojanowski für ein neues Verständnis: Demnach sind wir im politischen Kontext zueinander geschwisterlich eingestellt, wenn wir einen gesellschaftlichen Kooperationsrahmen befürworten, in dem bloße Glücksunterschiede nicht in distributive Vorteile umgemünzt werden können. Ausgehend von dieser Idee entwickelt Bojanowski eine Theorie der Gerechtigkeit, der zufolge Geschwisterlichkeit einen konstitutiven Teil von Gerechtigkeit darstellt.

Jochen Bojanowski ist Professor für Philosophie an der University of Illinois.

Jochen Bojanowski ist Professor für Philosophie an der University of Illinois.

1. Kapitel: Ideale ohne Zugeständnisse


Wer unsere konkreten politischen Probleme lösen möchte, muss sich mit den Tatsachen unserer politischen Wirklichkeit auseinandersetzen. Ob die Einführung von Mikrokrediten bei der Armutsbekämpfung in den Entwicklungsländern sinnvoll ist, muss durch empirische Studien beantwortet werden. Um die steigende Altersarmut und die steigende Armut alleinerziehender Mütter in Deutschland aufzuhalten, ist ebenfalls ökonomisches Fachwissen erforderlich. Um den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten im Irak zu entschärfen, muss man sich mit den religiösen Überzeugungen beider Glaubensrichtungen auseinandersetzen. Um schließlich auf die klimatischen Veränderungen auf unserem Planeten richtig zu reagieren, müssen wir uns um eine naturwissenschaftliche Theorie bemühen, auf deren Grundlage wir begründete Entscheidungen treffen können. Wer keine Kenntnis der relevanten Tatsachen besitzt, sollte sich hinsichtlich dieser Probleme als Diagnostiker und Therapeut zurückhalten. Philosophie ist weder Wirtschaftswissenschaft noch Naturwissenschaft und sie ist auch keine Religionswissenschaft. Dieser Befund hat manche, nennen wir sie »Realisten« dazu veranlasst, der Philosophie insgesamt ihre positiven Kompetenzen auf dem Gebiet der Politik abzusprechen. Substantielle politische Prinzipien seien von der Philosophie nicht zu erwarten. Die Auseinandersetzung mit den großen Utopieentwürfen in der Philosophiegeschichte könne uns lediglich darüber aufklären, wie nutzlos und gefährlich diese Theorieansätze sind. Die Philosophie werde allenfalls gebraucht, um das Bewusstsein für die Geschichte ihres Scheiterns am Leben zu erhalten. Auf diese Weise können wir verhindern, unser politisches Handeln von wirklichkeitsfremden Lehnstuhltheorien abhängig zu machen. Die Philosophie habe demnach nur noch die Aufgabe, die Menschen vor der Philosophie in Schutz zu nehmen. Als Philosophen sollten wir nur die Sokratische Einsicht vom Wissen des Nichtwissens kultivieren. In diesem Sinne ist Philosophie nur eine negative »Wissenschaft«.

Nun gibt es offensichtlich einige fundamentale begriffliche Probleme, die sich nicht auf der Grundlage der Einzelwissenschaften entscheiden lassen. Die Frage, wie und ob ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹ miteinander vereinbar sind, kann uns kein Ökonom, kein Religionswissenschaftler oder Physiker beantworten. Zumindest kann er diese Frage nicht in seiner Funktion als Ökonom, als Religionswissenschaftler oder als Physiker beantworten. Dazu müsste er sich auf die begriffliche Arbeit der Philosophie einlassen. Der politische Realist wird allerdings bezweifeln, dass diese begriffliche Arbeit tatsächlich gewinnbringend für die politische Praxis ist. Selbst wenn wir die Frage beantworten könnten, in welchem Verhältnis ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹ in einer gerechten Gesellschaft idealerweise zueinander stehen, bliebe unklar, was genau für unsere offensichtlich nicht-ideale politische Wirklichkeit daraus folgt. Der politische Realist hält die Klärung dieser Fragen für unproduktiv, weil sie uns keine konkreten Handlungsanleitungen geben kann. Deshalb, so der Realist weiter, sollten wir uns auch in der politischen Philosophie vom »Theoretisieren aus dem Lehnstuhl« verabschieden (Farrelly 2007, 860; Geuss 2008). Statt anhand von idealen Begriffen und Gedankenexperimenten einen idealen Ausgangspunkt und Endzustand der Gesellschaft festzulegen, sollten wir uns auf die konkrete politische Wirklichkeit konzentrieren und uns fragen, was der nächst bessere Zustand ist, den wir derzeit realistischerweise erreichen können. Anders gesagt, wir müssen uns auf das »lokale« nicht auf das »globale Optimum« konzentrieren. Idealismus in der politischen Philosophie ist bloßes »Wunschdenken«. Die großen Utopien mögen erbaulich sein, sie helfen uns aber nicht, die konkreten politischen Probleme zu lösen, weil unklar bleibt, welche konkreten Handlungsanleitungen aus ihnen abzuleiten sind.

Gegenwärtige Vertreter eines realistischen Ansatzes wie Gerald Gaus und Amartya Sen knüpfen der Sache nach an Karl Poppers Ansatz der »Stückwerktechnik«, dem »Sich-durchwursteln«, an (Popper 2002 [1957], 69; vgl. Sen 2009; Gaus 2016). Genau wie Popper sind sie davon überzeugt, dass derjenige, der es mit der praktischen Funktion der politischen Philosophie ernst meint und die politische Wirklichkeit positiv verändern will, sich nicht auf ideale politische Theoriebildung einlassen darf. Die Idealisierungen, die in die Theoriebildung eingehen, werden der Komplexität und Diversität der Gesellschaft nicht gerecht. Der idealen Theorie gelingt es deshalb auch nicht, die konkreten Interessen der Individuen einer besonderen Gesellschaft angemessen zu repräsentieren. Sie geht gewissermaßen über diese Individuen hinweg und kann von ihnen eigentlich nur als eine »Tyrannei« empfunden werden (Gaus 2016, 139–149). Doch nicht nur der ideale Ausgangspunkt, sondern auch die Artikulation eines idealen Endpunktes, eines Utopia, hilft nicht dabei, konkrete Handlungsprinzipien für die nicht-ideale Gegenwart zu bestimmen. »Politische Realität verlangt nach nichtidealen Lösungen«. Insofern wäre es verkehrt, sich im Bereich des Politischen auf einen »moralische Utopismus« zurückzuziehen (Horn 2014, 321). Amartya Sen geht sogar noch weiter: Das Wissen um einen idealen Endpunkt ist nicht nur überflüssig, wenn wir uns zwischen zwei nicht-idealen Optionen entscheiden müssen, es führt uns sogar mit sehr großer Wahrscheinlichkeit vom richtigen Weg ab (Sen 2006, 236–238). Aus Gründen dieser Art steht der Realist der idealen Theorie skeptisch gegenüber. Wenn die politische Philosophie einen substantiellen Beitrag zu den politischen Problemen der Gegenwart liefern soll, dürfe sie sich nicht dem Programm der idealen Theorie verschreiben, die von Platon bis Rawls die politische Philosophie dominiert hat.

In diesem ersten Kapitel werden wir uns mit der realistischen Skepsis, wie sie insbesondere von Sen und Gaus in Auseinandersetzung mit Rawls‹ idealer Theorie geäußert worden ist, befassen. Dabei sollen die Aufgabe und die Methode der politischen Philosophie genauer untersucht werden. Es muss geklärt werden, ob die Kritik der Realisten an der idealen Theorie berechtigt ist. Auf der einen Seite müssen wir fragen, inwieweit die ideale Theorie dem praktischen Anspruch der politischen Philosophie gerecht werden kann. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch untersuchen, ob dieser Anspruch die politische Philosophie einseitig auf ihre praktische Komponente reduziert. In diesem Kapitel soll dafür argumentiert werden, dass der nicht-ideale Ansatz die politische Philosophie auf einen, wie David Estlund es genannt hat, »Praktikabilismus« festlegt (Estlund 2011, 395). Damit wird die politische Philosophie nicht mehr als ein Zweig der Philosophie, sondern als ein Zweig »normativer Sozialtechnologie« missverstanden. (Cohen, RJE, 2008, 306). Dieses Kapitel ist in fünf Abschnitte unterteilt. Wir werden zunächst die argumentativen Grundzüge der Debatte zwischen idealer und nicht-idealer Theorie untersuchen. Im zweiten Abschnitt werden wir uns dann in erster Linie auf Sens realistische Kritik an der idealen Theorie konzentrieren. Es wird sich zeigen, warum Sens Einwand der mangelnden Handlungsanleitung zu kurz greift. Gegen Sen werden wir die evaluative Funktion einer idealistischen Gerechtigkeitstheorie stark machen. Der Realist glaubt, eine normative Gerechtigkeitstheorie müsse die deskriptiven Tatsachen der gegenwärtigen Welt bei der Begründung der Gerechtigkeitsprinzipien berücksichtigen. Mit unserer These vom implementativen Realismus stimmen wir dem Realisten zu. Wir bestreiten aber, dass den Tatsachen eine begründungstheoretische Priorität zukommt. Vielmehr wollen wir im vierten Abschnitt die These verteidigen, wonach unsere Zustimmung oder Ablehnung der obersten evaluativen Prinzipien tatsachenunabhängig ist. Diese Position werden wir als evaluativen Idealismus bezeichnen. Im letzten Abschnitt wenden wir uns dann schließlich dem Problem zu, wie die Werte, die in den idealen Prinzipien artikuliert werden, sich zueinander verhalten. Wir werden einen schwachen Wertepluralismus vertreten, der sowohl die dezisionistische oder subjektivistische Skylla des starken Pluralismus als auch die reduktionistische Charybdis des Wertemonismus umschiffen kann.

1.1.Ideale und nicht-ideale Theorie


1.1.1. Man hat versucht, den Unterschied zwischen...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2023
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Brüderlichkeit • G. A. Cohen • Gesellschaftstheorie • Glücksegalitarismus • Ideale Theorie • John Rawls • Kapitalismus • Liberalismus • Robert Nozick • Ronald Dworkin • Soziale Ungleichheit • Sozialismus • Verteilungsgerechtigkeit
ISBN-10 3-593-45549-8 / 3593455498
ISBN-13 978-3-593-45549-5 / 9783593455495
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