Die Samurai (eBook)
133 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-80171-6 (ISBN)
Wolfgang Schwentker war bis 2019 Professor für vergleichende Kultur- und Ideengeschichte an der Universität Osaka.
I. Lehren einer Legende:
Die Rache der 47 Samurai
Wer heutzutage mit der Yamanote-Schnellbahn vom Bahnhof Tōkyō kommend südwärts bis Shinagawa fährt, erreicht nach einem kurzen Spaziergang den am Ende einer unscheinbaren Seitenstraße gelegenen Sengaku-Tempel. Dieser wurde in den Jahren 1596 bis 1615 auf Veranlassung von Tokugawa Ieyasu, dem Begründer des frühneuzeitlichen Shōgunats, zunächst außerhalb seiner Burg am Sakuradamon errichtet und nach einem Feuer 1641 an seinem heutigen Platz im Stadtteil Takanawa neu aufgebaut. Zu jener Zeit zählte der Tempel zu den bedeutendsten religiösen Wirkungsstätten der zen-buddhistischen Sōtō-Sekte. Aber nicht aus diesem Grunde kommen heute noch viele Japaner und ausländische Touristen dorthin. Die Besucher zieht es auf eine hinter dem Tempel gelegene Anhöhe, auf der sich eine meist in den Duft zahlloser Räucherstäbchen gehüllte Grabanlage befindet: Hier sind die sterblichen Überreste der sagenumwobenen 47 Samurai bestattet, die den Tod ihres Herren Asano Naganori rächten, um damit seine Ehre wiederherzustellen. Sie wurden dafür mit dem Tode bestraft. Was genau war damals geschehen?
Der Herr (daimyō) des Territoriums von Akō hatte am 21. April 1701 aufgrund einer öffentlichen Beleidigung das Schwert gegen den Zeremonienmeister Kira Yoshinaka, einen der ranghöchsten Beamten des shōgun, gezogen, was in dessen Residenz in Edo – so der damalige Name des heutigen Tōkyō – ein schweres Vergehen war. Obgleich der Angegriffene nur leicht verletzt wurde, musste Asano noch am gleichen Tage Selbstmord begehen, ohne dass der Fall eingehend untersucht wurde. Sein Besitz in Akō wurde eingezogen, seine Vasallen verloren ihr Auskommen. Als herrenlose Samurai (rōnin) irrten sie scheinbar hilflos umher, sannen aber insgeheim unter der Führung von Ōishi Kuranosuke (Yoshio), dem obersten Hausvasallen (karō) und engsten Vertrauten Asanos, auf Vergeltung. In einer kalten Dezembernacht des Jahres 1702 stürmten die 47 Getreuen die Residenz des verhassten Kira in Edo, töteten und enthaupteten ihn und brachten seinen Kopf zum Grab ihres Herren am Sengaku-ji. Ihre Tat wurde von den Zeitgenossen über die Grenzen der Stadt hinaus gerühmt, denn sie schien angesichts der ungerechten Behandlung des daimyō durch den shōgun legitim zu sein; legal war sie nicht! Aus diesem Grunde wurden die Gefolgsleute des daimyō von Akō zwei Monate nach der Tat gezwungen, harakiri (im Japanischen eher: seppuku) zu begehen, d.h. sich selbst zu entleiben. Sie hatten wissentlich dieses Risiko auf sich genommen, hatten den «Geist» der Samurai über das Recht des shōgun gestellt und folgten nun ihrem Herrn in den Tod.
Diese Begebenheit kennt in Japan jedes Kind. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde sie, ungeachtet aller Zensurmaßnahmen seitens der Regierung, in Stücken für das Puppentheater oder Kabuki, in historischen und fiktiven Geschichten oder Holzschnitten festgehalten und in vielfältiger Form abgewandelt. Die wohl nachhaltigste Wirkung entfaltete das ursprünglich für das Puppentheater geschriebene Stück «Chūshingura» («Das Schatzhaus loyaler Vasallen»), das, für das Kabukitheater umgearbeitet, seit 1749 in Edo, Kyōto und Ōsaka mit großem Erfolg aufgeführt wurde. Wenn die Geschichte heute eher in Filmen, Comics (manga) oder Videospielen kolportiert wird, so ändert das an der «Botschaft», die sie jeder Generation auf je eigene Art und Weise vermittelt, nur wenig: Aus dem Verhalten der 47 Männer werden Mut, Besonnenheit und Loyalität, aber auch Opferbereitschaft einer Sache oder Person gegenüber herausgelesen, – Werte, die auch in der Gesellschaft des modernen Japan noch einen Platz haben. Die besondere Faszination, die von dieser Geschichte bis heute ausgeht, ist aber nicht nur mit einem spezifischen Tugendkatalog zu erklären, sondern sie verdankt sich wohl auch eigentümlichen sozialen Strukturelementen, die die frühneuzeitliche Gesellschaft ebenso geprägt haben, wie sie für die moderne Industriegesellschaft gelegentlich noch charakteristisch sind. Dies hat zu tun mit der Konfliktkonstellation, in die sich der Einzelne hineingestellt sieht, wenn er die politische oder soziale Ordnung als Ganze herausfordert. Die kollektive Aktion, der Zusammenhalt der Gruppe, gleicht in dieser Geschichte diesen Grundkonflikt zwischen Legalität und Legitimität, zwischen den Forderungen der shōgunalen Ordnung einerseits und dem Ehrgefühl der 47 Samurai andererseits, aus. Der Erfolg der Geschichte liegt deshalb weniger in der bis in den Tod reichenden Gefolgstreue der Vasallen, sondern darin, dass sie, wie es der Literaturhistoriker Katō Shūichi einmal treffend formulierte, «das Gefühl der Solidarität und der Gruppenzugehörigkeit, kurz, die Grundstruktur der japanischen Gesellschaft in verdichteter Form ausdrückt» (Kato 1990: 363).
Die Geschichte der 47 herrenlosen Samurai nimmt auch aus historischer Sicht eine Schlüsselrolle ein, denn sie markiert in der Entwicklung des japanischen Kriegerstandes im Tokugawa-Staat einen Wendepunkt. Zeitlich fiel der Racheakt der rōnin in die Genroku-Ära (1688–1704). Sie gilt als eine Zeit der kulturellen Blüte, in der Bücher, Theaterstücke und die bildende Kunst, vor allem die Holzschnitte über die sogenannte «fließende Welt» (ukiyo-e) der prosperierenden Städte, ein breites bürgerliches Publikum erreichten, das sich gerne abends in den Vergnügungsvierteln von den Tagesgeschäften ablenken ließ. Es waren aber nicht nur Kaufleute und Handwerker, die sich an den reichhaltigen Angeboten der städtischen Kultur berauschten; auch die Samurai wussten bald die Annehmlichkeiten und Ausschweifungen bürgerlicher Lebenslust zu schätzen. Wirtschaftlich leisten konnten sie es sich damals schon nicht mehr. Aber die in der Genroku-Zeit relativ hohen und stabilen Reispreise kaschierten den Tatbestand, dass bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Samurai ihre Schulden bei den reichen Kaufleuten nicht mehr zurückzahlen konnten. Selbst an der politischen Spitze hatte der fünfte Tokugawa shōgun Tsunayoshi, dem seine die Tiere und insbesondere die Hunde begünstigenden Gesetze den unrühmlichen Namen «Hunde-shōgun» eintrugen, mit finanzpolitischen Tricks die Nöte der Regierung gelindert; zum normalen Kurs hatte er 1695 minderwertige Gold- und Silbermünzen prägen lassen und damit die Löcher in den öffentlichen Kassen vorübergehend gestopft. Die Genroku-Jahre waren deshalb für das Shōgunat und die Samurai eine ökonomische Verschnaufpause. Danach ging es wirtschaftlich nur noch bergab. Der Fall der Reispreise in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts und die damit verbundenen Einbußen der nach dem Reisertrag ihrer Lehen und Ämter bemessenen Stipendien beschleunigten den sozialen Niedergang des Kriegerstandes erheblich; denn viele Samurai konnten vom urbanen Luxus nicht mehr lassen und verschuldeten sich immer mehr. Dies war eine Entwicklung, die nicht nur auf Edo beschränkt war, sondern nahezu alle Provinzen und Burgstädte gleichermaßen erfasste. Staatlich verordnete Maßnahmen wie die Sistierung der Kredite brachten eine nur vorübergehende Erleichterung. Letztendlich verschärften sie die ökonomischen Probleme der Samurai eher, denn die Kaufleute waren nun nur noch zu verschärften Bedingungen bereit, ihr Geld Mitgliedern eines scheinbar marodierenden und deklassierten Standes zu leihen. In dieser Lage erschienen die 47 Samurai, die noch Werte wie Selbstbeschränkung und Pflichterfüllung symbolisierten, den Lesern und Zuschauern der Kabuki-Stücke in der Edo-Zeit als Helden einer verlorengegangenen Welt.
Die berühmte Geschichte weist uns darüber hinaus auf eine etymologische Problematik hin: All die, die außerhalb Japans gemeinhin mit dem Sammelbegriff «Samurai» bezeichnet werden, sind im strengen Sinne des Wortes oftmals keine samurai gewesen. Jene sind uns bislang in vielfältiger Gestalt begegnet: Erwähnung fanden der shōgun als Repräsentant der höchsten politischen Macht, die daimyō als seine höchsten Vasallen und «Regierungschefs» in den Provinzen, der karō als «Hausältester» und Stellvertreter eines daimyō, und schließlich die rōnin als herrenlose Krieger selbst. All diese Personen (und noch viele andere) werden in Japan eher als bushi denn als samurai bezeichnet. Erst in der späten Edo-Zeit begann sich der Begriff als Sammelbezeichnung für die Krieger durchzusetzen und wird dementsprechend bis heute im Westen (und deshalb auch in diesem Buch) in einem...
Erscheint lt. Verlag | 11.1.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte |
ISBN-10 | 3-406-80171-4 / 3406801714 |
ISBN-13 | 978-3-406-80171-6 / 9783406801716 |
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