Geschichte: Wissen – Sollen – Hoffen (eBook)

Untersuchung zu Kants Geschichtsphilosophie

(Autor)

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2023
216 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-115132-8 (ISBN)

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Geschichte: Wissen – Sollen – Hoffen - Christian Rusch
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Während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte die Geschichtsphilosophie in Deutschland ihre Blütezeit. Knapp zwanzig Jahre, nachdem Isaak Iselin als Erster mit seinem Werk Philosophische Mutmaßungen über die Geschichte der Menschheit (1764) die Fragen und Methoden aufgegriffen hatte, die Voltaire später in einem Begriff bündeln sollte, entwickelte Kant in Königsberg seinen epochemachenden Neuentwurf der Philosophie. Der Autor der drei Kritiken schreibt aber nicht nur zur Erkenntnistheorie und Moralphilosophie, sondern auch zur Diskussion um die philosophische Betrachtung des Phänomens Geschichte, am prononciertesten in seinem 1784 erschienenen Aufsatz Idee zu einer Geschichte in Weltbürgerlicher Absicht. Vorliegende Arbeit verortet die Geschichtsphilosophie Kants anhand der vier systematischen Fragen 'Was kann ich wissen?', 'Was soll ich tun?', 'Was darf ich hoffen?' und 'Was ist der Mensch?' und zeigt, wie sie sich stimmig als Teil des kritischen Projekts lesen lässt.



Christian Rusch, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg.

1 Geschichte als Wissenschaft im 18. Jahrhundert


Kant verfasste seine geschichtsphilosophischen Schriften zwischen 1756 und 1789. Während dieser Zeit hob in Frankreich eine Revolution an, die mit dem Untergang der Monarchie und dem Ausruf der Republik enden und das europäische Staatengefüge nachhaltig verändern sollte. Thomas Cook segelte mit Georg Forster von England nach Neuseeland, und Letzterer verfasste einen bis heute aufgelegten Bericht über diese Reise.34 In Preußen zog mit Friedrich II. der militaristisch aufgeklärte Rationalismus in Berlin ein, und das ehemalige Herzogtum am Rande des Heiligen Römischen Reichs stieg neben Frankreich, Österreich, England und dem Zarenreich Russland zu einer der fünf europäischen Großmächte auf, was erst der Ausgang des Ersten Weltkriegs revidierte. Kants Heimatstadt Königsberg war mit 55 000 Einwohnern, einem Drittel der Bevölkerung des damaligen Berlins und fast doppelt so vielen Einwohnern wie München, die Hauptstadt Ostpreußens. 1758 wurde es vom Zarenreich besetzt und 1763 wieder friedlich geräumt.

Dieses Kapitel soll veranschaulichen, was Kant während dieser Zeit vor Augen hatte, wenn er von einer „empirisch abgefaßten Historie“ (8: 30) spricht, und welche Faktoren hierfür bestimmend waren. So können die Konturen von Kants Denken über Geschichte deutlicher hervortreten als zum Beispiel vor dem Hintergrund der Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts. Dabei geht es nicht um den Beleg eines direkten Einflusses einzelner Schriften auf Kants Texte, sondern vielmehr darum, durch einen bisher weniger beachteten Kontext einen unverstellten Bezug zum Text zu ermöglichen. Anhand der hier verfolgten Fragestellung „Was hatte ein Gelehrter im späten 18. Jahrhundert vor Augen, wenn er von ‚Geschichte‘ sprach?“ soll neben inhaltlichen Bezügen Kants zudem die Auswahl der Textgrundlage der vorliegenden Arbeit transparenter werden.

Die folgende Darstellung der jungen Fachwissenschaft Geschichte orientiert sich in wissenschaftstheoretischer Hinsicht an der gegenwärtigen Forschungspraxis.35 Dabei dienen die von Jäger und Rüsen aufgestellten Kriterien der Überprüfbarkeit von Aussagen, des systematischen Erkenntnisfortschritts, des bewusst abgegrenzten Gegenstandsbereichs, der Institutionalisierung und damit zusammenhängend der Kanonisierung entsprechender Forschungsmethoden als Orientierungspunkte.36

Hierdurch werden unvermeidlich Aspekte in den Vordergrund treten, die für Zeitgenossen Kants und ihn selbst vielleicht weniger von Bedeutung waren, und andere, ehemals bedeutsame Elemente wiederum weniger Berücksichtigung erfahren. Diesen Anachronismus gilt es im Auge zu behalten.37 Er bedeutet aber kein prinzipielles Hindernis im Bestreben, einen neuen Zugang zu Kants geschichtsphilosophischen Werken herzustellen, sondern eröffnet vielmehr eine zeitgemäße Orientierungsmöglichkeit. Unter diesen Voraussetzungen sollen die Formierung des Forschungsbetriebs der Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert unter Berücksichtigung der geschichtswissenschaftlichen Forschungsmethodik (Unterkapitel 1.1), dessen Institutionalisierung an Akademien und Universitäten in Deutschland (Unterkapitel 1.2) sowie dessen Zielsetzung untersucht werden (Unterkapitel 1.3).

Die „Eroberung der geschichtlichen Welt“ – so notiert Ernst Cassirer38 1932 – sei die begriffliche Leistung der klassischen deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts und insbesondere der europäischen Aufklärungsphilosophie gewesen. Mit dieser Einschätzung wendet sich Cassirer gegen eine seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Tradition, die in der Aufklärungshistorie39 mehr eine Verwandtschaft zur Literatur als zur Wissenschaft sah.40 Srbik bringt die dahinterstehende abwertende Haltung 1950, gewissermaßen im Nachhall des historischen 19. Jahrhunderts, auf den Punkt:

Viele haften an der Oberfläche mit seichten Vernünfteleien, ohne sich in die Vergangenheit wirklich einfühlen und einleben zu können; sie blieben an dem abstrakten Menschenbild der vorhistorischen Zeit kleben und urteilten von dem konstruierten Ideal eines antireligiösen, vernunftvergottenden, auf seinen Fortschritt und die Höhe seiner Erkenntnis stolzen Zeitalters aus über das Gewesene, im Besonderen über die ‚Unwissenheit‘ und ‚Rohheit‘ des Mittelalters und den ‚Aberglauben‘ und ‚Fanatismus‘ der positiven Religion.41

Die These Kant und seine Zeitgenossen seien bestenfalls bornierte Vordenker gewesen, scheint unter Berücksichtigung der historiografischen Forschung der letzten Jahrzehnte kaum haltbar, zumal Kant selbst anmerkt: „Fast jedes Jahrhundert hat einen Stil, oder eine eigne Form“ (24: 171). Die Geschichtswissenschaft der Aufklärung ist zu einem eigenen Forschungsschwerpunkt geworden, wodurch eine umfassende Darstellung des Forschungsstands an dieser Stelle zu weit führen würde,42 weshalb hier nur ein knapper Einblick in die für das Ansuchen der vorliegenden Arbeit bedeutendsten Entwicklungen gegeben sei.

Rüsen diagnostiziert 1981, dass seit den 1960er Jahren das „Klischee, in dem Aufklärung gleichbedeutend war mit der Unfähigkeit zur historischen Bildung, einer tiefgreifenden Kritik unterzogen und der Versuch gemacht worden sei, der Aufklärung eine völlig neue und diesmal positive Rolle in der historischen Bildung zuzusprechen.“43 Davor waren, angefangen mit Cassirer, lediglich vereinzelt Stimmen in diese interpretatorische Richtung gegangen, unter ihnen Lamprecht (1896), Breysig (1901) oder Fueter (1911).

In den 1960er Jahren sind es dann vor allem die Arbeiten von Kraus (1963, 1973), die eine Re-Fokussierung und ein Umdenken anstoßen. Knapp zehn Jahre später beginnen Koselleck, Lutz und Rüsen mit der Herausgabe des sechsbändigen Werks Theorie und Geschichte (1977 – 1990), das vor allem im vierten Band Formen der Geschichtsschreibung historiografiegeschichtlich neue Impulse setzt. Im Anschluss hieran treten Forscher wie Bödeker (1986), Iggers (1997) und Reill (1994) mit Einzelarbeiten zur Aufklärungshistorie hervor.

In der Folgezeit stammen die wichtigsten Arbeiten zur Historiografiegeschichte von Blanke (1994a, 1994b), Blanke und Rüsen (1984) sowie Blanke und Fleischer (1991), jüngere Arbeiten zu diesem Thema von Gierl (2012), Borgtedt (2004) und Borowsky (2005). Allen gemein ist, trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen, der Versuch, einen Bezug zwischen der zeitgenössischen Geschichtsschreibung und derjenigen des 18. Jahrhunderts herzustellen und dabei Letztere in ihrer Komplexität und Eigenheit zu erfassen. Unterschiedliche Pole bilden einerseits Bödeker (1986), Vierhaus (1986), Iggers (1997) und Reill (1994), die eine Trennung zwischen Historismus und Aufklärungshistorie prinzipiell hinterfragen44 und den Begriff der ‚Akzentverschiebung‘ bevorzugen, und andererseits Muhlack (1986) und Blanke (1994, 1991), die in der Aufklärungshistorie eine eigene Epoche zwischen Humanismus und Historismus identifizieren.45

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in der Forschungsliteratur zumindest in einer Hinsicht Einigkeit besteht: Die Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts war vielfältiger, als für gewöhnlich angenommen wird. Ein Blick in den methodischen Handwerkskoffer der Historiker des 18. Jahrhunderts bestätigt dies.

1.1 Forschungspraxis


Am Beginn des Studiums der Geschichtswissenschaft stehen schon seit langem die Einführung in spezifische Fachmethoden, seien es Numismatik, Epigrafik, Sphragistik oder Heraldik, und die Einübung des philologisch-kritischen Umgangs mit Dokumenten.46 Ein Rückblick auf die methodischen Werkzeuge des 18. Jahrhunderts zeigt eine vielleicht unvermutete Vielfalt und ein entwickeltes methodisches Bewusstsein dieser Zeit – Kant selbst bemerkte in der Einleitung zur Logik: „Zum historischen Wissen gehört die Wissenschaft von den Werkzeugen der Gelehrsamkeit – die Philologie, die eine kritische Kenntniß der Bücher und Sprachen (Literatur und Linguistik) in sich faßt.“ (9: 45)

Johann Christoph Gatterer prägte 1761 in seinem Handbuch zur Universalgeschichte den Ausdruck „historische Hülfswissenschaften.“ Als Elemente der Philologie,47 der Kirchen-, der Rechts-48 und der Hofgeschichte waren diese Methoden teilweise jedoch schon lange vor dem 18. Jahrhundert bekannt.49 So ging es zum Beispiel den humanistischen Antiquaren im 17. Jahrhundert darum, möglichst ursprüngliche, echt antike und auch mittelalterliche Texte zu finden und zu beschaffen. Die Beurteilung der verwandten Quellen gründete dabei auf das Wissen (eruditio), die Erfahrung (experientia) und die Rechtschaffenheit (integritas) des Geschichtsschreibers.50 Die Tätigkeit eines Gelehrten grenzte sich schon damals bewusst von der rhetorisch-erzählenden Historie, der Historiografie, ab – seine Leitbegriffe waren „Belegbarkeit“ und „Wahrheit“ im Gegensatz zur „schönen Form“.

Herausragende Beispiele dieser neuen Art der Geschichtsschreibung waren Jean Mabillon (1632 – 1797), Jean Bolland (1596 – 1665) und Daniel Papenbroch...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2023
Reihe/Serie ISSN
ISSN
Kantstudien-Ergänzungshefte
Kantstudien-Ergänzungshefte
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Jurisprudence • Natural History • Naturgeschichte • reason • Rechtslehre • Regulative Prinzipien • Regulatory Principles • Vernunft
ISBN-10 3-11-115132-8 / 3111151328
ISBN-13 978-3-11-115132-8 / 9783111151328
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