Pragmatismus als Antiautoritarismus (eBook)

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2023 | 1. Auflage
454 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77424-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Pragmatismus als Antiautoritarismus - Richard Rorty
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Nachdem Richard Rorty Ende der 1970er Jahre die westlich-neuzeitliche Philosophie einer grundstürzenden Kritik unterzogen hatte, setzte er sich sogleich an die Spitze einer intellektuellen Bewegung, die unter dem Label »Neopragmatismus« auch außerhalb der Philosophie enorm einflussreich geworden ist. Über die Jahrzehnte hat Rorty seine Version des Pragmatismus ständig erweitert und verfeinert, unter anderem in legendären Vorlesungen an der Universität von Girona. Sie bilden das Kernstück dieses Buches, das nicht weniger bietet als die finale Version von Rortys Spätphilosophie.

In ihrem Zentrum steht der Begriff des Antiautoritarismus, den Rorty als Hauptimpuls seines Denkens ausweist. Es gibt keine Autorität, die vorgibt, was wahr und richtig ist. Es gibt nur uns und unsere Meinungen, Ideen und Traditionen. Gute Ideen erkennt man daran, dass sie zum Wohl aller beitragen. Und um festzustellen, worin dieses Wohl besteht, muss man sich mit dem, was andere meinen und wollen, beschäftigen und bereit sein, die eigenen Ansichten zu revidieren. Der Antiautoritarismus, wie Rorty ihn versteht, fängt bei jedem Einzelnen an. Seine Währung ist Vertrauen, sein Medium ist das Gespräch, sein Ziel ist Emanzipation. Das ist die politische Botschaft von Pragmatismus als Antiautoritarismus.



<p>Richard McKay Rorty (1931-2007) war einer der bedeutendsten Philosophen seiner Generation. Er wurde in der Tradition der analytischen Philosophie ausgebildet, wandte sich aber Stück für Stück von dieser ab und entwickelte eine einflussreiche Spielart des Pragmatismus.</p> <p>Rorty wird am 4. Oktober 1931 in New York City geboren und kommt früh mit im weitesten Sinne linken und progressiven Ideen in Berührung. Im Alter von 14 Jahren beginnt er ein Philosophiestudium in Chicago, 1956 promoviert er an der Yale University. Von 1958 bis 1961 ist Rorty Assistant Professor am Wellesley College, danach hat er bis 1982 eine Professur für analytische Philosophie an der Princeton University inne.</p> <p>1979 erscheint sein bekanntestes Werk, <em>Philosophy and the Mirror of Nature</em> (dt. <em>Der Spiegel der Natur</em>), in dem er zahlreiche klassische Fragen der Philosophie einer scharfen Kritik unterzieht; zugleich wendet er sich verstärkt kulturellen und politischen Fragen zu. Als Konsequenz dieser Kehrtwende verlässt Rorty 1982 Princeton und geht als Kenan Professor of the Humanities an die University of Virginia, ab 1998 schließlich lehrt er Vergleichende Literaturwissenschaft an der Stanford University. Am 8. Juni 2007 stirbt Richard Rorty in Palo Alto, Kalifornien.</p>

7Vollendung der Aufklärung
Vorwort von
Robert B. Brandom


Pragmatismus als Antiautoritarismus ist Richard Rortys seit langem fehlendes, letztes Buch.1 Diese erste englischsprachige Veröffentlichung ist ein epochemachendes Ereignis. Der hier vorgelegte Band wurde zehn Jahre vor Rortys Tod geschrieben und präsentiert die abschließende, reife Form und Sichtweise seines bahnbrechenden Pragmatismus. Außerdem kündigt er eine im Wesentlichen neue Phase der Entwicklung dieser Auffassung an. Im Mittelpunkt steht dabei das Bekenntnis zur Selbstbestimmung des Menschen. Als beseelender und orientierender Hauptimpuls des Pragmatismus wird nunmehr dessen Antiautoritarismus erkannt. Sein eigentliches Ziel ist unsere – in der Praxis wie in der Theorie vollzogene – Befreiung von der Unterwerfung unter eine außermenschliche Autorität. Der Pragmatismus zeigt uns den Weg zu jener Art von Freiheit, die darin besteht, dass die Menschen die vollständige rationale Verantwortung für ihre eigenen Taten und Behauptungen übernehmen.

Nach dieser Auffassung ist der Pragmatismus eine geistige Bewegung von weltgeschichtlicher Bedeutung. Nach Rortys Interpretation verfolgt der Pragmatismus kein geringeres Ziel als das einer zweiten Aufklärung: Er biete das, was nötig sei, um die in der frühen Neuzeit von der ersten Aufklärung übernommene Aufgabe in angemessener Form zum Abschluss zu bringen. Der Schlüssel zu der begrifflichen Arbeitsteilung, die sich Rorty zwischen den beiden historischen 8Phasen der Aufklärung ausmalt, ist der im Titel angesprochene »Antiautoritarismus« – eine theoretische und zugleich praktische Einstellung. Dabei handelt es sich um die in beiden Bereichen zu vollziehende Ablehnung der herkömmlichen Deutung von Autorität und Verantwortung im Sinne von Unterordnung und Gehorsam. Diese herkömmliche Deutung soll durch eine Auffassung des Urteilens und Handelns ersetzt werden, der zufolge sie Formen von Verantwortung übernehmen, die mit der entsprechenden Verpflichtung einhergehen, sie zu rechtfertigen und Gründe dafür anzuführen, die von den übrigen Mitwirkenden an der diskursiven Praxis bewertet werden können.

Nach Rortys Auffassung liegt die große Leistung der ursprünglichen Aufklärung im Bereich der Ethik. Ganz grob gesprochen, ersetzt sie im Rahmen unserer Deutung der Quelle und des Wesens unserer fundamentalsten Verpflichtungen das Geheiligte durch das Weltliche. Die Tradition, gegen die die Aufklärung reagiert und vor der sie zurückschreckt, hält normative Status der Autorität und der Verantwortung für unabhängig von den Einstellungen derjenigen, deren Status sie sind. Normen werden als etwas aufgefasst, was ontologisch durch die objektive Struktur der Dinge bestimmt wird, deren Inbegriff die scala naturae – die große Kette der Wesen – ist. Dabei handelt es sich um eine hierarchische ontologische Struktur der Überlegenheit und Unterordnung, in deren Rahmen den Herrschenden die Befehlsvollmacht und den Untergeordneten die Verantwortung zu gehorchen zukommt. (Diese Struktur bestimmt »meine Stellung und deren Pflichten«, um den Titel des Essays »My Station and Its Duties« von F. ‌H. Bradley zu zitieren.) Das ist eine naturgegebene Struktur, in der eine normative Bedeutung von vornherein angelegt ist. In ihrer späteren, christia9nisierten Form wird sie so aufgefasst, als sei sie durch eine übernatürliche Verfügung der höchsten und maßgeblichen Autorität – also Gott – instituiert worden. Daraus leitet sich das »Gottesgnadentum« her, das die verschiedenen Adelsränge durchläuft, um auf der untersten Stufe in die Berechtigung der Herrschaft des Menschen über die Tiere zu münden. Hier gibt es zwei Formen: Der einen zufolge werden die Normen vom Wesen der Dinge abgelesen, der anderen zufolge gilt auch das normativ signifikante Wesen als übernatürlich bestimmt. Beiden zufolge liegt die ultimative Quelle unserer Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen außerhalb unserer selbst in etwas Nichtmenschlichem: im sowieso – separat und unabhängig von unseren praktischen Aktivitäten und Einstellungen – gegebenen Sosein der Dinge. Unsere Aufgabe sei es, unsere Einstellungen und Praktiken diesen normativen Status der Überlegenheit und Unterordnung – der Autorität und der Verantwortung – anzupassen, im Hinblick auf die wir kein Mitspracherecht haben.

Sieht man die Dinge von dem pragmatistischen Standpunkt aus, der sich nach Rortys Auffassung in der Aufklärung ankündigt, sind sowohl die natürlichen als auch die übernatürlichen Lesarten dieses traditionellen Bildes in dem von Marx festgelegten Sinn des Wortes fetischistisch. Sie verdinglichen etwas, was eigentlich aus menschlichen Praktiken hervorgeht, und projizieren es in die nichtmenschliche – bloß natürliche oder übernatürliche – Welt. In seiner schönsten Blüte hingegen, also in den von Autoren wie Hobbes, Locke und Rousseau aufgestellten, vom Gesellschaftsvertrag ausgehenden Theorien der politischen Verpflichtung, fundiert das Aufklärungsdenken normative Status der Autorität und der Verantwortung stattdessen in menschlichen Einstellungen und Praktiken der Zustimmung, der Verhandlung 10und der Übereinstimmung. Indem Rorty diese Vermenschlichung der unser praktisches Tun lenkenden Normen als maßgebliche Erkenntnis der Aufklärung begreift, stimmt er der Darstellung zu, die Kant in seinem populären Aufsatz »Was ist Aufklärung?« gibt. Denn dort deutet Kant die Aufklärung als Verkünderin der Emanzipation und des Reifwerdens der Menschheit: Wir legen unser jugendliches Bedürfnis nach normativer Anleitung von außen und unsere Abhängigkeit von dieser Anleitung zugunsten der erwachsenen Würde ab, die darin liegt, dass wir selbst die Verantwortung für unsere ultimativen Verpflichtungen übernehmen.

Im Hintergrund dieser Auffassung der Aufklärungsbotschaft steht Kants Erklärung der positiven Freiheit, also der Freiheit zu etwas, beispielsweise zu tun, was man sonst nicht tun könnte – im Gegensatz zu der negativen Freiheit, die in der Freiheit von einem Zwang besteht. Kant begreift Freiheit als Autonomie: die Befugnis, uns selbst (autos) durch Normen (nomos) zu binden, Verpflichtungen anzuerkennen und einzugehen, uns selbst verantwortlich zu machen, indem wir uns selbst als verantwortlich auffassen. Der resultierende Zwang der Verpflichtungen lässt sich gerade insofern als spezifisch normativer Zwang (im Gegensatz zu dem faktischen Zwang der Nötigung durch größere Macht) verstehen, als er das Resultat einer Selbstbindung ist. Diese Vorstellung verschärft, was Kant aus Rousseaus Diktum gelernt hat: »Der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit.«2 Denn Kant verwandelt Rousseaus Definition der Freiheit in ein Kriterium zur Abgrenzung des im eigentlichen Sinn Normativen. Indem er die Normativität durch Bezugnahme auf Autonomie – eine charakteristische Form der positiven Freiheit – analysiert, geht Kant entschieden über das herkömmliche, auf Unterordnung und Gehorsam abhebende Verständnis 11von Normativität hinaus. Hier verschafft sich der zentrale Ansporn der Aufklärung in besonders expliziter Form bewusst Ausdruck. Diese Artikulierung des engen und unausweichlichen Zusammenhangs zwischen Freiheit und wirklich normativer Bindung verbürgt einen spezifischen, liberalen und demokratischen Zugang zur Politik. Dieser zeigt sich als Träger eines impliziten telos, dem zufolge jeder, der durch ein Gesetz gebunden wird, bei der Einführung dieses Gesetzes mitreden können sollte. Hierbei handelt es sich insofern um das Ideal des allgemeinen Wahlrechts, als allen, die durch Gesetze gebunden (ihnen gegenüber verantwortlich) sind, die Befugnis erteilt wird, sie, die Gesetze, zu machen.

Die erbauliche Lektion, die die Aufklärung aus Rortys Sicht lehrt, besagt, dass Gottesfurcht und Loyalität zur göttlichen Autorität im Bereich der Ethik durch menschliche Freiheit, Selbstverantwortung und Solidarität und im Bereich der Politik durch soziale Bindung und Beteiligung an liberalen politischen Praktiken und Institutionen ersetzt werden sollen. Unsere Praktiken sind die eigentliche Quelle unserer Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten; und diese Praktiken sollten dahingehend verstanden werden, dass sie keine Autorität...

Erscheint lt. Verlag 13.2.2023
Übersetzer Joachim Schulte
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte aktuelles Buch • Autoritarismus • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • Brandom • buch bestseller • bücher neuerscheinungen • Neuerscheinungen • neues Buch • Politische Philosophie • Pragmatism as Anti-Authoritarianism deutsch • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste
ISBN-10 3-518-77424-7 / 3518774247
ISBN-13 978-3-518-77424-3 / 9783518774243
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