Eroberte im Mittelalter (eBook)
518 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-074003-5 (ISBN)
Die Beschäftigung mit historischen Umbruchs- und Transformationsphasen bleibt für die Mediävistik ein zentrales Thema. Doch trotz der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aktualität von Eroberungen als konstantes Phänomen der mittelalterlichen Geschichte wurde die Perspektive der Eroberten dabei bislang kaum systematisch erforscht. Eroberte waren und sind jedoch nicht lediglich passive Opfer, sondern entscheidungsfähige Akteur*innen, die die neu geschaffene Situation bewusst und gezielt zu ihren Gunsten zu beeinflussen wussten und aktiv mitgestalteten. Damit ist die Wahrnehmung der Eroberten für das Verständnis und die Aushandlung von Eroberung konstitutiv: Erst durch den Einbezug ihrer Perspektive lässt sich das Phänomen Eroberung als multiperspektivisches Konstrukt fassbar machen und erforschen.
In einem breiten chronologischen und geographischen Zugriff rückt der Sammelband das Erleben, die Bewältigungsstrategien und die agency der Eroberten im Austausch mit ihren (vermeintlichen) Eroberern in den Mittelpunkt. Dabei erweist sich Eroberung als instabiles und transformatives Konstrukt, das kontinuierlich ausgehandelt werden muss und einer beständigen Anpassung unterliegt.
Rike Szill und Andreas Bihrer, Universität Kiel.
Eroberte im Mittelalter
Aspekte einer Geschichte historischer Umbruchssituationen ‚von unten‘
Abstract
Historical phases of upheaval and transformation continue to be a fruitful topic, also with regard to the Middle Ages: That established terms such as ‚conquest‘ and ‚fall‘ or ‚victory‘ and ‚defeat‘ are considered diametrically opposed seems, in this context, all too understandable. After all, they are what makes such a complex phenomenon describable. However, dichotomising conquest also invites the rather hasty conclusion that contemporaries actually distinguished the actors involved from each other by both categorising them as conquerors and conquered and assigning fixed patterns of interpretation to them. Based on this assumption, this paper discusses aspects on being conquered in the Middle Ages, thereby giving a programmatic introduction to the contributions of the conference volume.
1 Ein Spiel der Narrative: Eroberungserzählungen
Die Beschäftigung mit historischen Umbruchs- und Transformationsphasen hat nach wie vor Konjunktur: Dieser Befund lässt sich nicht nur an der aktuellen Forschungslandschaft ablesen, in welcher die Erforschung des Niedergangs großer Städte, Völker und Reiche seit jeher zum festen Untersuchungsrepertoire gehören.1 Auch in der Populärkultur liegen allein zum Mittelalter als ‚Zeitalter der Eroberungen‘ zahlreiche Adaptionen in unterschiedlichster medialer Form vor.2 Bekanntermaßen produzieren solche Mediaevalismen darin indes ihr eigenes – historisch meist blasses, gerade in dieser Reduktion aber so einprägsames – Mittelalter, das als verzerrtes Echo vornehmlich moderne Interpretationen und Rezeptionen perpetuiert.3
Dieser Umstand tritt nicht nur in Filmen und Computerspielen, sondern auch in vergleichsweise wenig erforschten modernen Brett- und Kartenspielen deutlich hervor:4 Ihr bekannter Vertreter und „blockbuster title“5 ‚Dominion‘, der bereits ein Jahr nach seiner Erstveröffentlichung mit dem prestigeträchtigen Titel ‚Spiel des Jahres‘ ausgezeichnet wurde und seitdem 15 Erweiterungen, fünf Neuauflagen und vier Sondersets erhalten hat,6 erhebt das Erleben von Eroberung etwa zu einem, wenn nicht gar zu dem wesentlichen Spielgegenstand:
Du bist ein Monarch, genau wie deine Eltern zuvor – Regent eines netten kleinen Königreiches mit Flüssen und immergrünen Ländereien. Doch anders als deine Vorfahren hast du Hoffnungen und Visionen. Du willst mehr! Mehr Flüsse, mehr immergrüne Ländereien. Du willst ein Imperium, dein Dominion! In allen Himmelsrichtungen liegen kleine Herzogtümer und Lehen, deren Herrscher nur darauf warten, dass du sie unter deinem Banner vereinst.7
Bei genauerem Hinsehen wird in der Aussicht auf das Gewinnen und Siegen der Fokus jedoch auf ein einseitiges Erleben von Eroberungen verschoben. Dies mag angesichts des Spielprinzips wenig verwundern, erklärt dieses das Erobern von Ländereien doch zum expliziten Handlungsziel8 – und ganz ohnehin zielen viele Gesellschaftsspiele auf eine Gewinnsituation ab, in der es darum geht, von etwas am meisten zu haben. Geradezu paradigmatisch spiegelt sich dieser Aspekt schließlich im Titel des Spiels wider, lässt ‚Dominion‘ sich doch im Deutschen am sinnfälligsten mit ‚Herrschaft‘ oder ‚Herrschaftsgebiet‘ übersetzen.
Aus dieser Gemengelage resultiert für die Repräsentation von Eroberungen im Mittelalter in ‚Dominion‘ indes eine tiefergreifende Problematik, mit der es sich auseinanderzusetzen gilt: Denn indem die Vermittlung des Mittelalters auf eine gewaltsame Durchsetzung territorialer Ambitionen reduziert wird, wirken Eroberung und Kriegsführung dort als letztlich positive Kräfte zur Schaffung und Umwälzung sozialer Ordnungen ohne weiterführende Konsequenzen. Dadurch forciert und reproduziert ‚Dominion‘ jedoch nicht nur gängige allgemeine Vorstellungen von Eroberungen im Mittelalter,9 sondern auch Erfolgsgeschichten und Elitediskurse, da es seine Teilnehmer✶innen ausschließlich in die Rolle von Monarchen – und damit weitestgehend männlichen Akteuren – versetzt, die ihre Herrschaft ausbauen wollen.
Doch obwohl damit ein Aspekt mittelalterlichen Eroberns – das Erringen politischer Macht über neu gewonnene Territorien – zweifelsohne das zentrale Thema von ‚Dominion‘ darstellt, leistet es nicht mehr: In ‚Dominion‘ leben das Mittelalter wie auch das Erobern von Spielmechanismen mit allenfalls vage ‚mittelalterlich‘ klingenden Namen, Stereotypen und Aktionen,10 die nicht nur ein vornehmlich westlich-europäisches Mittelalter,11 sondern häufig eine ‚Epoche großer Männer‘ verkörpern und erlebbar machen.12 Bleibt in solch binären Konstruktionen – trotz entsprechender Bemühungen in Artwork, jüngeren Erweiterungssets und Neuauflagen13 – kaum Platz für die Repräsentation von diverseren Gesellschaften und Vergesellschaftungsprozessen, mag ‚Dominion‘ letztlich nur wenig zu einem umfassenderen Verständnis über die politischen, kulturellen und sozialen Praktiken von Eroberungen im Mittelalter beitragen. Warum steht es also am Beginn eines Sammelbandes, der sich spezifisch mit Eroberten im Mittelalter beschäftigen will?
Bekanntermaßen lassen sich etablierte Sichtweisen auf konventionelle „Meistererzählungen vom Mittelalter“14 gerade mit Zeugnissen problematisieren, die sie selbst hervorbringen.15 So lässt sich in ‚Dominion‘ nebst den skizzierten Narrativen, Vorstellungen und Mechanismen auch ein Changieren zwischen den Räumen des Eroberns und Erobert-Werdens greifen. In der Spielebeschreibung zur ‚Dark Ages‘-Erweiterung wird dazu etwa eine anonyme Schreibinstanz fingiert, die ihre Eroberungserfahrungen wie folgt beschreibt:
Hart waren die Zeiten. Letztens erst bist du aus deiner Burg in eine nett eingerichtete Schlucht gezogen, um Geld zu sparen. Aber die alte verfallene Burg war sowieso nicht mehr so richtig nach deinem Geschmack. Ständig kamen die Plünderer – und das auch noch zu den unpassendsten Zeiten. (…) Die neue Schlucht aber, ja, die ist großartig. Man bekommt genügend frische Luft und kann seinen Müll hinwerfen, wo man will. (…) Naja, so ist das Leben aber wohl manchmal. Am besten machst du einfach weiter wie immer – eroberst in aller Stille ein paar Dörfer und hältst dich an den Ruinen deiner Burg fest, bis der Sturm vorübergezogen ist.16
Das deutlich präsente Credo, das Beste aus der aktuellen Situation machen zu wollen, steht dabei in deutlichem Kontrast zur bezeugten Lebenssituation: Krisenbehafteter könnten diese „harten Zeiten“ kaum sein, in denen ohne Obdach und Geld immer wieder feindliche Angriffe gedroht hätten. Trotz der offensichtlich prekären Lage scheint der alten Behausung indes nicht sonderlich nachgetrauert zu werden. Im Gegenteil: Infolge des Ortswechsels seien vorerst keine weiteren Angriffe zu befürchten, auch der neuen Bleibe kann etwas Positives abgewonnen und zur Existenzsicherung schon ein erster, wenn auch ausbaufähiger Plan hervorgebracht werden. Allen Widrigkeiten zum Trotz versteht sich ‚Dominion‘-Anonymus damit selbst überhaupt nicht als unterlegen oder erobert.
Bei aller Sachbezogenheit zeichnet damit ausgerechnet die ‚Dark Ages‘-Erweiterung, die ob ihres bloßen Titels genug Mittelalterassoziationen hervorrufen mag, mit ihren optimistisch, ironisch wie zynisch interpretierbaren Einwürfen ein doch sehr positives Bild von Eroberungen, bei dem die kulturellen und sozialen Folgen von Umbruchssituationen trotz ihrer expliziten Darstellung in den Hintergrund treten: Denn so konkret die fingierte Schreibinstanz ihre von Obdachlosigkeit, Unsicherheit und finanzieller Not geprägte Lebenslage auch schildern mag, wird diese doch erst in einem zweiten Schritt mit lösungsorientierten Sinnstiftungen verknüpft. Eroberungsgewalten erscheinen dagegen von Vornherein als bloße Begrifflichkeiten, die einen Aggressor als „Plünderer“ zwar mehr oder minder namentlich benennen, damit jedoch nur indirekt auf die Konsequenzen kriegerischer Auseinandersetzungen und die Tragweite sozialer Umbrüche verweisen. Stattdessen werden in den Kartensets von ‚Dominion‘ Erfahrungen von Verlust und Niederlage – mit Ausnahme einiger weniger Aktionskarten17 wie zum Beispiel einem äußerst erschrocken illustrierten ‚Flüchtling‘ – ausschließlich durch entpersonalisierte Nominalausdrücke wie ‚Zerstörung‘, ‚Vertreibung‘ und ‚Verfolgung‘ oder in Form von Ruinenkarten bereits als etwas Defizitäres präsentiert, das die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen des Erobert-Werdens zwar recht plakativ auf zerstörte Dörfer, Bibliotheken, Märkte und verlassene Minen verdichtet. Den ‚Überlebenden‘, die im ‚Dark Ages‘-Set bezeichnenderweise selbst eine Ruinenkarte darstellen und zu denen ‚Dominion‘-Anonymus dadurch ebenfalls gezählt werden kann, wird als Spieleigenschaft dagegen nur eine...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2023 |
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Reihe/Serie | Europa im Mittelalter |
Europa im Mittelalter | |
ISSN | ISSN |
Zusatzinfo | 8 b/w ill. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Mittelalter |
Schlagworte | ConQuest • Eroberung • Europa • Europe • Middle Ages • Mittelalter |
ISBN-10 | 3-11-074003-6 / 3110740036 |
ISBN-13 | 978-3-11-074003-5 / 9783110740035 |
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