Autismus beziehungsorientiert behandeln (eBook)

Handbuch zur DIRFloortime-Methode
eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
319 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61723-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Autismus beziehungsorientiert behandeln -  Sibylle Janert,  André Zirnsak,  Ilaria Acerbi,  Stephanie Hohndorf
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Wie kann man Kinder mit autistischen oder autistisch-ähnlichen Verhaltensweisen in ihrer Entwicklung fördern? Der Antwort auf diese Frage hat sich der sog. DIRFloortime-Ansatz verschrieben, eine Spieltherapie, die mit positiver Emotionalität und einfachen interaktiven Spieleinheiten arbeitet. Im Spiel folgt die erwachsene Person den natürlichen emotionalen Interessen des Kindes und fordert es dabei heraus, mit ihr in Beziehung zu treten. Dabei lernt das Kind, zunehmend seine sozialen, emotionalen und intellektuellen Fähigkeiten zu nutzen und sich vom sensomotorischen hin zum symbolischen Denken zu entwickeln. Das Buch führt in die Entwicklungskonzepte des Ansatzes und Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit ein. Für die praktische und passgenaue Umsetzung werden viele Spielideen und Kniffe für jegliche Entwicklungskapazitäten des Kindes vorgestellt.

Sibylle Janert, Ruhpolding, Psychologin mit Fortbildung an der Tavistock Clinic, London und als DIRFloortime-Expert Trainerin, ist in eigener Praxis als Coach mit autistischen Kindern und ihren Familien tätig sowie in der Fortbildung im deutsch- und englischsprachigen Raum.André Zirnsak, Dipl.-Heilpäd. (FH), ist in eigener Praxis in Berlin als Spieltherapeut, Supervisor und Coach mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit autistischen Kindern und ihren Familien sowie in der Fortbildung tätig.Stephanie Hohndorf, Dipl.-Psych., Systemische (Kinder-und Jugendlichen-)Therapeutin (SG), ist am Autismus Institut Lübeck tätig.Ilaria Acerbi, Heilpädagogin M.A., Berlin, arbeitet mit Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum.

Sibylle Janert, Ruhpolding, Psychologin mit Fortbildung an der Tavistock Clinic, London und als DIRFloortime-Expert Trainerin, ist in eigener Praxis als Coach mit autistischen Kindern und ihren Familien tätig sowie in der Fortbildung im deutsch- und englischsprachigen Raum.André Zirnsak, Dipl.-Heilpäd. (FH), ist in eigener Praxis in Berlin als Spieltherapeut, Supervisor und Coach mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit autistischen Kindern und ihren Familien sowie in der Fortbildung tätig.Stephanie Hohndorf, Dipl.-Psych., Systemische (Kinder-und Jugendlichen-)Therapeutin (SG), ist am Autismus Institut Lübeck tätig.Ilaria Acerbi, Heilpädagogin M.A., Berlin, arbeitet mit Kindern und Jugendlichen im Autismus-Spektrum.

1Individuelle Entwicklungswege Autistisch-ähnliche und autistische Verhaltensweisen beziehungsorientiert sehen

Sibylle Janert

Wenn ein Kind sich nicht wie erwartet entwickelt, entsteht manchmal der Eindruck, als gäbe es nur einen einzigen „richtigen“ Weg, von dem man unter keinen Umständen abkommen darf. Ein Kind, dessen Entwicklung mit ungewöhnlichem oder auffälligem Verhalten von diesem vorgegebenen Weg abweicht, ruft besonders bei den Eltern große Besorgnis und viele Ängste hervor. Die Suche nach einer Diagnose für die beobachtete Verhaltensauffälligkeit entspringt immer auch der Hoffnung, wieder einen klar vorgegebenen Weg zu finden. Aber autistisch-ähnlich muss nicht unbedingt Autismus bedeuten und in Wirklichkeit führen bekanntlich viele Wege nach Rom, beziehungsweise zu einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung.

Es gibt nicht nur DEN Entwicklungsweg. In Wirklichkeit gibt es unzählige individuelle Entwicklungswege. Und so stellt sich uns die Frage, wie wir ein Kind auf seinem eigenen individuellen Entwicklungsweg bestmöglich unterstützen können. Ich erlebe immer wieder, wenn sich Eltern wegen autistisch-ähnlicher Verhaltensweisen an mich wenden, wie leicht es in unserer heutigen elektronischen Welt manchmal ist, aus dem Auge zu verlieren, dass die Entwicklung eines Kindes nicht ein automatischer Prozess ist, der sich wie ein Computerprogramm bei der Geburt einfach herunterlädt und von da an selbsttätig abläuft, ohne dass man sich viel darum kümmern oder darüber nachdenken müsste.

„Er schaut mich nicht an und kommt nicht, wenn ich ihn rufe: hat er Autismus?“ ist eine angstvolle Frage, die ich zunehmend häufig von Eltern von Babys und Kleinkindern höre. Einzelne Aspekte oder Verhaltensweisen eines Kindes mögen eine Mutter oder Kindergärtnerin an Listen autistischer Verhaltensweisen denken lassen. Aber nicht jedes Kind, das gerne seine Autos aneinanderreiht, manchmal mit den Händen flattert, ungern kommt, wenn gerufen, ist wirklich autistisch oder „hat Autismus“. Die meisten Menschen reihen ihre Schuhe und Bücher nebeneinander auf, und bei Autos ist das Hintereinanderparken auf der Straße gesetzlich vorgeschrieben. Solche Verhaltensweisen eines Kindes können alle möglichen Gründe haben. Deshalb bevorzuge ich das Wort „autistisch-ähnlich“ und benutze es als nichtwertende Beschreibung wie ein Adjektiv, und ohne es in Anführungszeichen zu setzen. Denn wenn wir autistisch-ähnliche Verhaltensweisen beziehungsorientiert betrachten, und sozusagen hinter die Kulissen schauen, dann werden wir gewahr, wie viel mehr sich dahinter verbirgt, unserer interessierten Aufmerksamkeit bedarf und sich mit einfühlsamer Unterstützung ändern und entwickeln kann. Denn menschliche Entwicklung und Beziehung beeinflussen und bedingen einander (Kap. 5).

1.1Autismus oder autistisch-ähnlich? Oder was ist los?

Rahuls Mutter kontaktierte mich besorgt, weil Rahul mit 3 ½ Jahren immer noch nicht sprach, im Kindergarten lieber alleine spielte und keinen Blickkontakt aufnahm. Als der Kindergarten ihr eine Diagnoseabklärung in Bezug auf Autismus vorschlug, war sie verunsichert.

1.1.1Worte sagen oder miteinander sprechen?

Das erste Mal traf ich Rahul auf einem kleinen Spielplatz. Er war 3 ½ und schien die Welt mit großen Augen zu beobachten, während er schweigend um die Rutsche lief, um wieder hinaufzuklettern und dann herunterzurutschen. Seine Mutter folgte ihm auf dem Fuß, zählte laut die Stufen 1 – 2 – 3 – 4 …, benannte Farben, gab Anweisungen, stellte Fragen, sagte „Auf die Plätze – fertig – los!“ Rahul hörte es entweder nicht. Oder er ignorierte es. Sie versuchte ihn in ein Spiel einzuladen, indem sie einen großen bunten Ball die Rutsche herunterrollen ließ, den er fangen sollte. Rahul nahm den Ball und lief damit weg ohne sich umzusehen. Seine Mutter lief ihm nach und machte mit aufgeregter Stimme neue Vorschläge. Er solle ihr den Ball zuwerfen, ihn die Rutsche runterrollen lassen, zur Schaukel oder zum Klettergerüst kommen. Sie gab sich solche Mühe. Aber sie bekam keine Reaktion.

Später saßen wir am Tisch und spielten mit Duplo. Rahul war ganz bei der Sache und setzte konzentriert Duplosteine aufeinander, hängte die Wagen ein, gab nicht auf, wenn etwas nicht gleich funktionierte. Schweigend. Seine Mutter redete ununterbrochen auf ihn ein und stellte eine Frage nach der anderen, die meistens mit seinem Namen begannen. „Rahul, welche Farbe ist das?“ – „Rahul, was ist das?“ – „Rahul, was baust du / was suchst du / was brauchst du …?“ Hin und wieder antwortete Rahul „Rot“ oder „Ein Stern!“ und fing dann an die Melodie von „Weißt du, wie viel Sternlein stehen“ zu singen. Ich war beeindruckt. Er wusste also, was ein Stern ist, kannte nicht nur die Farben, sondern er konnte ganz offensichtlich auch hören, und sprechen, sich Melodien merken und singen. Aber eigentlich schien es, als sei er alleine mit seinem Bauvorhaben beschäftigt, unbeirrt von der ständigen Beschallung durch die eindringliche Stimme seiner Mutter.

Schließlich sagte ich zur Mutter „Mir fällt auf, dass Sie ununterbrochen reden.“ Es war, als versuche sie Rahul mit ihren Worten zu füllen, während Rahul anderweitig und alleine mit seinem Projekt beschäftigt war, – fast wie in einer Art Parallelspiel. Mir schien, als sähe sie Rahul nicht als den einzigartigen kleinen Menschen voller Potenzial, sondern als sei sie gefangen in ihrer Idee „Ich muss Worte kriegen! Koste es, was es wolle! Wenn ich keine Worte aus ihm herausbekomme, dann habe ich es mit Autismus zu tun.“ Aber mit ihrer Idee von Autismus als Schreckgespenst vor Augen verschwand sie in ihrer Angst, verlor Rahul emotional aus dem Blick, und er fühlte sich allein und verlassen und zog sich zurück. Auch sie fühlte sich hilflos und alleine, und bemühte sich deshalb um so mehr. Ein Teufelskreis.

„Ja“ sagte sie „alle haben mir gesagt, ich solle so viel wie möglich mit ihm sprechen. Der Kindergarten. Der Kinderarzt. Die Arzthelferin. Meine Freundin. Chatgruppen im Internet.“ – „Ah“, meinte ich verwundert. „Aber mit Sprechen meinen Sie doch eigentlich ein Gespräch? Sie wollen doch eigentlich MIT ihm sprechen. Er ist ja kein Computer, den man mit Wörtern programmieren kann. Und ein Gespräch ist nur möglich, wenn man Pausen macht, um zuzuhören und den anderen sprechen, antworten oder reagieren zu lassen. Ich kann Ihnen meine Beobachtungen und Gedanken jetzt gerade doch nur sagen, weil Sie im Moment nicht selbst reden, sondern zuhören und Platz in Ihrem Inneren für mich und meine Ideen gemacht haben. Wirkliches sprechen können beinhaltet, dass man dem anderen mit Interesse zuhört und in sich aufnimmt, was er meint oder meinen könnte. Nicht nur, was er mit Worten sagt.“ Rahuls Mutter sah mich nachdenklich an. Ihr Gesicht und Körper schienen sich zu entspannen.

„Was Sie suchen, ist doch in Wirklichkeit ein Dialog, ein gemeinsames miteinander sprechen, das hin und her geht. Deshalb stellen Sie auch so viele Fragen. Sie wollen Ihr Kind so unbedingt erreichen, und ihm helfen. Und das ist wunderbar. Aber es ist ein Irrtum zu meinen, dass Sprechen nur aus Wörtern besteht. Tatsächlich machen Wörter nur ca. 7 % unserer Kommunikation aus!“ Rahuls Mutter sah mich ungläubig an. „Ja, sogar unser Gespräch jetzt gerade, besteht hauptsächlich aus nonverbaler Kommunikation und gestischer Sprache. Natürlich sind Wörter wichtig. Sonst könnte ich Ihnen meine Gedanken und Beobachtungen gerade ja nicht mitteilen. Aber hinzu kommen meine Stimme, mein Tonfall, mein Gesichtsausdruck, meine Körperhaltung, mein Interesse, mein Zuhören und Beobachten und mich Einfühlen in das, was für Sie und für Rahul innerlich und emotional abläuft. Dies hilft mir zu verstehen, z. B. wie sehr Sie sich bemühen, Rahul zu erreichen, wie entschlossen Sie sind, ihm zu helfen und ihm Ihre Worte zu geben, – koste es, was es wolle.“ Ich fuhr fort: „Ja, und ich verstehe, was Sie meinen mit ihrer Sorge von wegen Autismus und ich stimme Ihnen zu, dass es ‚autistisch-ähnlich‘ aussieht: Er nimmt wenig Blickkontakt auf, reagiert oft nicht, nimmt selten selbst Beziehung zu Ihnen auf, macht gerne ‚sein eigenes Ding‘ und spricht nicht, außer ein paar Wörter. Das mag autistisch, beziehungsweise autistisch-ähnlich, aussehen – kann aber vieles bedeuten und alle möglichen Gründe haben.“

1.1.2Autistisch-ähnlich muss nicht unbedingt Autismus bedeuten

Autistisch-ähnliche Verhaltensweisen müssen nicht unbedingt bedeuten, dass das Kind „Autismus hat“ oder dass eine Abklärung bezüglich einer Autismus-Diagnose Erleichterung bringen würde. Wonach Eltern in dieser...

Erscheint lt. Verlag 16.1.2023
Zusatzinfo 32 Abb. 10 Tab.
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte ADOS-Test • Affekt-Diathese-Theorie • Asperger-Syndrom • Autismus • Beobachtungsbogen • DIRFLOORTIME • Entwicklungsstörung • Handbuch • Sensomotorik • Sozialverhalten • Spieltherapie • Verhaltensauffälligkeit
ISBN-10 3-497-61723-7 / 3497617237
ISBN-13 978-3-497-61723-4 / 9783497617234
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