Montaigne (eBook)

Philosophie in Zeiten des Krieges
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
330 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-79742-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Montaigne -  Volker Reinhardt
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Sich immer eine Hintertür offen halten, nie alles von sich preisgeben, die Dinge plötzlich von ganz anderer Seite betrachten: Volker Reinhardt erzählt das Leben des philosophischen Virtuosen Montaigne konsequent in seinem historischen Kontext, der Zeit der Bürgerkriege in Frankreich. So erhält der Parlamentsrat, Romreisende, Bürgermeister von Bordeaux und Kammeredelmann scharfe Konturen, und wir können den Philosophen in seinem Schlossturm, der mit souveräner Distanz auf sich und die Welt blickt, besser verstehen. Schloss Montaigne, auf dem Höhepunkt der Bürgerkriege: Es klopft. Ein Mann wurde überfallen und begehrt eilig Einlass. Nach und nach treffen seine Begleiter ein. Montaigne schöpft Verdacht: ein trickreicher Überfall! Doch er lässt alle gastfreundlich ein. Die Naivität des Schlossherrn erweicht schließlich den Anführer, der das Signal zum Abzug gibt. Der Krieg zwingt zu unkonventionellen Überlebensstrategien. Montaigne empfiehlt mit dieser Episode 'Natürlichkeit' im Verhalten und zugleich kluge Verstellung. Das ist auch die Strategie seiner Essays: Ob er über Freundschaft und Ehe, gute Gespräche und Erziehung oder über seine Krankheiten, Spleens und Obsessionen schreibt, immer wirkt er ganz arglos und spielt doch mit seinen Lesern. Bisher wurde die Biographie Montaignes meist aus seinen verführerisch authentisch klingenden Schriften abgeleitet. Volker Reinhardt geht den umgekehrten Weg und macht von Montaignes Leben aus die Essays neu verständlich: als eine Überlebensphilosophie in Zeiten der Gewalt, die uns bis heute direkt anspricht.

Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte an der Universität Fribourg. Für sein Lebenswerk wurde er 2020 mit dem Preis der Kythera-Kulturstiftung ausgezeichnet.

EINLEITUNG

Schreiben gegen die Gewalt


Michel de Montaigne (1533–1592) schrieb seine Essais ab 1571 in Zeiten des Bürgerkriegs. Ab 1562 kämpften in Frankreich Katholiken und Calvinisten im Namen der Religion um Macht und Einfluss, mit wechselnden Bündnissen, Frontstellungen und Erfolgen, aber stets mit einem Hass und einer Gewalt, die alle Schichten der Bevölkerung verrohen ließ und vor allem im Süden des Königreichs mit Ausbrüchen beispielloser Brutalität verbunden war, nicht nur in «regulären» Schlachten, sondern auch im Alltag, zwischen verfeindeten Dörfern und Familien. Die davon ausgehende Bedrohung ist in Montaignes Werk allgegenwärtig; sie prägt das Lebensgefühl des Schreibenden und seinen Text – jeder Tag am Schreibtisch in seiner Bibliothek konnte der letzte sein. Schutz gegen die anbrandende Gewalt gab es nicht. Umso mehr waren Strategien des Überlebens gefragt. Das Schreiben gehörte dazu. Und eine freundliche Miene zum grausamen Spiel.

«Ich war unterwegs in einer eigentümlich unruhigen Gegend. Plötzlich stürzten, ehe ich es mich versah, drei oder vier Reitergruppen aus verschiedenen Richtungen auf mich zu, um mich gefangen zu nehmen. So wurde ich von fünfzehn oder zwanzig maskierten Edelleuten, denen eine Menge schwer bewaffnete Soldaten folgten, attackiert, festgenommen, in einen nahe gelegenen dichten Wald verschleppt, vom Pferd gerissen und ausgeplündert – meine Gepäckstücke wurden durchwühlt und meine Besitztümer einschließlich der Diener, Pferde und Ausrüstung an neue Besitzer verteilt.»[1] Danach wurde über Lösegeld verhandelt, allerdings ergebnislos, denn der Gefangene war zu keinem Zahlungsversprechen zu bewegen, obwohl er das Schlimmste befürchtete. «Aber dann kam es zu einer plötzlichen und völlig unerwarteten Veränderung: Der Chef der Bande kam mit freundlichen Worten zu mir zurück, ließ meine unter seine Leute zerstreuten Habseligkeiten zusammensammeln und mir zurückgeben, was sich noch auffinden ließ, darunter meine Papiere. Doch das beste Geschenk, das sie mir machten, war meine Freiheit, alles Übrige war kaum von Belang.»[2]

Warum diese plötzliche Wendung? «Der Chef, der seine Maske abnahm und sogar seinen Namen nannte, sagte mir mehrmals, dass ich meine Freilassung meinem Gesicht sowie der Offenheit und Festigkeit meiner Worte verdankte, die zeigten, dass ich ein solches Missgeschick nicht verdient hatte.»[3]

In Zeiten des Bürgerkrieges regierten Zufall und Willkür. So war es besser, von vornherein auf jegliche Gegenwehr zu verzichten: «Vielleicht dient die Leichtigkeit, zu meinem Haus Zutritt zu erlangen, zusammen mit anderen Mitteln dazu, es vor der Gewalt unserer Bürgerkriege zu schützen. Verteidigung zieht den Angriff auf sich, Angst erzeugt Aggression. Ich entkräfte die Pläne der Soldaten dadurch, dass ich ihre Taten des Kitzels des Risikos und jeder Gelegenheit beraube, militärischen Ruhm zu erwerben, was ihnen gewöhnlich als Vorwand und Begründung dient. In einer Zeit wie der unsrigen, in der die Gerechtigkeit abhandengekommen ist, gilt das, was mutig vollbracht wird, auch als ehrenhaft. Gemäß dieser Logik mache ich ihnen die Eroberung meines Hauses feige und heimtückisch, denn es ist niemandem verschlossen, der an seine Tür pocht. Als einzige Vorkehrung ist dort ein Portier im alten Stil platziert, der nicht zur Verteidigung dient, sondern nur dazu da ist, anständig und höflich Eintritt zu gewähren. Ansonsten habe ich außer den Sternen am Himmel keinen Wachtposten und keinen Leibwächter.»[4]

Jede Bande marodierender Söldner konnte das Schloss Montaignes also mühelos einnehmen. Kräfte der öffentlichen Ordnung gab es nicht mehr. Die Heere der rivalisierenden Parteien, auch die des Königs, verwüsteten und plünderten, wie und wo sie nur konnten, ob Freund oder Feind machte keinen Unterschied, ganz abgesehen davon, dass sich die Frontlinien andauernd verschoben. In dieser Situation, in der «jeder gegen jeden» kämpfte, war jeder auf sich allein gestellt.

«Ein gewisser Herr beschloss, mein Haus und mich zu überfallen. Sein Trick bestand darin, allein an der Pforte meines Hauses zu erscheinen und mit etwas zu viel Nachdruck Einlass zu begehren. Ich kannte ihn dem Namen nach und hatte Grund, ihm als einem Nachbarn und wohl auch Parteigänger zu trauen. Ich ließ ihm öffnen, wie ich es jedermann gewähre, und er trat mir ganz erschrocken, mit einem abgehetzten, atemlosen Pferd gegenüber und erzählte mir seine Geschichte: Eine halbe Meile von hier sei er auf einen Feind gestoßen – auch diesen kannte ich, und auch von ihrem Streit hatte ich gehört. Dieser Feind habe ihm mächtig zugesetzt, und da er im ungünstigsten Moment überrascht worden sei und weniger Leute mit sich habe, habe er sich an mein Tor gerettet. Aber er sei in großer Sorge wegen seiner Männer, die sicherlich tot oder gefangen seien. In meiner Gutgläubigkeit spendete ich ihm Trost, beruhigte ihn und ließ ihn Atem schöpfen. Kurz darauf erschienen vier oder fünf seiner Soldaten, die genau wie er abgerissen und erschrocken wirkten. Ihnen folgten immer mehr vom selben Schlag, bestens ausgerüstet und bis an die Zähne bewaffnet, schließlich zwanzig oder dreißig an der Zahl, alle angeblich auf der Flucht vor ihren Feinden. Diese seltsame Geschichte fing an, meinen Verdacht zu erregen, denn ich wusste wohl, in welchem Zeitalter ich lebte und wie viel Neid mein Haus auf sich zog, und hatte mehrere Fälle aus meiner Bekanntschaft vor Augen, denen es dabei übel ergangen war. Mir wurde also klar, dass ich weiterhin gute Miene zu diesem bösen Spiel machen und dieses zu Ende bringen musste; keinesfalls konnte ich es riskieren, mit dem Schein zu brechen. Und so entschied ich mich wie immer für die natürlichste und einfachste Lösung und ordnete an, sie alle einzulassen.»[5]

Sich zum Schein gutgläubig, ja naiv zu stellen, ist in einer Zeit, in der alle Masken tragen, die rettende Strategie: «Und so kamen sie zu Pferd in den Hof meines Schlosses. Ihr Anführer ging mit mir in den Saal; er hatte nicht gewollt, dass seine Pferde in meinen Stallungen versorgt wurden, mit der Begründung, dass er gleich wieder aufbrechen müsse, wenn er Neuigkeiten von seinen Leuten habe. So sah er sich am Ziel seines Unternehmens, das es jetzt nur noch zu Ende zu führen galt.»[6] Das musste heißen: Jetzt waren Mord und Plünderung an der Reihe. Doch es kam anders: «Später hat er oft behauptet – denn er schämte sich der Sache nicht –, dass mein Gesicht und meine Offenheit ihm den Verrat aus der Hand gerissen hätten. Während seine Leute die ganze Zeit die Augen auf ihn gerichtet hatten, um zu sehen, welches Signal er ihnen geben würde, bestieg er wieder sein Pferd, und seine Leute waren verblüfft, ihn abziehen und seinen Vorteil aufgeben zu sehen.»[7] Der Räuber als Gemütsmensch oder: Man muss nur treuherzig blicken, um das härteste Herz zu erweichen. Ob es sich wirklich so abgespielt hat, weiß allein Montaigne. Wahrscheinlicher ist, dass er dasselbe Recht wie der unheimliche Gast für sich in Anspruch nimmt, nämlich zu täuschen, im Unterschied zu diesem allerdings mit den besten Absichten: Am Ende siegen die Güte und das Gute. Je länger die Bürgerkriege dauerten, desto näher rückten die konkreten Gefahren. Vollends unhaltbar wurde die Lage, als wenige Kilometer entfernt die Belagerung einer Festung begann. Jeden Tag musste der ohnmächtige Schlossherr mit Plünderung, Brandschatzung und Mord rechnen; um das Maß des Elends vollzumachen, kam dann auch noch die Pest dazu. Schreiben gegen die Gewalt und gegen die Angst wurde so zur Therapie, zum Lebenselixier, zum stolzen Akt der Selbstbehauptung – Erfahrungen, die im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Aktualität verloren haben.

Die Schreckenserfahrungen des jahrzehntelangen Bürgerkriegs sind nicht das einzige Thema der Essais – wörtlich: Versuche –, mit denen der neuadelige Schlossherr Michel de Montaigne 1580 eine neue, bis heute intensiv gepflegte Literaturgattung erfand. In seinem – ab der zweiten Auflage von 1588 auf 107 Einzelabhandlungen erweiterten – Werk schreibt er ausgiebig, mit vielen pointierten Anekdoten und verblüffenden (Kehrt-)Wendungen, über alle Fragen der Lebensführung und alles, was das Leben lebenswert macht: über Freundschaft und Ehe, über die Kunst guter Gespräche, über die richtige Erziehung der Kinder, über die Genüsse des Lesens und des Ganz-bei-sich-Seins und am liebsten über sich selbst, seine Neigungen, Spleens und Obsessionen. Doch auch hinter scheinbar heiterer Plauderei und spielerisch anmutender Kommunikation mit dem Leser verbergen sich tiefer Ernst, höchste Anspannung...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2023
Zusatzinfo mit 23 Abbildungen und 2 Karten
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte 16. Jahrhundert • Biografie • Biographie • Bordeaux • Bürgerkrieg • Bürgermeister • Ehe • Erziehung • Essays • Frankreich • Freundschaft • Kammeredelmann • Krankheit • Leben • Montaigne • Obsession • Parlamentsrat • Philosoph • Philosophie • Schlossturm • Skeptiker • spleen
ISBN-10 3-406-79742-3 / 3406797423
ISBN-13 978-3-406-79742-2 / 9783406797422
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