Lebendige Seelsorge 6/2022 (eBook)
84 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06556-0 (ISBN)
Ute Leimgruber Dr. theol., Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg
Ute Leimgruber Dr. theol., Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg
Kirche am Nullpunkt – schon länger
Als Kardinal Marx sein dem Papst angebotenes Rücktrittsgesuch am 4. Juni 2021 öffentlich machte und vom „toten Punkt“ sprach, an dem die Kirche in Deutschland angelangt sei, befand sich die Erzdiözese München und Freising mitten in einem Gesamtstrategieprozess. Ein Prozess, der initiiert wurde, um Leitlinien und Zielbilder als Grundlage für eine zukünftige Ressourcenplanung und Schwerpunktsetzung zu erarbeiten. Um auf die multiple Kirchenkrise zu antworten, braucht es mehr als derartige Strukturprozesse. Claudia Pfrang
Ich erinnere mich noch genau: Zwei Tage nach der offiziellen Pressekonferenz leitete ich einen Workshop im Rahmen des Gesamtstrategieprozesses der Erzdiözese. Wir konnten nicht anders, als zu Beginn die Rede vom toten Punkt gemeinsam zu analysieren, denn sie traf die Einschätzung vieler hochengagierter Haupt- und Ehrenamtlicher. Ebenso stand die Frage im Raum: Können wir nun einfach so weitermachen wie bisher? Nein. Denn die Rede vom toten Punkt verlangt nicht allein eine strukturelle Antwort, sondern erfordert dringend einen inhaltlichen Brückenschlag zwischen der Analyse des Kardinals und dem Strategieprozess, so die Antwort aus dem Kreis. Weitergemacht haben wir trotzdem, der Strategieprozess befindet sich in einer ersten Phase der Pilotierung und man darf gespannt sein, inwiefern der inhaltliche Brückenschlag gelingen wird.
DAS SCHICKSAL DER KIRCHEN
Mit der Rede vom toten Punkt rekurriert Kardinal Marx auf einen Text des Jesuitenpaters Alfred Delp, geschrieben während seiner Haftzeit 1944/45. Er enthält eine Analyse, die in ihrer Klarheit prophetisch und in der Diktion sehr aktuell klingt. So manche Formulierung mutet an wie ein aktueller Kommentar zur Kirche im 21. Jahrhundert: „Das Schicksal der Kirchen wird in der kommenden Zeit nicht von dem abhängen, was ihre Prälaten und führenden Instanzen an Klugheit, Gescheitheit, ‚politischen Fähigkeiten‘ usw. aufbringen. Auch nicht von den ‚Positionen‘, die sich Menschen aus ihrer Mitte erringen konnten. Das alles ist überholt. […] Die Kirchen scheinen sich hier durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Weg zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von der Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen. Das gilt sowohl für das persönliche Schicksal des einzelnen kirchlichen Menschen wie auch für die Institutionen und Brauchtümer. Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt. Die christliche Idee ist keine der führenden und gestaltenden Ideen dieses Jahrhunderts“ (Delp, 831.834). Trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit, so Delp, hat Kirche ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Die multiplen Kirchenkrisen der Gegenwart sind ein Ausdruck davon, dass Kirche heute an einem toten Punkt angelangt ist.
Claudia Pfrang
Dr. theol., Pastoraltheologin und Direktorin der Domberg-Akademie der Erzdiözese München und Freising.
Jedes neue Gutachten hinterlässt Erschütterung, Enttäuschung und einen nachhaltigen Vertrauensverlust, gefolgt von einer enormen Austrittswelle.
DIE MISSBRAUCHSKRISE
Es ist nicht möglich, über die derzeitige Situation der katholischen Kirche zu sprechen, ohne bei den Verbrechen sexualisierter Gewalt und deren Vertuschung zu beginnen. Wie ein Erdbeben hat das Bekanntwerden von sexuellem Missbrauch die katholische Kirche weltweit erschüttert und vieles in Trümmer gelegt. Auch nach inzwischen über 20 Jahren Aufdeckung und über zehn Jahren öffentlicher Diskussion kommt die kirchliche Aufarbeitung nur sehr mühsam voran. Hans Zollner, Leiter des Institute of Anthropology. Interdisciplinary Studies on Human Dignity and Care (IADC) in Rom, sagte in einem Interview mit der Herder Korrespondenz bereits 2019 treffend: „Ob und wie wir uns als Kirche dem Thema Missbrauch stellen, ist für die Kirche eine existentielle Frage. Hier entscheidet sich zum guten Teil, ob sie als vertrauens- und glaubwürdig wahrgenommen werden kann“ (Zollner im Gespräch mit Leven, 16).
Alle bisher veröffentlichen Gutachten zeigen in erschreckender Weise das Ausmaß der Missbrauchsverbrechen, der Vertuschung und des systemischen Machtmissbrauchs in der katholischen Kirche. Jedes neue Gutachten hinterlässt Erschütterung, Enttäuschung und einen nachhaltigen Vertrauensverlust, gefolgt von einer enormen Austrittswelle. Diese Situation führt zu Wut, Ohnmacht und Resignation bei haupt- und ehrenamtlich Tätigen in der Kirche, die sich mit der Frage konfrontiert sehen: Wie kann ich heute noch Mitglied dieser Täterorganisation sein? Der Rechtfertigungsdruck von außen für alle in der Kirche Verbleibenden ist so hoch wie nie. Die systemischen Ursachen liegen auf der Hand und sind Teil des Synodalen Wegs, der in der 4. Vollversammlung mit dem Scheitern des Papiers zu einer veränderten Haltung zur katholischen Sexualmoral an einen toten Punkt gelangte. Die bisher nie dagewesenen Kirchenaustritte des Jahres 2021 von knapp 360.000 Katholik:innen zeigen das Ausmaß dieser tiefgreifenden Kirchenkrise.
DIE VERTRAUENSKRISE
Kirche ist an einem Kipppunkt, so beschreiben es der Pastoraltheologe Rainer Bucher und der Dogmatiker Hans-Joachim Sander, denn der Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust aufgrund des Missbrauchsskandals wird weitergehen. Die Kirche „kann das weder aufhalten noch vermeiden, weil sie die Taten anerkennt und ebenso das Vertuschen aufklären lassen muss. Und jeder Erkenntnisschritt bedeutet einen weiteren Schub im Glaubwürdigkeitsverlust. Je glaubwürdiger sie aufklärt und aufklären lässt, desto größer der Schub“ (Bucher/Sander, Am Kipppunkt I).
Das Vertrauen der deutschen Bürger:innen in die Kirche ist schon jetzt auf einem historischen Tiefstand. Laut einer Forsa-Umfrage vom Dezember 2021 haben 33 Prozent der Menschen in Deutschland großes Vertrauen in die evangelische Kirche und nur zwölf Prozent in die katholische Kirche. Man nimmt die Kirche als reich, machtbewusst, autoritär, dogmatisch verengt, verstaubt, altmodisch und verlogen wahr (vgl. Bericht auf Kirche+Leben).
Die Projektion von zwei Freiburger Wissenschaftlern zeichnet sich schon heute ab. Die von David Gutmann und Fabian Peters im Mai 2019 veröffentlichte Mitgliederprognose für die evangelische und katholische Kirche in Deutschland rechnet für 2060 damit, dass sich die Zahl der Mitglieder bis um fast die Hälfte (49 Prozent) verringern wird. Neu ist dabei die Erkenntnis, dass der Rückgang stärker auf dem Tauf- und Austrittsverhalten als auf dem demographischen Faktor basiert (vgl. Gutmann/Peters). Diese Prognosen erscheinen mehr als plausibel, denn was wir derzeit beschleunigt durch die Missbrauchskrise und durch Corona erleben, ist längst keine Krise mehr, sondern ein Zusammenbruch (vgl. Jacobs, 192).
DIE GOTTESKRISE. ODER: KEIN LINK MEHR ZU GOTT
Neben der Systemkrise fordert die katholische Kirche zugleich eine Krise heraus, die an die Wurzel des christlichen Glaubens geht. Soziologische Erkenntnisse zeigen, dass, wenn überhaupt, immer weniger Menschen bei der Suche nach Halt und Sinn auf den ‚klassischen‘ Glauben an einen Gott, der die Menschen sieht und rettet, zurückgreifen.
An diesen Befund schließen sich Fragen an: Braucht wirklich jeder Mensch Gott? Haben Menschen, die zu den kirchlichen Festen kommen, Sehnsucht nach Gott oder eher nach gemeinschafts- und sinnstiftenden Ritualen? Bewegt sie die Suche nach persönlicher Transzendierung, aber nicht zwingend mit dem Link zu Gott?
Gott ist in unserer Zeit nicht mehr notwendig, so der Pastoraltheologe Jan Loffeld. Der christliche Glaube, so seine These, trifft innerhalb säkularer Lebenswelten nicht mehr auf ein anthropologisches Bedürfnis der Menschen. Ein gelingendes Leben führen, das möchten alle. Der Glaube an einen personalen Gott, der die Menschen aus ihrer Not rettet, ist jedoch für viele nicht mehr nötig, um die eigene Not zu wenden. Und wenn dieser Glaube nicht mehr not-wendend ist, so ist er, laut Loffeld, auch nicht mehr nötig.
Diese Gedanken und Fragen sind ein Stresstest für die Gottesfrage und die Zukunft des Christentums. Jan Loffeld plädiert für einen Prämissenwechsel, der kompromisslos akzeptiert: Jede:r kann Gott finden, aber er:sie braucht ihn nicht unbedingt für sein Glück (vgl. Loffeld).
Erfolgreich sind Kirchen und Religionsgemeinschaften aus soziologischer Perspektive dann, wenn es ihnen gelingt, den Transzendenzbezug ins Leben der Menschen zu holen (vgl. Bucher). Wo aber sind die Kirchen, wenn Menschen Sinnfragen stellen? Wie wird den Menschen deutlich, dass es der Auftrag von Kirche ist, Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes unter den Menschen zu sein? Vielleicht sollten Christ:innen sich wieder ernsthafter die...
Erscheint lt. Verlag | 16.12.2022 |
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Mitarbeit |
Zusammenstellung: Katharina Karl |
Verlagsort | Würzburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Christentum |
Schlagworte | Kirche • Pastoral • Seelsorge |
ISBN-10 | 3-429-06556-9 / 3429065569 |
ISBN-13 | 978-3-429-06556-0 / 9783429065560 |
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