Das Wissen der Person (eBook)

Eine Topographie des menschlichen Geistes
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
517 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4153-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Wissen der Person -  Pirmin Stekeler-Weithofer
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Das geistige Leben des Menschen erschöpft sich nicht in der Vielzahl seiner besonderen Erscheinungen. Vielmehr sind diese von philosophischer Reflexion als Variationen einer einzigen Humanität explizit zu machen. Philosophisches Denken ist daher das Projekt, die allgemeinen Formen des Geistes und damit besonders unseres Wissens und Könnens zu artikulieren, um selbstbewusste Orientierung in der Wirklichkeit zu ermöglichen. Anliegen dieses Bandes ist es, Pirmin Stekeler-Weithofers Beitrag zu diesem Projekt in seiner ganzen Breite sichtbar werden zu lassen. Dazu werden seine wichtigsten Aufsätze erstmals in ihrem systematischen Zusammenhang präsentiert. Die Aufsätze des ersten Kapitels (»Wissen und Wirklichkeit«) zeigen, wie der Zugang zur Wirklichkeit, in der wir Menschen handeln, grundlegend durch gemeinsames Wissen geformt ist. Das zweite Kapitel (»Sprache und Sprechhandlung«) befasst sich mit der sprachlichen Verfasstheit dieses Wissens und seiner Einbindung in eine kommunikative, institutionell organisierte Praxis. In ihrer gemeinsamen Tätigkeit begegnen sich die Menschen immer schon als Personen (Drittes Kapitel: »Psychologie der Person«), denen nicht nur eine näher zu bestimmende Würde zukommt, sondern von denen auch die verantwortliche Übernahme sozialer Rollen erwartet wird. Im vierten Kapitel (»Recht als Lebensform«) geht es um den institutionellen Rahmen für Würde, Recht und Pflicht voller Personen, während das fünfte (»Kunst und Religion«) den kulturellen Praktiken gewidmet ist, in denen die Menschen frei auf ihre gemeinsame Lebensform reflektieren.

Pirmin Stekeler (Jg. 1952) studierte Mathematik, Theoretische Sprachwissenschaft und Philosophie in Konstanz, Berlin, Prag und Berkeley. Derzeit lehrt er Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig. Seit 1998 ist er Ordentliches Mitglied und seit 2008 Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Seine Arbeitsschwerpunkte stellen die Philosophie der Sprache, Handlungstheorie und Philosophie der Logik dar. Sein besonderes Interesse gilt dem Verhältnis zwischen traditioneller (Platon, Kant, Hegel) und Analytischer Philosophie (Frege, Wittgenstein, Carnap, Quine). Stekeler zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Hegelianern der Gegenwart. Besondere Aufmerksamkeit erweckte seine sprachanalytische Interpretation von Hegels Wissenschaft der Logik. Gegen Ansichten der Analytischen Philosophie hält er die Sprache von Hegel, Nietzsche und Heidegger für philosophisch sinnvoll interpretierbar.

I. Wirklichkeit als bewertete Möglichkeit


1. Die onto-logische Frage nach Wahrheit und Wirklichkeit


»Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, […] die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken.«

(WL, KSA 1, 880)

Was ist Wahrheit? Was ist wirklich? Nietzsche antwortet auf solche Fragen in seinen Texten immer etwas zu schön und zu schnell, indem er aber mit vollem Recht auf die tiefe Bedeutung des rechten Verständnisses figurativer, analogischer und damit modell- und strukturkonstitutiver Redeformen hinweist. Wenn wir etwas langsamer vorgehen, erkennen wir hier zwei Formulierungen einer einzigen Frage. Sie bestimmt den Kernbereich jeder Philosophie, die Ontologie. Diese ist, recht verstanden, immer schon sinnkriteriale Onto-Logie. Das heißt, sie ist oder sollte sein eine logische Untersuchung dessen, was die Ausdrucksformen »Es ist so …«, »Es gibt den Gegenstand x«, »Es ist wahr, dass p«, »p ist wirklich wahr« oder »y gibt es objektiv bzw. wirklich« alles besagen (können). Es sind dazu allerdings unbedingt die nominalisierten Ausdrucksweisen angemessen zu verstehen, in denen über das Sein (to einai), das Seiende (to on), seine Existenzweise, die Objektivität, die Wahrheit oder die Wirklichkeit gesprochen wird. Dabei gilt seit alters das Lehrgedicht des Eleaten Parmenides als Anfang der Ontologie. Und es wird seit alters fehlgedeutet. Denn es werden die entsprechenden Nominalisierungen nicht als titelartige Nennungen der oben genannten Ausdrucksformen oder Kategorien verstanden, sondern als Verweise auf eine für Menschen angeblich oder wirklich nie voll erkennbare Welt an sich. Doch damit wird die Form unserer immer auch schon idealisierenden und vom Einzelfall abstrahierenden Reflexionen auf logische Formen (Begriffe, Ideen) und auf die Erfüllungen normativer Geltungsbedingungen nicht angemessen verstanden. Das geschieht schon, indem man Platons Ideenlehre als Lehre über eine transzendente Wirklichkeit statt als Reflexion auf die Bedeutung von Begriff, Form, Gattung, Art, Ideal und Idee (auf Griechisch alles »eidos«) für explizites Wissen und Wissenschaft liest. Bis heute wird dann auch »das Sein« zumeist als Titel aufgefasst für einen sortalen Bereich aller (wirklichen oder dann auch möglichen) Gegenstände (mit wohldefinierter Identität) oder von allem Seienden, wie man früher halblateinisch dafür gesagt hat. Doch damit wird die Idee einer philosophischen Ontologie verfehlt. Das sieht im Grunde Aristoteles schon. Denn aus logischen Gründen kann es kein Universum aller Gegenstände geben, über die wir sinnvoll reden, deren Eigenschaften wir erfragen und von denen wir irgendwie sagen können, dass es sie (wirklich) gibt. Anders gesagt, ein universe of (all meaningful) discourse gibt es nicht. Das ist jedenfalls dann klar, wenn wir alle abstrakten Redegegenstände hinzunehmen. Denn gerade die logische Form (und Praxis) der Nominalisierung und damit der verbalen Abstraktion ermöglicht es, beliebige neue (abstrakte) Gegenstandsbereiche zu konstituieren, die jeden gegebenen sortalen Gegenstandsbereich überschreiten, also jede gegebene Menge von Elementen transzendieren. Um das einzusehen, müsste man also nicht auf Bertrand Russells Antinomie der naiven Mengenlehre warten.

Es sind die von uns gesetzten Bedingungen und Erfüllungen von Gleichungen und Relationsaussagen in begrenzten Gegenstandsbereichen (Hegels ›Begriffen‹) wie den Zahlen, Lebewesen, chemischen Stoffen, mittelgroßen Körperdingen und dann auch von Bewegungen und Prozessen als Instanziierungen von Formen im Werden, die bestimmen, worüber man sinnvoll reden und was man wissen kann. Nur in (semi-)sortalen und damit immer bloß lokalen Gegenstandsbereichen G ist zum Beispiel ein Existenzquantor der Form »Es gibt ein x in G mit der Eigenschaft E« auf eine Weise (wohl-)definiert, dass die (seit Gottlob Frege) bekannten logischen Schlussregeln der Quantoren- oder Prädikatenlogik voll (oder cum grano salis) gelten, also im Schließen verwendet werden können.1

Die Konstitution von (halb-)sortalen Redebereichen bestimmt damit offenbar zugleich auch, was man sinnvoll als existent oder wahr glauben kann bzw. was es heißt, an eine Wahrheit oder Existenz zu glauben. Das ist nicht eigentlich eine Behauptung. Es ist eine Feststellung, aber nicht ohne normative Beurteilung, wie man die Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit und dann etwa auch die Wörter »Wissen« und »Glauben« bzw. »Existenz« und »Gegenstand« verstehen sollte. Sie in ihrer tiefen Bedeutung zu begreifen, ist freilich ganz offenbar nicht einfach.

Die Wiederkehr von Ontologie in der Gegenwart ist daher zumeist schlecht über diese Hintergründe informiert. Sonst würde sie sich nicht als eine Art Glaubensphilosophie präsentieren. Das heißt, man redet und schreibt so, als ginge es in der Ontologie darum, woran wir als Grundlage dessen, was es so alles gibt, glauben können oder sollen. Man erzählt oder versichert, was es angeblich wirklich gibt. Man schildert angeblich schon »real« oder »objektiv« vorgegebene und vorbestimmte Gegenstandsbereiche, in denen unsere prädikativen Unterscheidungen und Existenzaussagen angeblich definiert sind. Die zugehörigen Ismen wie Realismus oder Physikalismus oder auch Materialismus und Objektivismus sind solche ontologischen Glaubensphilosophien. Sie verteidigen entsprechende Thesen, die obendrein zumeist in aphoristischen, also sprachtechnisch als orakelartig zu wertenden Ausdrucksformen verfasst sind. Ganze Bibliotheken sind voll derartiger Ismen-Philosophie und dem ewigen Streit um metaphysische Intuitionen, also subjektive Meinungen dazu, was es angeblich auf basale und unmittelbare Weise gibt. Manche beschränken sich dabei auf die physische Welt der raumzeitlichen Dinge, der res extensae, und sind dann überzeugte und stolze Reduktionisten. Sie meinen, dass es andere Dinge wie z. B. abstrakte Zahlen nicht wirklich gibt, schon gar nicht eine eigenständige geistige Welt der res cogitans oder Seele. Unglücklicherweise ist hier das Wort »wirklich« bloß ein Ausdruck subjektiver Emphase. Ein metaphysisches Meinen hat eben daher weder etwas mit Wissenschaft noch mit Philosophie zu tun. Nietzsche kommentiert es daher völlig angemessen »in der Sprache eines alten Mysteriums« so: »adventavit asinus, pulcher et fortissimus« (JGB, KSA 5, S. 21).

Was hier eigentlich oder wirklich zu tun wäre, ist die Beendigung von Metaphysik als Glaubensphilosophie und ihre Ersetzung oder besser Restitution als logische Reflexion auf alle Seinsbegriffe, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel klarer als Immanuel Kant sagt und dieser klarer als David Hume sieht. Dabei ist bis heute die zentrale Einsicht von Kants Transzendentalphilosophie gerade in ihrer Präzisierung durch den objektiven und absoluten Idealismus Hegels noch kaum angekommen. Sie besagt, dass jeder Bezugsgegenstand immer auch schon ein abstraktes Gegenstandsmoment »an sich« enthält. Wir beziehen uns also sozusagen immer auch auf ein reines Verstandesding, wo immer wir uns (gemeinsam) auf etwas als deren Instanziierung in der wirklichen Welt beziehen. Nietzsche entdeckt diese Gedanken auf seine Weise wieder.

In jedem wirklichen, konkreten Ding, auf das wir uns beziehen, sind in der Tat, wie das lateinische Wort »concrescere« sagt, ein Moment des Ansichseins als abstrakter Redeform über einen besonderen Fall einer allgemeinen Gattung und das Moment der realen und damit einzelnen Erscheinung etwa in der Wahrnehmung zusammengewachsen: Wir können uns auf nichts in der Welt (gemeinsam) beziehen, was nicht schon begrifflich typisiert und damit in seinen wesentlichen Bestimmungen kategorial verfasst oder konstituiert wäre.

Hegels Kommentar zur zentralen Einsicht Kants ist eben wegen dieser Umdeutung der Rede von Gegenständen an sich so zentral. Die Gegenstände an sich sind, wie Hegel gegen Kants irreführende Verwendung der Ausdrucksweise erkennt, nicht etwas Unerkennbares, Transzendentes. Sie sind das abstrakte Moment in konkreten, gerade auch empirischen Weltbezügen. Sie sind durch die Formen der begrifflichen und damit immer auch schon sprachlichen Bezugnahme konstituiert. Eben damit sind sie als unsere eigenen (sprachlichen) Konstruktionen sozusagen das Bekannteste, manchmal auch das Erkannteste, was es gibt. Der Fall ist analog dazu, dass die Mathematik, wie das griechische Wort »mathēsis« besagt, das Lehrbarste und Lernbarste ist, was es gibt. Das ist sie entgegen dem Hörensagen, das die Mathematik zu einem Arkanum macht und ihre Sprachtechnik mystifiziert.

Das Ergebnis der Philosophie Kants ist also, wenn wir Hegel folgen, dass es auch für konkrete Dinge wie für abstrakte Gegenstände eine Konstitution dafür gibt, was diese Gegenstände an sich sind, also in Bezug auf das allgemeine begriffliche Moment, nach dem sie immer als Elemente einer Gattung oder Art aufzufassen sind. Hegel liest das als sein Ergebnis von...

Erscheint lt. Verlag 24.10.2022
Reihe/Serie Blaue Reihe
Blaue Reihe
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Ästhethik • Erkenntnistheorie • Rechtsphilosophie • Religionsphilosophie • Sprachphilosophie
ISBN-10 3-7873-4153-6 / 3787341536
ISBN-13 978-3-7873-4153-5 / 9783787341535
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