Femina (eBook)
448 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3210-6 (ISBN)
Ein großes Buch, das viel mittelalterlichen Staub aufwirbelt!
Sie kämpften gegen Wikinger, vergifteten ihre Feinde und waren Spioninnen - die vergessenen Frauen des europäischen Mittelalters kümmerten sich beileibe nicht nur um Haus und Hof. Dennoch ist es genau dieses Bild einer patriarchalen Gesellschaft, die Frauen unterdrückte, das unsere Vorstellung vom Mittelalter prägt. Es waren Männer, die diese Geschichte schrieben und die Frauen des Mittelalters aus unserem kollektiven Gedächtnis verbannten. Janina Ramirez gibt den Frauen ihren Platz in der Geschichtsschreibung zurück: Sie erzählt von der mächtigen Königin Jadwiga von Polen, der wilden Kriegerin Æthelflæd und der außergewöhnlichen Heilerin Hildegard von Bingen und eröffnet uns so ein buntes Kaleidoskop an verschiedensten weiblichen Lebensrealitäten, die die ganze Vielfalt dieses »dunklen Zeitalters« abbilden.
»Wunderbar frei und herrlich originell lässt uns >Femina< auf aufregende und provokative Weise in die Nebel der Geschichte blicken.« Peter Frankopan.
»Leidenschaftlich, provokativ, brillant - dieses Buch ist ein Feuerwerk, das irgendwie zwischen zwei Buchdeckeln gefangen ist.« Lucy Worsley.
Janina Ramirez, geboren 1980, ist Kulturhistorikerin, Literatur- und Sprachwissenschaftlerin und Dozentin und Forscherin in Oxford, Winchester und Warwick. Als BBC-Sprecherin und Autorin von zahlreichen Fachartikeln und Sachbüchern vermittelt sie ihre umfangreiche Expertise und begeistert regelmäßig ein großes Publikum. Sie lebt mit ihrer Familie in Woodstock.
1
Macherinnen
2006 Loftus, Bezirk Redcar and Cleveland, England
Die Street House Farm liegt an einer Straßenkreuzung am nördlichsten Rand der North York Moors, in einer wilden, von Stürmen gepeitschten Landschaft. Weit draußen jenseits des letzten Feldes donnert das Meer gegen die nackten Felsen. Die Kleinstadt Loftus im Bezirk Redcar and Cleveland liegt gerade einmal anderthalb Kilometer südöstlich der Farm. Wir befinden uns im Land von Wordsworth, der Region, die Bram Stoker zu »Dracula« inspirierte und in der die meisten alten Bäume in Nordengland stehen.1 Wenn diese Bäume reden könnten, würden sie zahllose Geschichten über all das erzählen, was in dieser Landschaft passiert ist. In unserer Geschichte geht es um Steve Sherlock, einen archäologischen Detektiv (mit einem zufällig sehr treffenden Nachnamen). Seit vier Jahrzehnten erforscht Steve die Rätsel dieses Geländes, die mehrere Jahrtausende zurückreichen.2
Steve kennt diesen Flecken Erde wie seine Westentasche, er ist an der Küste in Redcar aufgewachsen und hat diese Felder sein ganzes Leben lang nach Schätzen und Antworten durchwühlt. Zwischen 1979 und 1981 gehörte er zu einem Team, das jungsteinzeitliche Steinhügel, so genannte Cairns, und eisenzeitliche Siedlungen auf diesem unscheinbaren Stück Land rund um die Street House Farm freilegte. Besonders eine Entdeckung macht die Grabungsstätte so besonders: ein einzigartiges Bauwerk, das man mit der Radiokarbonmethode auf die Zeit um 2200 v. Chr. datiert hat. Es ist nur als eine Reihe von Pfostenlöchern erhalten geblieben, war aber ursprünglich eine runde Einhegung mit einem Durchmesser von etwa acht Metern, die aus 56 aufrecht stehenden Holzbalken mit einer seltsamen Aufschüttung in der Mitte bestand.3 Lücken zwischen den Pfosten lassen vermuten, dass Menschen sich in einer Prozession oder Zeremonie zwischen ihnen hindurchbewegten. In Ermangelung anderer überzeugender Vorschläge wurde sie zu einer »Ritualstätte« erklärt, an der unbekannte, uralte Zeremonien stattgefunden haben, und »Wossit« (von what-is-it?) genannt.4 Sie erinnert uns daran, dass unsere Forschungen, wenn wir in die Zeit zurückschauen, nur vorläufig sein können und wir uns immer wieder die Frage stellen müssen, womit wir es eigentlich zu tun haben.
Abb 7 · Rekonstruktion des Street-House-»Wossit«, Loftus, Spätes Neolithikum, um 2200 v. Chr.
Ganz sicher war die jetzt so abgelegene und isolierte Farm auf dem Hügel einst ein Ort voller Menschen, Lärm, Bewegung und Leben. Überall auf den Äckern finden sich Überreste von Bauwerken, die Jahrtausende alt sind, darunter auch das offiziell »älteste Haus« von Teesside, das noch vor Stonehenge errichtet wurde. Jahrzehnte, nachdem er die Pfostenlöcher des Wossit aus dem Boden hatte auftauchen sehen, waren es die Umrisse einer rechteckigen Einfassung auf einer Luftaufnahme, die Steves Interesse weckten. Umgeben von einem eisenzeitlichen Graben waren dort Spuren von Gebäuden zu sehen, darunter mehrere Rundhäuser. Eigentlich war Steve hierhergekommen, um eine vorrömische Welt zu entdecken, doch ein bescheidener Erdhügel fast in der Mitte ließ ihn ahnen, dass es hier noch etwas anderes Spannendes zu erforschen gab.5
Auf dem Gebiet befanden sich 109 Gräber, die die Grundrisse älterer, eisenzeitlicher Rundhäuser durchschnitten, aber innerhalb des Rahmens der Einfassung systematisch angeordnet waren. Jedes einzelne war sorgfältig in den Boden eingetieft, so, dass es genug Raum für einen auf der Seite liegenden Leichnam in embryonaler Haltung bot. Knochen waren nicht mehr zu finden – der saure Boden hatte alles Organische aufgelöst –, doch allmählich tauchten gewisse Hinweise auf, während das Team die einzelnen Bodenschichten abtrug: Perlen, Metallstücke und Teile erodierter Waffen ließen vermuten, dass diese Bestattungen nicht eisenzeitlich, sondern frühmittelalterlich waren. Vor allem aber schienen sie aus einer Epoche zu stammen, in der sich in diesem Teil Nordenglands gerade eine ideologische Revolution vollzog. Man konnte sie auf die Zeit datieren, in der das Christentum entlang der northumbrischen Küste seine ersten Wurzeln schlug.
Der wichtigste Fund verbarg sich allerdings in dem Erdhügel in der Mitte des Friedhofs. Die anderen Gräber orientierten sich in ihrer Ausrichtung an der Einfassung und rahmten so diesen Bereich aufgeschütteter Erde ein. Als er das zentrale Grab öffnete, stieß Steve im wörtlichen wie im übertragenen Sinn auf Gold; er fand unter anderem schönen, symbolträchtigen frühmittelalterlichen Schmuck allerbester Qualität. Das Individuum in diesem alle anderen Gräber überragenden Hügelgrab war denjenigen, die ihre Lieben sorgfältig rundherum bestattet hatten, ganz offenbar wichtig gewesen. Und es war auch dem archäologischen Team wichtig, das hier 1400 Jahre später arbeitete. Dies war das Grab einer Führungsfigur, einer Person, die die Gemeinschaft geschätzt hatte, die Macht, Reichtum und Einfluss besessen hatte. Es gibt nur wenige Hinweise darauf, wer hier warum bestattet wurde. Um das zu verstehen, müssen wir uns unter die Menschen mischen, die im 7. Jahrhundert in Loftus lebten, und uns die Gegenstände, die sie im Boden ablegten, genauer ansehen. Vor uns erscheint so das Bild einer nordenglischen Gesellschaft, die vom Wandel erschüttert wird, aber noch an der Vergangenheit festhält.
Willkommen im Loftus des 7. Jahrhunderts
Die salzige Luft brennt auf der Haut, während man auf die aufgewühlte Nordsee hinausblickt. Deren Wellen verbinden eher, als dass sie trennen: diesen Vorsprung der nordenglischen Felsküste mit Skandinavien, Deutschland und weiter mit fernen Ländern im Süden und Osten. Die Schiffe, die am Strand liegen, sind die Pferde des Meeres, sie erlauben internationales Reisen und verheißen unbekannte Reichtümer. Landeinwärts erstreckt sich ein seltsames Terrain. Der Boden weist alle möglichen Erhebungen auf, das Echo großer, jahrhundertealter Bauten. Steine von römischen Gebäuden liegen herum, und ein paar neue Holzhäuser erheben sich zwischen Grabhügeln und aufgeschütteten Gräben.
Abb 8 · Rekonstruktion der archäologischen Stätte des 7. Jahrhunderts nahe Street House, Loftus, von Andrew Hutchinson © Andrew Hutchinson und Stephen Sherlock.
Gerade findet eine Zeremonie statt. Eine Menschenschlange zieht in einer Prozession durch eine Abfolge weiter Öffnungen in den uralten, eisenzeitlichen Umfassungsmauern, dann auf eine quadratische Fläche, etwa halb so groß wie ein Fußballfeld. Die Menge sammelt sich und bewegt sich auf eines der neuen Holzhäuser zu. Es ist ein schlichter Bau mit nur einem Eingang in einen dunklen Raum. Drinnen liegt jemand bewegungslos und friedlich auf dem Rücken, gekleidet in eine kostbare Robe mit glitzerndem Gold auf der Brust – und ganz eindeutig tot. Links von diesem kleinen Gebäude sieht man einen großen Haufen frisch aufgeworfener Erde neben einem Loch. Wenn man in das Loch hinunterschaut, entdeckt man dort etwas Überraschendes – ein wunderbar geschnitztes und aufwändig geschmücktes Bett. Es ist mit Pelzen und kostbaren Stoffen bedeckt, ein weiches Kissen liegt vor einem stabilen Betthaupt aus Esche.
Hinter dem Erdhügel erhebt sich ein weiterer Holzbau. Die Türen stehen offen, und im Inneren erhellt der Glanz von Kerzen die schummrige Luft.
Auf einer erhöhten runden Plattform neben dem Erdloch stehen die Anführer:innen der Gemeinschaft in ihrer besten Kleidung – rot, grün und gelb gefärbte Wolle, gesäumt mit exotischen Stoffen wie Seide von jenseits der Meere. Goldknöpfe und verzierte Spangen glitzern zwischen den Stofffalten, die Frauen tragen mehrere Perlenketten auf der Brust. Feierlich beobachten sie, wie die Menschen sich auf sie zubewegen und allmählich die Anlage füllen. Die Erhabenen und die Arbeitenden, die Großen und die Vielen – sie alle sind hier, um einer Person ihren Respekt zu erweisen. Bald wird sie auf ihr Bett gelegt werden, um dort für alle Ewigkeit zu ruhen, umgeben von jahrtausendealten Vorfahren. Sie wird eins mit der Landschaft werden. Diese Menschen sind hier, um ihrer zu gedenken, aber die Bestattungsriten...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2023 |
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Übersetzer | Karin Schuler |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Femina. A New History of the Middle Ages, Through the Women Written Out of It |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie | |
Schlagworte | Archäologie • Bestseller • Frauen im Mittelalter • Frauen in der Geschichte • Geschichte • Geschichtsschreibung • Licht aus dem Osten • Mittelalter • Peter Frankopan • Simon Sebag Montefiore • vergessene Frauen • weibliche Geschichtsschreibung • weibliche Perspektive • weibliches Mittelalter • Wissenschaftsgeschichte |
ISBN-10 | 3-8412-3210-8 / 3841232108 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3210-6 / 9783841232106 |
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