Zeit - Endlichkeit - Liebe (eBook)
216 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-12035-6 (ISBN)
Georg Juckel, Prof. Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (Schwerpunkt: Tiefenpsychologische Psychotherapie), Direktor der LWL-Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin der Ruhr-Universität Bochum.
Georg Juckel, Prof. Dr. med., ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (Schwerpunkt: Tiefenpsychologische Psychotherapie), Direktor der LWL-Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin der Ruhr-Universität Bochum. Paraskevi Mavrogiorgou, PD Dr. med., ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (Schwerpunkt:Verhaltenstherapie), Leiterin der Forschungsabteilung für Experimentelle Psychopathologie der LWL-Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Präventivmedizin der Ruhr-Universität Bochum.
2 Zeit: Die Sorge um die Vergänglichkeit
»Es ist ganz richtig, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass es vorwärts gelebt werden muss. Welcher Satz bei genauerem Durchdenken gerade damit endet, dass das Leben in der Zeitlichkeit nie recht verständlich wird, eben weil ich in keinem Augenblick vollkommen Ruhe finden kann, um die Stellung: rückwärts einzunehmen.« (Søren Kierkegaard 1983)
»Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.« (Ludwig Wittgenstein 1921)
2.1 Zeit, Psyche, Geschichte und Begrifflichkeiten
Die Dimension der Zeit spielt nicht nur im Kontext des Todes und der Angst vor ihm, sondern auch für die diesseitige Existenz, unser Leben auf Erden, eine wichtige Rolle. Welche Rolle das ist und was überhaupt Zeit im Allgemeinen, aber auch im Speziellen, z. B. im Rahmen von psychischem Leiden bedeutet, darauf soll hier näher eingegangen werden. Safranski fasst das in seinem Buch »Zeit« (2015) zusammen: »Zeitpathologien, die Depressionen und Hysterien, die entstehen, wenn der Einzelne zu stark unter Strom gesetzt oder leer und ausgebrannt zurückgelassen wird«. Hier wird nicht nur das individuelle Schicksal angesprochen, sondern auch die soziale Verursachung dafür, und damit auch die Verantwortung der Gemeinschaft im Umgang mit der Gestaltung von Zeit. Stichworte sind die bekannten wie Leistungsgesellschaft, Leistungsdruck, Arbeitslosigkeit, Entfremdung, Beschleunigung, E-Mail-Flut, ständige Benutzung von Smartphones. So fragte Dornes (2016): Macht der Kapitalismus durch Beschleunigung, Veränderung der Zeit, krank? Seine entwicklungspsychologische und psychoanalytische Antwort ist: Im Grunde nein. Denn die wesentlichen Strukturen des Menschseins hätten sich nicht geändert, allenfalls die technischen Möglichkeiten, zumal sich die psychischen Störungen über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte auch nicht stark quantitativ oder qualitativ verändert hätten. Es gäbe eine Konstanz von Depressionen und psychischen Erkrankungen über lange Zeit, d. h., solche Erkrankungen seien häufig und reagieren wenig empfindlich auf soziale Veränderung, als gemeinhin angenommen. Ähnliches stellten Fountoulakis et al. (2014) im Hinblick auf Suizidalität und die damalige Europäische Finanzkrise fest. Dornes kommt zu dem Ergebnis, dass es kein Fundament für eine Sozialkritik gibt, die behauptet, die Beschleunigung in der kapitalistischen Gesellschaftsform mache zunehmend psychisch krank. So schreiben auf der anderen Seite z. B. die »Marxistischen Blätter«, dass der Burnout ein systematischer Verschleiß von Menschen darstellt und dass Mobbing eine Form von zerstörter Solidarität unter Menschen ist. Die marxistische Zeitschrift »Z.« führt aus, dass die Beschleunigung der Zeit wesentlich für den Kapitalismus ist, jedoch Formen und Techniken der Entschleunigung kein probates Mittel dagegen seien, sondern schlussendlich nur die Aufhebung des Privateigentumes, weil dieses dann zum postgeschichtlichen zeitlosen Zustand des Kommunismus führen würde. Daneben gibt es eine ganze Reihe von soziologisch-philosophischen Entwürfen, in denen versucht wird, subjektive und soziale Befindlichkeitsstörungen eher gesellschaftstheoretisch und kulturell zu deuten, nämlich als Zeit-Stressfolge-Störungen des modernen Menschen – so z. B. Ehrenberg in »Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart« (2015), Virilio in »Fluchtgeschwindigkeit« (1999) oder Han in »Müdigkeitsgesellschaft« (2010). Hinzu tritt die reiche Ratgeberliteratur zum Thema Burnout und Depression, in der vieles empfohlen wird, um der Seele Zeit zu geben: Achtsamkeit, Buddhismus, Entschleunigung usw. Ein Beispiel ist Verena Kasts Buch »Seele braucht Zeit« (2013): Sie weist auf die Trägheit psychischer und psychotherapeutischer Prozesse hin, man müsse die Seele baumeln lassen, den inneren »Hetzer« reduzieren, »mehr Muße und produktive Langeweile, die von der Langeweile im Rahmen der Depression als Stillstand von Leben und Zeit zu unterscheiden ist«, zulassen. So auch Zimbardo und Boyd (2009): Es gelte, die Justierung der inneren psychischen Uhr im Sinne »ausgeglichener Zeitperspektiven« vorzunehmen. Das Zeitmanagement sollte balanciert sein, man solle die Vergangenheit durchweg positiv ansehen, sowohl die Zukunft als auch die Gegenwart sollten mit einem eher moderaten Hedonismus angegangen werden.
Wir möchten aber zunächst einmal grundsätzlich auf die theoretischen Überlegungen zur »Zeit« eingehen und dabei die Verflochtenheit von Philosophie und Physik mit einbeziehen. Das bekannte Zitat von Augustinus besagt ja: »Was also ist ›Zeit‹? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht« (Confessiones XI, 14). Mit Augustinus (2009) kam die Unterscheidung zwischen der objektiv gelebten und der subjektiv erlebten Zeit auf. Schon früh unterschieden sich die Philosophen in jene, die die Zeit eher als zumessende Bewegung und Veränderung (Heraklit, Aristoteles), und andere, die die Zeit eher als »stehendes Jetzt«, dem »nunc stans« der Ewigkeit und alles Sein im Stillstand ansahen (Parmenides, Platon). Später hat dann die Neuzeit die Zeit nur noch als reine, formale Anschauungsgröße wie »Raum« als subjektive Voraussetzung der sinnlichen Wahrnehmung betrachtet. Hier wurde die »Zeit« als Teil der menschlichen Erkenntniswerkzeuge verstanden, am prominentesten von Kant, ohne sicher wissen zu können, ob sie einer realen Welt (dem »Ding an sich«) entsprechen würde. Die Zeit sei als ewige Form der Anschauung zu betrachten, die Inhalte mögen wechseln, die Struktur der Zeit bleibe: »Die Zeit, in der aller Wechsel der Erscheinungen gedacht werden soll, bleibt und wechselt nicht« (Kant 1974). Im 20. Jahrhundert beschäftigte sich Husserl (1980) phänomenologisch mit dem inneren Zeitbewusstsein von Ur-Impression, Retention und Protention und damit der Wahrnehmung des Zeitverlaufs von einem Vorher zu einem Nachher. Heidegger legte anschließend mit »Sein und Zeit« (1927) eine Analyse des sogenannten Daseins vor, in der er die menschliche Existenz primär in seiner Zeitlichkeit untersuchte: Das menschliche Dasein sei primär bestimmt durch die Stimmung der Angst, der Sorge um sein Sein angesichts der Endlichkeit und durch das Vorlaufen in die Zukunft (»sich immer selbst vorweg sein«), dem Sein zum Tod. Gegen Letzteres positionierte sich z. B. Sartre (1991), der das Einverständnis mit Vorlaufen in den Tod kritisch sah angesichts seiner durch nichts zu erklärenden Skandalhaftigkeit und Sinnlosigkeit. Aber auch Schulz (2002) fasste die »Härte des Todes«, der nur Ausdruck der »Objektivität der Weltzeit« sei, für das Subjekt als wesentliches Momentum auf. Aus einer spätidealistischen Perspektive heraus sprach der Philosoph John McTaggart (1993) auf der anderen Seite dann wieder von einer nur Scheinbarkeit und Unwirklichkeit der Zeit. Nach seiner Auffassung gibt es zwar absolute Zeit-Bestimmungen, die sogenannte A-Reihe bestehend aus »vergangen, gegenwärtig, zukünftig«, und relative Zeit-Bestimmungen, die sogenannte B-Reihe mit »früher, gleichzeitig, später«. Aber diese Zeitreihen selbst, in denen Veränderungen auftreten, und auch die Veränderungen in der Zeit existieren indes nicht, da sie weder Teil der Ereignisse selbst sind noch eine nachzuweisende zeitliche Relation zwischen ihnen besteht.
Weitet man den Blick geschichtsphilosophisch, so könnte man meinen, dass das christliche Abendland an der zyklischen Zeit orientiert ist: an ihrem Anfang in der Genesis und ihrem Ende mit dem Erscheinen von Jesus Christus. Apokalypse, Jüngstes Gericht, aber auch die Hölle und das Paradies zielen auf die Endlichkeit der Zeit und auf den eschatologisch-messianischen Beginn einer Ewigkeit ab (z. B. Taubes 1947, 2017). So wurde für viele zeitgenössische Theorien neben dem Begriff der »Postmoderne« für Jahrzehnte auch jener der »Posthistoire« relevant, dem Aufhören des zeitlichen Gangs der Geschichte, d. h. dem Ende von Zeit überhaupt und dem Eintritt einer Zeitlosigkeit (s. dazu Pieper 2014). Das gilt auch für Theorien, die den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaften mit dem »entfesselten Neoliberalismus« als dauerhaft und einen damit eingetretenen Stillstand der Zeit beschreiben. Ab der Neuzeit würden sich Aufklärung und Vernunft weniger an der Zeit, sondern eher am Raum orientieren (Rathgeb 2022). Dabei sei in einer prinzipiell unendlichen linearen Zeit für die...
Erscheint lt. Verlag | 15.7.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Angst vor dem Tod • Auseinandersetzung mit dem Tod • Depression • Endlichkeitsangst • Erlösung • Psychothanatologie • Schizophrenie • Sterben • Störungen des Zeiterlebens • Terror Management • Terror-Management-Theorie • Tod • Zeiterleben • Zeiterleben bei psychisch Kranken |
ISBN-10 | 3-608-12035-1 / 3608120351 |
ISBN-13 | 978-3-608-12035-6 / 9783608120356 |
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