Tomorrowmind (eBook)
336 Seiten
Ariston (Verlag)
978-3-641-29218-8 (ISBN)
Mobiles Arbeiten zu flexiblen Zeiten klingt total verlockend. Doch ist unsere hybride New-Work-Welt auch gut für unsere Psyche? Gabriella Kellerman und Martin Seligman unterziehen sie einem Tiefen-Check: Durch zunehmende Digitalisierung sind unsere Arbeitsqualifikationen immer schneller überholt, was wiederum zu höherer Mitarbeiterfluktuation in den Unternehmen führt. Hinzu kommt die neue Volkskrankheit der Einsamkeit, weil soziale Bindungen unter den Mitarbeitern fehlen. Die Folge sind Burn-out und Stresserkrankungen.
Tomorrowmind zeigt Ihnen, mit welchen wissenschaftlich fundierten Methoden und praktischen Übungen Sie sich mental gesund halten können. Es spricht nicht nur Einzelne an, sondern bewusst auch Unternehmen. Denn Firmen und Mitarbeiter stehen vor der gemeinsamen Aufgabe, ein Mindset für die Zukunft zu entwickeln. Nur wenn unsere Gehirne mitkommen, können alle erfolgreich sein!
Dr. med. Gabriella Rosen Kellerman ist Top-Expertin für mentale Gesundheit am Arbeitsplatz und Mitglied der Geschäftsführung der Coaching-Plattform BetterUp. Zuvor arbeitete sie im Bereich der Psychiatrie und in der Forschung der funktionellen Magnetresonanztomografie.
Kapitel 1:
Unser Gehirn bei der Arbeit
Anfangs ging Wandel nur langsam vonstatten. Und wenn, dann wurde er vor allem durch das Wetter verursacht. Die frühe menschliche Spezies hatte es in Abständen von einem oder mehreren Jahrtausenden mit einem Wechsel von Eiszeiten und zwischeneiszeitlichen Erwärmungen zu tun.20 Der Meeresspiegel stieg und fiel dramatisch und machte große Landstriche zeitweise bewohnbar. Der Zyklus war so langsam, dass sich die frühen Menschen auf die altmodische Weise anpassen und entwickeln konnten: durch natürliche Selektion. Die europäischen Neandertaler zum Beispiel entwickelten angesichts des kalten Klimas kürzere Unterarme und Unterschenkel.21 So konnten sie sich leichter warm halten, denn kürzere Gliedmaßen bedeuten weniger Körperoberfläche.
Vor etwa 70 000 Jahren22 geschah jedoch etwas, das die Spielregeln unwiderruflich veränderte. Das Gehirn einer bestimmten Gruppe von Menschen – Homo sapiens, unserer Vorfahren – machte tiefgreifende Veränderungen durch. Unter anderem vergrößerte es sich, die Scheitel- und die Kleinhirnregion rundeten sich. Diese Regionen sind für Planung, Langzeitgedächtnis, Sprache, Werkzeuggebrauch und Selbstwahrnehmung mit zuständig.23 Die neue komplexe Intelligenz des Homo sapiens ermöglichte es uns, Umweltherausforderungen auf exponentiell klügere und schnellere Weise zu meistern. Seitdem ist auf der Erde nichts mehr so, wie es war.
Ein typisches Beispiel: Anders als sein Neandertal-Nachbar in derselben Klimazone besaß der Homo sapiens noch immer die längeren Arme und Beine der Tropenbewohner. Wie hielt er seine langen Gliedmaßen warm? Statt Tausende Jahre auszuharren, bis sich neue Körperteile entwickeln würden, löste er das Problem auf eine Weise, wie nur er es vermochte: durch Technologie.
Funde von Nadeln mit Nadelöhr beweisen, dass ihn Oberbekleidung warm hielt. Feuer konnte nach Belieben erzeugt werden, wie rundum laufende Schleifspuren an durchlöcherten Steinen zeigen – ein rudimentärer Motor, mit dessen Hilfe Reibung und schließlich Feuer erzeugt wurde.24 Überreste von Schlingen und Reusen zeugen von energieeffizienteren Formen der Jagd. Ihr größeres, kugelförmigeres Gehirn ließ diese frühen Menschen intelligenter arbeiten: in warmer Kleidung, mit säuberlich ausgelegten Fallen und einem knisternden Feuer in der Nähe.
Und das Beste ist, dass diese technologischen Neuerungen nicht ständig wieder neu erfunden zu werden brauchten. Stattdessen konnte Homo sapiens sehr detailliert darüber kommunizieren, und zwar dank seines herausragendsten, wichtigsten Werkzeugs: der Sprache. Eine komplexe, syntaktisch gestaltete Sprache25 befähigte jede Generation, auf dem Wissen der vorhergehenden aufzubauen. Sie ermöglichte den Austausch über abstrakte Inhalte sowie gemeinsame Vorstellungen, kollektive Bedeutungszuweisungen und Erfindungen.26 Sie musste nicht nur das Hier und Jetzt beschreiben; sie konnte auch alle in der Zukunft liegenden Möglichkeiten ansprechen.
Hinter diesen Durchbrüchen in sprachlicher, industrieller und häuslicher Hinsicht stand eine Reihe von kognitiven Fähigkeiten, die einzig und allein den Homo sapiens und damit auch uns auszeichnen. Das Konstruieren und Verstehen langer Sätze, das Auslegen von Fallen und die Herstellung von Mänteln aus rohen Fellhäuten erfordern ein Arbeitsgedächtnis, schrittweises Planen und die Fähigkeit, über das Hier und Jetzt hinauszudenken.27 Diese Vorteile machten den Homo sapiens zum »Sieger«, denn es gelang ihm, die harten Bedingungen zu meistern, die jede andere frühe menschliche Spezies auslöschten.
Dass Sie dies lesen können, verdanken Sie Ihrem erstaunlichen Gehirn – einem drei Pfund schweren, fußballgroßen, blassrosafarbenen, verschlungenen Klumpen Fleisch, der diese Worte unter einem Helm aus Kalzium verarbeitet – und all den erstaunlichen Gehirnen davor.
Das Geheimnis erfolgreicher Nahrungssuche: Anpassungsfähigkeit, Generalistentum und Kreativität
Über 95 Prozent unserer Geschichte hinweg bildeten das Jagen, Sammeln und Fischen die Lebensgrundlage des Homo sapiens. Das ist die »Arbeit« – die typische Kombination regelmäßiger, für den Lebensunterhalt erforderlicher Tätigkeiten –, für die unser Gehirn sich entwickelt hat. Dieses Jäger-und-Sammler-Hirn, das wir noch heute haben, werden wir brauchen, um in unserer so drastisch veränderten Arbeitswelt zu bestehen.
Drei Schlüsseleigenschaften des Jäger-und-Sammler-Hirns sind Generalistentum, Anpassungsfähigkeit und Kreativität. Unsere Vorfahren waren nicht nur Jäger und Sammler, sondern in erster Linie Generalisten. Alle mussten wissen, wie man Schlangen aus dem Weg geht, nahrhafte Beeren von giftigen unterscheidet, Raubtieren zuvorkommt, einen Haken beködert und Beute aufspürt. Sie lebten in kleinen voneinander abhängigen Stämmen und bildeten zu ihrem Schutz Verbände, die durch hohes gegenseitiges Vertrauen gekennzeichnet waren. Man nimmt an, dass die Frauen eher für das Sammeln und die Männer eher für das Jagen und Fischen verantwortlich waren, doch war die Rollenverteilung wohl relativ fließend, denn die einzelnen Stämme mussten ihre Strategien aufgrund schwankender Ressourcen immer wieder ändern. Wer schon einmal selbstständig war, kennt das: An manchen Tagen muss man Marketingexperte sein, an anderen Verwalter und am dritten Kundendienstmitarbeiter. Man muss alles können.
Und das machte die Arbeit interessant, ebenso wie die Tatsache, dass es ein Nomadenleben war. Jagen, Fischen oder Sammeln an immer wieder neuen Orten sorgte für Neuentdeckungen. Jeder Ort erforderte eine Anpassung – ans Klima, an die Tageslänge, an das Terrain – und bot zugleich die Gelegenheit, neue Fähigkeiten zu entwickeln. Wir glauben, dass die Jäger und Sammler nur drei bis fünf Stunden täglich gearbeitet haben.28 Dieser verkürzte »Arbeitstag« ließ viel Raum zum Lernen, vor allem aber auch für Freizeit, Geselligkeit und Erkundungen.
Entspanntes Erkunden wiederum förderte Kreativität und Innovation. Unsere Vorfahren nutzten ihr leistungsfähiges Gehirn, um sowohl für den Einzelnen wie für die Spezies insgesamt überragende Ergebnisse zu erzielen. Während die Archäologie für den Neandertaler nur wenig technologischen oder kulturellen Fortschritt belegen kann, entwickelten sich Kunst und Technik des Homo sapiens in rasantem Tempo. Waffen wurden immer komplexer und bestanden aus einer größeren Anzahl von Teilen. Hoch entwickelte Boote machten es möglich, bis nach Australien zu gelangen und Länder zu besiedeln, die für andere Spezies unerreichbar waren. Einfache Höhlenzeichnungen verwandelten sich in eine Fülle mythischer Kreaturen aus Elfenbein und Keramik.
In der Tat waren unsere Vorfahren als Wildbeuter derart innovativ, dass sie sich durch ihre Erfindungen selbst aus dieser Lebensweise hinausentwickelten. Einen Beitrag dazu leistete die Erfindung der Nahrungsmittellagerung, denn sie ersparte ihnen die Mühe, auf der Suche nach der nächsten Mahlzeit ständig unterwegs zu sein. Erwartungsgemäß wurde die Nahrungsmittellagerung dann immer weiter überarbeitet und verbessert. Die Lagertechniken entwickelten sich rasant – von der Nutzung von Tierhäuten über ofengebrannte Töpferware bis hin zu Kühleinheiten.29 Um 10 000 vor unserer Zeitrechnung war das Jagen und Sammeln einer völlig anderen Arbeitsform gewichen: dem Ackerbau.
Kreativität, Anpassungsfähigkeit und Generalistentum leisteten unserer Spezies viele Tausend Jahre lang hervorragende Dienste. Die nächste Epoche der Arbeit brachte eine ganze Reihe neuer Probleme mit sich, gepaart mit dem Erfordernis, dieselbe kognitive Maschinerie rasch umzunutzen.
Ackerbau: Die Arbeit mutiert zum Job
So alltäglich uns die Landwirtschaft heute auch vorkommen mag, ist doch kaum zu überschätzen, was für einen radikalen Wandel sie darstellte – es war der wohl folgenreichste sprunghafte Wandel der Arbeitswelt in der Menschheitsgeschichte. Durch Jagen, Sammeln und Fischen erntet man die reichen Gaben der Natur. Bei Ackerbau und Viehzucht muss der Mensch die Natur selbst verändern. Nahrungssuche und Ackerbau sind komplett unterschiedliche Lebensweisen, und die Nahrungssuche bringt dem Einzelnen so viele Vorteile, der Ackerbau dagegen so wenige, dass Archäologen kaum erklären können, warum die Menschen zu Letzterem übergewechselt sind.30
Wir wissen nur, dass der Ackerbau um 10 000 vor unserer Zeitrechnung in der Levante entstand, jenem Gebiet Westasiens, wo heute die Türkei, der Libanon, Israel, Jordanien und Syrien liegen. Wieder einmal ebnete das Wetter den Weg, diesmal in Form einer globalen Erwärmung. Davor hatten die Eiszeiten Trockenheit mit sich gebracht, da das Süßwasser in den Polkappen und den riesigen Eisschilden eingefroren war, die Europa, Asien und Nordamerika bedeckten. Das Kohlendioxid war in den kalten Meeren gebunden, sodass selbst die Pflanzen zu kämpfen hatten. Große Staubwolken wehten über die Erde. Auch wenn es zwischendurch wärmere...
Erscheint lt. Verlag | 11.5.2023 |
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Übersetzer | Judith Elze, Katrin Harlaß |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Tomorrowmind: Thriving at Work with Resilience, Creativity, and Connection―Now and in an Uncertain Future |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | 2023 • Arbeit der Zukunft • Betriebliches Gesundheitsmanagement • Burnout vorbeugen • Depression & Burnout • Digitalisierung • eBooks • Einsamkeit • Erlernte Hilflosigkeit • flow • Gehirngerechtes Arbeiten • Gesundheit und Arbeit • Homeoffice • Hybrides Arbeiten • job skills • mentale Gesundheit • Mindset • Neuerscheinung • new work • Performance • Positive Psychologie • Psychologie • Resilienz • Stress & Burnout • Veränderungsstrategien |
ISBN-10 | 3-641-29218-2 / 3641292182 |
ISBN-13 | 978-3-641-29218-8 / 9783641292188 |
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