Ego-States, Seiten, Parts & Co (eBook)
308 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11998-5 (ISBN)
Jochen Peichl, Dr. med., war bis Ende 2010 Oberarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Nürnberg und ist jetzt in freier Praxis und als Leiter des Institutes für Hypno-analytische Teiletherapie InHAT tätig. Weiterbildung u. a. in Traumazentrierter Psychotherapie und Ego-State-Therapie; aktuelle Arbeitsschwerpunkte in Theorie und Praxis: Borderline -Störungen, Trauma-assoziierte und dissoziative Störungen. www.jochen-peichl.de www.teiletherapie.de
Jochen Peichl, Dr. med., war bis Ende 2010 Oberarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Nürnberg und ist jetzt in freier Praxis und als Leiter des Institutes für Hypno-analytische Teiletherapie InHAT tätig. Weiterbildung u. a. in Traumazentrierter Psychotherapie und Ego-State-Therapie; aktuelle Arbeitsschwerpunkte in Theorie und Praxis: Borderline -Störungen, Trauma-assoziierte und dissoziative Störungen. www.jochen-peichl.de www.teiletherapie.de
Kapitel 1
Frank Putnam und Richard Kluft oder die Frage nach der »ursprünglichen Persönlichkeit«
Die Traumaforschung der letzten Jahre lehrt uns, dass die Dissoziation einen psychischen Überlebensmechanismus darstellt. Im Gegensatz zur ursprünglichen psychoanalytischen Annahme, dass es sich bei der Dissoziation um neurotische Abwehr (Spaltung) handelt, geht die neuere Traumaforschung davon aus, dass sie in erster Linie die Funktion erfüllt, mit unerträglichen Gefühlen von Schmerz, Todesangst und Hass umzugehen. Somit ist die Dissoziation eine physiologische Notfallreaktion. Der Prozess der Dissoziation ist auch weniger ein kognitiver Prozess, sondern ein emotional-physiologischer, der sozusagen automatisch durch ein Trauma (oder später durch entsprechende Trigger = Auslösereize) ausgelöst wird. Im Vorgang der Dissoziation können diese Elemente einzeln oder insgesamt vom Bewusstseinsstrom abgespalten werden. Damit sind Dissoziationen im Grunde Störungen der Kontinuität einer Erfahrung, die wir mit der Welt außerhalb von uns und unserer inneren Körperwelt in jedem Augenblick machen und die wir in unserem Bewusstsein zu einem Strom des Erlebens verbinden. Bricht dieser Strom ab, hat dies massive Folgen für das Erleben unserer Identität, unserer Integration des Selbst. So weit, so gut.
Wie können wir uns aber die Entstehung der dissoziativen Selbstanteile oder Ego-States vorstellen? Bei der Beschäftigung damit über mehr als zwanzig Jahre, erst als Leiter der Traumaabteilung einer Klinik und heute als Traumatherapeut in eigener Praxis, habe ich mich verschiedener Metaphern bedient, um mir das Phänomen der Selbstanteile vorstellen zu können: Wird durch ein Trauma unser Identitätsgefühl in Stücke geschnitten – wie beim Bäcker der Kuchen? Oder wird wie im Copyshop von einem Original eine Kopie gezogen? Oder sind die Ego-States aus »imaginären Gefährten« der Kinderphantasie entstanden und führen jetzt ihr Eigenleben?
1.1 Von Kuchenstücken und Kopien
Diese traumainduzierte Abspaltung von Teilen hatte ich mir früher immer so vorgestellt, als würde man die Identität in immer kleinere Stücke zerteilen, je mehr innere Kinder oder Selbst-Anteile entstehen. Dieses etwas naive Konzept hat wenig Überzeugungskraft im Zusammenhang mit der Komplexität der multiplen Persönlichkeit, schreibt der bekannte Dissoziationsforscher Richard P. Kluft (1991, 1999, 2013): Die vielfache Aufspaltung leitet sich ab von der Vorstellung, einen Kuchen in Stücke zu schneiden, mit dem daraus folgenden Effekt, dass man immer weniger und weniger Anteile für jede Identität übrigbehält. Diese Annahme unterstellt, dass das Original-Selbst, von verschiedenen Autoren als die »Gastgeber«-Persönlichkeit (Host) bezeichnet, verkleinert wird und das, was erst eine Einheit dargestellt hat, immer weiter zerstückelt. Dass dem nicht so ist, diese Erkenntnis kam mir spätestens, als ich die erste Patientin mit einer dissoziativen Störung Ende der 80er-Jahre behandelte.
Vielleicht muss ich an dieser Stelle etwas über den Diskussionsstand in dieser Zeit sagen. Ich war als Psychiater und ausgebildeter Psychoanalytiker an der Universität, erst in Göttingen und dann in München. Mein Denken – und das der meisten in meiner Umgebung – war stark von Otto Kernberg geprägt: Die Ich-Struktur eines Patienten wurde in drei Ebenen eingeteilt: (1) Low Level: Psychotische Störungen, (2) Medium Level: Somatisierungsstörungen, Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus und (3) High Level: Neurotische Störungen, Konversionsneurosen. Der Terminus »Dissoziation« wurde gemieden und meist mit Spaltung (Kernberg) übersetzt, Pierre Janet war komplett in Vergessenheit geraten, seine Schriften waren nicht vom Französischen ins Deutsche übersetzt, Traumaerfahrungen als Ursache von Borderline-Störungen wurden meist angezweifelt und diese Störungen wurden – vor allem in den USA – eher als Schizophrenie oder als affektive Psychose diagnostiziert. Patienten mit »multipler Persönlichkeit« gab es irgendwie, aber meist wurden sie in der Psychiatrie als »iatrogen« bezeichnet, d. h., man vermutete, dass das Störungsbild artifiziell durch Hypnose oder übereifrige Therapeuten erzeugt war. Bis heute ist es oft noch schwer, manche »Hardcore«-Psychiater davon zu überzeugen, dass die inneren Stimmen die Botschaft eines kindlichen, traumatisierten Selbstanteils sind und nicht Symptome ersten Ranges der Schizophrenie nach Kurt Schneider.
Dieser psychiatrische Blick auf die dissoziativen Störungen, insbesondere auf die DIS, findet sich auch bei den US-amerikanischen Psychiatern Frank Putnam und Richard Kluft. Da beide Hypnose in der Behandlung dieser Patientengruppe anwendeten und die Lektüre ihrer Arbeiten für mich erste neue Ideen und Erkenntnisse brachte, will ich hier bei unserer Reise durch die Theoriemodelle einen ersten Zwischenstopp einlegen und einige ihrer Überlegungen aus der heutigen Sicht bewerten. Damals vertiefte ich mich mit Hilfe der Uni-Bibliotheken in die Original-Publikationen von Putnam und Kluft in US-amerikanischen Fachzeitschriften, da es noch keine deutschen Übersetzungen ihrer Bücher gab.
Ein besseres Modell der Problemlösung – neben dem Kuchenstücke-Modell – wäre es, eine multiple Bewusstheit anzunehmen, in der das Individuum ein isomorphes, das heißt gleichgestaltiges Selbst (Kluft 1984) kreiert. Kluft stellt fest, dass »die Seele eher, als sich selbst zu teilen, sich multipliziert, sich selbst selektiv vervielfältigt (recopy) oder eine begrenzte Zahl von Elementen in Mustern von größtmöglicher Vielfalt rearrangiert« (S. 14). Nach Kluft versucht das traumatisierte Kind eine andere Version von sich selbst zu kreieren, um die Erinnerung dort abzuspeichern. Das traumatisierte Innere Kind wäre somit eine Kopie, ein Replikant der traumatischen Szene, eingefroren im Moment der Entstehung, ein Erlebens-Zustand, eine Verdichtung des persönlichen Gedächtnisses. Das hatte mir damals geholfen, von der Vorstellung der Persönlichkeit eines Menschen als einer Art von Kuchen, der durch Trauma in Teile zerstückelt wird, Abstand zu nehmen.
Dieses Konzept wird heute unterstützt durch ein neurologisches Modell der Multiplizität, wie es zurzeit von bekannten deutschen Hirnforschern wie Gerhard Roth (2003) oder Wolf Singer (2005) vertreten wird. Substrukturen im Gehirn können unterschiedlich operieren, wenn sie im Kontext von unterschiedlichen Modulen oder Schaltkreisen funktionieren. Die Neurologie ist nicht begrenzt oder endlich, denn die Basis für die Veränderung von Identität kommt aus sich verändernden existierenden Mustern und nicht aus der Entwicklung neuer Komponenten. Dies bedeutet für uns: Bestehende Netzwerke können immer wieder zu neuen vernetzten Strukturen kombiniert werden. Es bedeutet aber auch, dass aus Identitätsmustern Teile durch Dissoziation abgespalten werden, die als stabile Ich-Zustände weiterexistieren und zum Beispiel den Ego-State eines seelisch und körperlich verletzten vierjährigen inneren Kindes markieren.
1.2 Die ursprüngliche Persönlichkeit
Bei Putnam stieß ich dann jedoch auf die Idee von der »ursprünglichen Persönlichkeit«, die für mich heute erklärt, warum er so und nicht anders seine einzelnen Schritte in der Therapie von DIS-Patienten organisierte und warum es logisch ist, dass am Ende der Behandlung für ihn – und noch mehr für Kluft – eine Fusion der Alter-Persönlichkeiten zu einer Einheit stehen sollte.
Putnam schreibt: »Viele Multiple haben eine Persönlichkeit, die von den übrigen Persönlichkeiten des Systems als die ›ursprüngliche‹ Persönlichkeit bezeichnet wird, von der alle übrigen abstammen. Kluft hat die ursprüngliche Persönlichkeit definiert als ›die Identität, die unmittelbar nach der Geburt entstanden ist und die die erste neue Persönlichkeit abgespalten hat, um dem Körper zu helfen, mit einer starken Belastung fertigzuwerden (Kluft 1984)‹.« (Putnam 2003, S. 143) Diese »ursprüngliche Persönlichkeit« ist bei DIS-Patienten nicht aktiv, in einem »sehr frühen Zeitpunkt ›in Schlaf versetzt‹ oder auf andere Weise handlungsunfähig gemacht« (ebd.). Daraus folgt: Sie muss aufgeweckt und handlungsfähig werden. Wie geht das?
Lassen Sie mich Putnams Gedankengang rekonstruieren, so wie ich es beim Lesen des Buches »Diagnose und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung« (Original 1989, dt. 2003) verstanden habe:
Ein Mädchen entwickelt seine Identität schon sehr früh »unmittelbar nach...
Erscheint lt. Verlag | 22.4.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Bindungstheorie • Dissoziation • Ego-States • Ego-State-Theorie • Ego-State-Therapie • frühes Trauma • hypnosystemisch • Hypnosystemischer Ansatz • Hypnotherapie • Ich-Zustände • innere Anteile • innerer Kritiker • Innerer Täter • Interventionen • Milton Erickson • Multiple Persönlichkeit • Persönlichkeitsstruktur • Polyvagal-Theorie • Teilearbeit • Teiletherapie • Theorie innerer Objekte |
ISBN-10 | 3-608-11998-1 / 3608119981 |
ISBN-13 | 978-3-608-11998-5 / 9783608119985 |
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