Achtsamkeit: Der Boom - Hintergründe, Perspektiven, Praktiken (eBook)

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
176 Seiten
Vandenhoeck & Ruprecht Unipress (Verlag)
978-3-647-99961-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Achtsamkeit: Der Boom - Hintergründe, Perspektiven, Praktiken -  Ursula Baatz
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Achtsamkeit - »mindfulness« - ist zum Schlagwort geworden. Was steckt wirklich dahinter? Aus einer weitgehend unbekannten buddhistischen Meditationspraxis wurde eine Methode, die das US-Militär genauso wie Krankenhäuser, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten anwenden. Ursula Baatz zeichnet die facettenreiche und faszinierende Geschichte dieser Transformation nach, gibt Auskunft über die neuesten neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zu Achtsamkeit und fragt nach der Relevanz des buddhistischen Hintergrunds. Am Ende zeigt sich: Die Karriere von Achtsamkeit ist von der Zunahme von Stress und Burnout nicht zu trennen. Dazu beigetragen haben die Erkenntnisse der Neuroforschung ebenso wie die westliche Buddhismus-Rezeption.

Dr. Ursula Baatz ist Religionswissenschaftlerin und Philosophin, Achtsamkeits- und Zen-Lehrerin, Lehrbeauftragte für interkulturelle Philosophie und Ethik an der Universität Wien und Klagenfurt und langjährige Wissenschafts- und Religionsjournalistin beim ORF.

Dr. Ursula Baatz ist Religionswissenschaftlerin und Philosophin, Achtsamkeits- und Zen-Lehrerin, Lehrbeauftragte für interkulturelle Philosophie und Ethik an der Universität Wien und Klagenfurt und langjährige Wissenschafts- und Religionsjournalistin beim ORF.

1 Einführung


1.1 Atemlose Arbeitswelt

Es war vor Jahren in Thailand. Auf der Fähre zur Insel Koh Chang hatte ich ein nettes junges Paar kennengelernt, sie Französin, er Thai, zwei nette Hippies. Gemeinsam machten wir uns auf die Suche nach einer passenden Unterkunft. Die Insel war weitgehend autofrei, wir mussten uns also zu Fuß auf den Weg machen. Vom Rucksack beschwert, blieb ich zunehmend zurück. Der junge Thai bot an, mein Gepäck zu tragen, was ich gern annahm. Nach einer Weile fanden wir einen netten Ort am Strand. Er stellte meinen Rucksack ab, und ich dachte, dass er sofort beginnen würde, wegen der Unterkünfte zu verhandeln. Doch stattdessen legte er sich eine ganze Weile auf eine Bank in die Sonne, um sich von der Anstrengung zu erholen. Ich merkte, wie ich unruhig wurde – wie konnte er bloß jetzt eine Pause machen? Und so lang?

Der Bungalow, den er für mich organisierte, lag direkt am Meer. Ich konnte vor der Tür sitzen und den Wellen des Golfs von Thailand zusehen, die kamen und gingen, eine Welle lief den Strand hoch, verebbte, dann kam die nächste, sie überschnitten einander in komplexen Mustern, und aus dem Wechsel von Mehr und Weniger, Überschäumendem und Verschwindendem, Kommen und Gehen und den Pausen dazwischen ergab sich ein Rhythmus.

Sich entspannen und wieder anspannen, im Rhythmus, den der Körper vorgibt. Statt loszurennen mit verspanntem Rücken, hatte der junge Mann zunächst pausiert, durchgeatmet, die Spannung losgelassen und sich gesammelt, bevor er zur nächsten Aktivität überging. Ich dagegen machte kaum je Pausen und bemühte mich, so rasch wie möglich von einer Aktivität zur nächsten überzugehen. Pausen machen verboten.

Meine Freundin Anna erzählte mir, dass sie als Studentin einen Sommer lang in einer Schokoladenfabrik am Fließband stand. Sie musste die silbrig und goldgelb verpackten Schokoladenkugeln in Schachteln einordnen. Das Fließband war so eingestellt, dass es bei hoher Konzentration gerade gelang, die Schachtel fertig zu befüllen, bevor die nächste kam. Niemand konnte daher eine Pause machen, nicht mal, um auf die Toilette zu gehen, denn dazu hätte das Fließband abgestellt werden müssen. Und das ging natürlich nicht. Anna war heilfroh, nach diesem Sommerjob zu ihrem Studium zurückzukehren, wo sie ihre Zeit selbst einteilen konnte.

Das Fließband in der Schokoladenfabrik hat eine lange Ahnenreihe. Getaktete Arbeit wurde erstmals um 1900 eingeführt und seither perfektioniert. Zunächst wurden die notwendigen Arbeitsschritte in kleine Einheiten zerlegt und in ein Zeitraster gebracht, an das sich die Arbeitenden anpassen mussten, wodurch sich auch die Arbeitsleistung genau kontrollieren ließ. Durch die Digitalisierung veränderte sich dies nochmal. Die Leistung – der »Output« – kann nun auch ohne Fließband getaktet und kontrolliert werden, etwa von Lagerarbeitern bei Amazon oder bei dem britischen Lebensmitteldiscounter Tesco durch elektronische Tags. Auch die Anwesenheit am Schreibtisch lässt sich kontrollieren – nicht nur im Büro, auch im Home-Office.

Allerdings lassen sich viele Berufe, vor allem im Sozialbereich, nicht so einfach takten. Doch auch bei diesen gibt es seit etwa zwei Jahrzehnten strikte Zeitvorgaben: wie lang es dauern darf, eine Patientin zu waschen, zu füttern, wenn sie nicht mehr selbst essen kann, sie umzubetten etc.

Nora ist Krankenschwester in einem großen Krankenhaus. Ihr Dienst ist unregelmäßig. Sie liebt ihren Beruf, die Arbeit mit den Patienten, doch ist seit einigen Jahren eine umfassende Dokumentation ihrer Tätigkeit vorgeschrieben, die sehr viel Zeit verschlingt. Zudem wurde das Personal verringert, weswegen Nora nun mehr Patienten als zuvor betreuen muss. Eine Bekannte hat ihr geraten, einen Achtsamkeitskurs zu besuchen, um mit dem Stress besser umgehen zu können. In diesem Acht-Wochen-Kurs hat sie gelernt, sich etwas von der Hektik ihres Berufs zu distanzieren, auch wenn der alltägliche Druck im Krankenhaus manchmal sehr heftig ist, die Dokumentationen viel Zeit in Anspruch nehmen und oft während der Pausen erledigt werden müssen.

In der getakteten Arbeitswelt sind Pausen von außen vorgegeben. Die biologischen Notwendigkeiten müssen sich in diesen Takt einfügen oder ausgeblendet werden. Könnte man den Arbeitsrhythmus selbst bestimmen, wäre alles viel besser – so dachten viele vor zwanzig oder dreißig Jahren. Das Management nahm sich diese Vorschläge aus den 1970er und 1980er Jahren zu Herzen und gestaltete Arbeitsplätze anders – mit mehr Selbstständigkeit bei der Arbeitsgestaltung und mit größerer Flexibilität. Auch eine flexible Arbeitssituation kann Stress bereiten. Längere Arbeitspausen plus darauffolgende Intensivbeanspruchung – als »Flexibilität« bezeichnet – können das gesamte übrige Leben durcheinanderbringen.

Thomas hatte schon während des Studiums mehrere unbezahlte Praktika bei Firmen absolviert. Nach Abschluss des Betriebswirtschaftsstudiums bekam er rasch eine Stelle, musste sich aber damit abfinden, dass diese befristet war. Danach war er eine Weile ohne festen Job. Es war Sommer, und viele seiner Freundinnen und Freunde beneideten ihn um die freie Zeit, die er im Schwimmbad verbringen konnte. Dann fand er einen weiteren temporären Job, der ihm Spaß machte, aber sehr fordernd war. Schließlich machte er sich als Berater selbstständig und war darin auch erfolgreich. Jedoch hatte er nach mehreren Jahren ein Burn-out, das ihn in eine Burn-out-Klinik brachte. Sein Umfeld war verwundert, hatte es Thomas doch immer gut gelaunt und mit einem sehr lockeren Zeitkorsett erlebt. Manche waren sogar etwas neidisch gewesen, wenn sie nach einem Fest frühmorgens wieder zur Arbeit mussten und Thomas, der sich die Zeit selbst einteilen konnte, ausschlief. In seinem Berufsleben hatte Thomas oft freie Zeit – doch war sie nicht selbst bestimmt. Auch war er beständig bemüht, sich neue Arbeitsfelder zu erarbeiten, an seiner persönlichen Haltung gegenüber Klienten zu feilen und sich selbst zu optimieren. Die Zeit, die er im Schwimmbad verbrachte, war nur aus der Sicht jener entspannt, die in geregelte Arbeitsprozesse eingespannt waren. Thomas’ Gedanken jedoch kreisten trotz Sonne und Wasser um Arbeit – ob er eine neue Stelle finden würde, wie lange er diese behalten könnte, ob er gut genug in seiner neuen Position sein würde, die gestellten Aufgaben zur Zufriedenheit der Kundinnen1 erfüllen könnte usw. Die aufpoppenden Nachrichten auf dem Mobiltelefon und in den sozialen Medien, bei denen sich Arbeit und Privatleben mischten, beanspruchten seine Aufmerksamkeit und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Bei seinem Aufenthalt in der Klinik lernte Thomas Übungen, die ihm helfen sollten, achtsamer mit seiner Aufmerksamkeit und seiner Lebenszeit umzugehen, auch nach dem Aufenthalt in der Burn-out-Klinik bei der Rückkehr in die Arbeitswelt.

1.2 Ein kurzer Überblick

Viele Arbeits- und Lebensprobleme, die Menschen wie Anna, Nora und Thomas bewegen und gelegentlich zur Verzweiflung treiben, sind »stressig« – eine Abfolge von kleinsten, kleinen und größeren Katastrophen, die alle zusammen das Leben schwierig machen. »Full Catastrophe Living« heißt das Buch von Jon Kabat-Zinn, das 1990 erstmals erschien und das Achtsamkeit – eine Praxis aus dem Buddhismus – als Heilmittel gegen Stress propagierte. In den folgenden Jahrzehnten wurde Achtsamkeit zu einer Art Zauberwort für Hilfe in allen Lebenslagen – und gleichzeitig ein Industriezweig, dessen Umsätze in Milliardenhöhe liegen. 2020 nutzten etwa mehr als 60 Millionen Menschen in 190 Ländern die Achtsamkeits-App »Headspace«2, und große Unternehmen wie Google oder auch Bosch bieten Achtsamkeitskurse zur Prophylaxe gegen Stress und Burn-out an.

Der Beginn des Achtsamkeitsbooms fällt in die 2000er Jahre: Aufstieg und Fall der Dotcom-Ökonomie, Terroranschläge in New York, Madrid und Mumbai, Kriege im Irak und Afghanistan, der Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Großmacht, Immobilienblase, Bankenkrach und internationale Finanzkrisen, die Macht sozialer Netzwerke und international zunehmende soziale Ungleichheiten – Tendenzen, die sich in den Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts fortsetzen. Seit den Nullerjahren des 21. Jahrhunderts ist auch ein durch quantitative Studien belegter deutlicher Anstieg von Stress und Burn-out zu verzeichnen und ebenso eine verstärkte gesellschaftliche Diskussion darüber (Neckel u. Wagner, 2013). Dass Stress und Burn-out mit der Situation am Arbeitsplatz zu tun haben, wird 2019 durch die Aufnahme von Burn-out in der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) festgeschrieben, der international gültigen Klassifikation von Krankheiten, an der sich Ärzte und Krankenhäuser weltweit für die Diagnosestellung orientieren.

Der Boom von Achtsamkeit in den Industriestaaten des Nordens ist nicht zu trennen von sozialen und ökonomischen Veränderungen und der Geschichte der Arbeitswelt. Den globalen Süden als Zulieferer für die »imperiale Lebensweise« (Brand u. Wisser, 2017) des Nordens betreffen die Veränderungen in anderer Form und unter...

Erscheint lt. Verlag 14.11.2022
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Achtsamkeit • Achtsamkeitstraining • Bewusstsein • Buddhismus • Entschleunigung • Lebenshilfe • MBSR • Meditation • mindfulness based stress reduction • Ökonomisierung • Östliche Philosophie • Psychologie • Religionswissenschaften • Religiosität • Selbstoptimierung • Spiritualität • Stress • Stressreduktion • Stressreduzierung • Yoga
ISBN-10 3-647-99961-X / 364799961X
ISBN-13 978-3-647-99961-6 / 9783647999616
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