Trauma und Lebenswege (eBook)
224 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12166-7 (ISBN)
Elke Garbe, Psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin, Diplom-Sozialpädagogin, Supervisorin, war Leiterin einer Erziehungsberatungsstelle in einem problematischen Stadtteil, Lehrbeauftragte an der Hamburger Universität und einer Fachhochschule und übt rege Lehr-, Supervisions- und Fortbildungstätigkeiten aus. >> www.elke-garbe.de
Elke Garbe, Psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin, Diplom-Sozialpädagogin, Supervisorin, war Leiterin einer Erziehungsberatungsstelle in einem problematischen Stadtteil, Lehrbeauftragte an der Hamburger Universität und einer Fachhochschule und übt rege Lehr-, Supervisions- und Fortbildungstätigkeiten aus. >> www.elke-garbe.de
Kapitel 2
Traumatherapie
2.1 Kurze Geschichte der Traumatherapie
Trauma, seine Folgen und Bewältigung waren schon immer Themen in Mythen, Märchen und Sagen. So wie es auch friedliche Entwicklungszeiten im Leben der Menschen gab, wurden sie immer wieder von Phasen der Gewalt, Verfolgung und anderen Belastungen unterbrochen. Mit der Entwicklung der Psychoanalyse (Charcot, Janet, Freud) und dem Beginn der Erforschung psychischer Erkrankungen entstanden Ende des 19. Jahrhunderts erste Theorien zum Zusammenhang von Gewalterfahrung und deren Auswirkung auf die Gesundheit. In den 1970er-Jahren erfuhr die Traumaforschung und die bis dahin entwickelten Ansätze der traumatherapeutischen Behandlung einen neuen Aufschwung. Dies vor allem durch die Konfrontation mit den traumatisierten und schwer integrierbaren Vietnam-Kriegsveteranen in den USA. Weitere Impulse kamen durch die Beschäftigung mit den generationsübergreifenden Folgen des Holocaust und aus der Frauenbewegung. Die Auseinandersetzung mit den Themen sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung in der Kindheit unter dem Gesichtspunkt der Traumatisierung folgten. In den letzten Jahren richtete sich der Blick auch auf die Themen Flucht, Vertreibung und Zwangsprostitution.
Aufgrund dieser Entwicklung wissen wir heute vieles darüber, was ein Trauma ist, welche Schäden in einem Menschen aufgrund traumatischer Erfahrungen entstehen können und wie auch das Leben danach schwer beeinträchtigt sein kann. Wir wissen aber auch mehr darüber, was hilft, diese Einbrüche zu bewältigen, anstatt ihnen zu unterliegen (Resilienz). Und wir haben Erkenntnisse dazu, wie Traumafolgestörungen wieder heilen können. Hier spielen vor allem neurobiologische Forschungsergebnisse und Forschungen zur Bindungs- und Entwicklungstheorie eine wichtige Rolle. Seit Erscheinen des bahnbrechenden Buches von Judith Herman »Die Narben der Gewalt« (1994) bis zur Veröffentlichung des ersten deutschsprachigen wissenschaftlichen Standardbuchs »Lehrbuch der Psychotraumatologie« (Fischer & Riedesser 1999) hat sich innerhalb der psychotherapeutischen Behandlungsmethoden eine enorme Veränderung der Sicht auf das Trauma und der daraus folgenden Behandlungsplanung ergeben. Hilfreich dabei war auch die Integration neuer neurobiologischer Forschungsergebnisse. Dies ermöglicht es uns heute, nicht mehr zwischen psychisch und somatisch unterscheiden zu müssen, sondern den Organismus als ein großes Netzwerk psychischer, kognitiver und somatischer Prozesse zu verstehen.
Als ich die Psychotherapie mit Martha durchführte und danach das Buch »Martha, Psychotherapie eines Mädchens nach sexuellem Missbrauch« veröffentlicht wurde (Garbe 1991), waren das Buch von Judith Herman und viele weitere Fachbücher über die Behandlung von Traumafolgestörungen noch gar nicht erschienen. Der gesellschaftliche Diskurs, dem ich mich damals zugehörig fühlte, konzentrierte sich auf die feministisch gefärbte Debatte des sexuellen Missbrauches durch Bindungstäter und deren Folgen für die Kinder. Viele Psychotherapeutinnen, Ärzte, Pädagoginnen sahen sich mit dem Fakt sexueller Übergriffe und Verletzungen vor allem innerhalb maligner Familiensysteme konfrontiert und suchten nach Antworten.
Ich war damals Leiterin einer Erziehungsberatungsstelle, die sich in einem benachteiligten Stadtteil einer Großstadt befand. Wir waren als Team mit dem Vorhandensein des sexuellen Missbrauches in Familien alltäglich befasst und suchten ebenso nach Antworten. In diesem Zusammenhang führte ich die Therapie mit Martha durch, ein 9-jähriges Mädchen, das von ihrem Stiefvater über Jahre sexuell missbraucht worden war. Ich griff als feministisch und sozialpsychiatrisch orientierte Sozialpädagogin und Psychologin auf mein vorhandenes therapeutisches Wissen zurück, nutzte meine Kenntnisse der humanistischen Therapiemethoden, gepaart mit tiefenpsychologischem Fachwissen, und integrierte traumatherapeutische Methoden, so wie sie mir damals sinnvoll erschienen.
2.2 Definition, Diagnosen, Traumatyp 1 und 2
In der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) wird Trauma wie folgt diagnostiziert: »Ein Trauma ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde (Dilling et al. 1999, S. 169). In der ICD-11 befinden sich nun weitere Diagnosen, so die Diagnose der komplexen Traumafolgestörung, die eine differenziertere Diagnostik möglich machen.
Obwohl die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) bereits im 19. Jahrhundert Gegenstand von wissenschaftlicher Forschung war, fand die Diagnose erst 1980 Eingang in das amerikanische Diagnose-Manual DSM, das »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (Falkai & Wittchen 2015). Diese Entwicklung war eine notwendige Folge gegenüber der Hilflosigkeit der aus dem Vietnamkrieg (1955–1975) heimkehrenden amerikanischen Soldaten und deren Symptomatik (Post-Vietnam-Syndrom). Auf diesem Hintergrund ist auch das erwähnte Buch von Judith Herman 1994 zu verstehen. Sie wies bereits damals darauf hin, dass es notwendig sei, zwischen einfacher Traumatisierung (Typ 1) und komplexer Traumatisierung (Typ 2) zu unterscheiden, da die Symptomatik unterschiedlich komplex sei und die psychotherapeutische Behandlung entsprechend angepasst werden müsste. Dieser Position wird nun auch bei der Überarbeitung des DSM Rechnung getragen. In der nächsten Herausgabe des DSM und der ICD soll die Diagnose »komplexe posttraumatische Belastungsstörung« aufgenommen werden.
Die Diagnose posttraumatische Belastungsstörung (ICD 10, F43.1) beschreibt im Wesentlichen den Traumatyp 1. Folgende Symptome müssen diagnostiziert worden sein: Vermeidung, Intrusion, Übererregung in Verbindung mit einem traumatischen Ereignis, das ein halbes Jahr zurückliegen soll. Für die Behandlung gibt es inzwischen eine Vielzahl von Behandlungsvorgaben, die sich in der Regel aus den klassischen Schritten 1. Stabilisierung, 2. Konfrontation, 3. Integration zusammensetzen.
Der Traumatyp 2 bezeichnet dagegen die vielfältige Symptomatik einer komplexen Traumafolgestörung. Sie tritt in der Regel nach seriellen und komplexen Traumatisierungen auf, die oft in der frühen Kindheit und Jugend beginnen, aber auch während der gesamten Lebensspanne stattfinden können. Häufig wird sie verursacht durch Bindungspersonen, auf die der Mensch angewiesen ist. Oder sie geschehen in bedrohlichen Situationen, aus denen der Mensch nicht fliehen kann, wie Aufwachsen in Armut oder im Krieg. Entwicklung geschieht ein Leben lang, sie kann durch schwere und wiederholte traumatische Ereignisse schwer beeinträchtigt werden. Dies vor allem dann, wenn weitere Risikofaktoren vorherrschen und nicht über eine ausreichende Resilienz und Unterstützung verfügt wird.
Heute ist es fachlicher Konsens, dass die Folgen des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit, ebenso wie seelische, kognitive und körperliche Vernachlässigung und andere Formen der seelischen und körperlichen Misshandlungen traumatisierend wirken. Die daraus entstehenden Symptome sind in der Regel als komplexe Traumafolgestörung zu diagnostizieren. Neben dieser Diagnose bestehen häufig andere Diagnosen, wie z. B. Angst, Depression, Dissoziation, somatoforme Störungen, emotionale Störung des Kindesalters, Entwicklungsverzögerung, ADHS. Eine gute Diagnostik einschließlich der gründlichen Erhebung der Anamnese ist Voraussetzung für weiteres therapeutisches Handeln. Die Begriffe Bindungstraumatisierung (Brisch 2017) und Entwicklungstraumatisierung (Garbe 2022; Streeck-Fischer 2006; van der Kolk 2015) spielen in diesem Zusammenhang oft eine Rolle. Während der Begriff der Entwicklungstraumatisierung seinen Schwerpunkt auf die Tatsache legt, dass Entwicklungsverläufe durch traumatische Erfahrungen stark beeinträchtigt werden können, richtet der Begriff der Bindungstraumatisierung seinen Schwerpunkt auf die Beeinträchtigung der Bindungsqualität als einen wichtigen resilienten bzw. risikoreichen Faktor für die weitere Entwicklung. Beide Begriffe sind als Unterbegriffe komplexer Traumafolgestörungen zu verstehen. Sie legen ihren Fokus einerseits auf das Erleben kindlicher Traumatisierungen. Die Beeinträchtigung geschieht vor allem dann, wenn die Verantwortung dafür innerhalb eines Familiensystems oder anderen Lebensgemeinschaften liegt, also Bindungspersonen Verursacher sind,...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Traumatherapie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Entwicklungstrauma • Fallberichte • Leben mit Trauma • Missbrauch • Patienteninterview • Psychotherapie • Qualitative Interviews • Resilienz • Ressourcen • Tiefenpsychologische Psychotherapie • Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie • Trauma • Traumabewältigung • Traumata • Traumatherapie • Überlebensstrategien |
ISBN-10 | 3-608-12166-8 / 3608121668 |
ISBN-13 | 978-3-608-12166-7 / 9783608121667 |
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