Es kann nicht jeder ein Gelehrter sein (eBook)

Eine Kulturgeschichte der jiddischen Literatur 1105-1597
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
500 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-77483-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Es kann nicht jeder ein Gelehrter sein -  Susanne Klingenstein
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Gelacht und gedacht, erzählt und erzogen wurde in jiddischer Sprache seit dem Hochmittelalter. Auf den letzten Blättern gelehrter Bücher finden wir Rezepte, Zaubersprüche und Gebete. Gereimte Epen kursierten in Abschriften zum geselligen Vortrag. Ein Konvolut von 1382 aus Kairo bezeugt, dass Juden mit deutscher Literatur bestens vertraut waren und sie witzig adaptierten.

Aus Geldnot begannen findige Unternehmer im frühen 16. Jahrhundert in Krakau, Augsburg und Venedig mit dem Druck jiddischer Bücher. Jetzt hatten auch Frauen und ungelehrte Männer Zugang zur Bibel und den Religionsvorschriften. Deutsche Reformatoren sahen in jiddischen Bibeln eine Gelegenheit zur Judenmission. Doch die Verbreitung jiddischer Bücher schürte nicht die Feuer des Aufbruchs, sondern stärkte den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Sie machte die Frauen unabhängiger und selbstbewusster, denn sie kannten nun die Gesetze. Und an langen Sabbatnachmittagen lasen sie von den Abenteuern jüdischer Helden.

Susanne Klingenstein erzählt erstmals die spannende Geschichte der frühen jiddischen Literatur: Wer jiddische Literatur liebt, kann nun ihre Anfänge kennenlernen.

Susanne Klingenstein, geboren 1959 in Baden-Baden, ist Research Fellow am Zentrum f&uuml;r J&uuml;dische Studien an der Harvard University. Sie ver&ouml;ffentlichte Studien zur Identit&auml;tsbildung j&uuml;discher Literaturwissenschaftler, &uuml;bersetzte bedeutende Erz&auml;hlungen aus dem Jiddischen, schrieb ein Buch &uuml;ber Martin Walser und zuletzt die Studie <em>Mendele der Buchh&auml;ndler. Leben und Werk des Sholem Yankev Abramovitsh. Eine Geschichte der jiddischen Literatur zwischen Berdichev und Odessa, 1835-1917.</em>

13Doppelstrang


Im Jahr 1965 erschien in Zürich ein Band mit Erzählungen des jiddischen Schriftstellers Mendel Mann. Im Vorwort schrieb Manès Sperber: »Die jiddische Literatur ist kaum älter als 100 Jahre; während des ersten Weltkrieges starben ihre Begründer: Mendele Mocher-Sforim, Schalom Alechem und J. ‌L. Peretz. Deren Jünger und Nachfolger: Schalom Asch, Joseph Opatoschu, David Bergelson und so viele andere, sind nicht mehr. Manche sind eines natürlichen Todes gestorben, andere kamen in der Mitte ihres Volkes um, das die Nazis ausrotteten. Wieder andere sind in Stalins Lagern zugrunde gegangen. Und die besten jiddischen Dichter Europas sind am 12. August 1952 in Moskau erschossen worden.« Mendel Mann, fuhr Sperber fort, »gehört zur dritten Generation der jiddischen Schriftsteller. Jene, die ihre Leser gewesen wären – in Polen und in der Ukraine, in Litauen und in Weißrußland, sind nicht mehr. Daher schreiben diese Dichter in einer verwaisten Sprache, der erst Leser gewonnen werden müssen.«1

Es scheint ungeschickt, ein Buch über die dynamischen Anfänge der jiddischen Literatur in den jüdischen Metropolen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit ihrer Todesanzeige zu eröffnen. Doch wer heute in deutscher Sprache ein Buch über jiddische Literatur liest, wird dies meist im Bewusstsein ihres Endes tun. Der Tod aber verstellt den Blick aufs Leben.

Wie keine andere Weltliteratur ist die jiddische Literatur überfrachtet von religiösen und politischen Ideologien und Hoffnungen, von Erwartungen und Vorurteilen. Das ist schon seit dem frühen 16. Jahrhundert der Fall, als christliche Hebraisten und Konvertiten rudimentäre Grammatiken und Wörterbücher zur jiddischen Sprache schrieben, sei es, um die Judenmission zu befördern, sei es, um die Juden zum Schutz der Christen bloßzustellen, sie zu »entdecken«, wie es damals hieß. Wer sich 14mit der Geschichte der jiddischen Literatur befasst, hat immer mit einer Doppelhelix zu tun: Auf der einen Seite steht die Entwicklung der jiddischen Literatur selbst, ein gewundener, vielfaseriger Strang, der spätestens im 13. Jahrhundert seinen Anfang nimmt und bis ins Heute reicht. Sein erstes Viertel, die Zeit von etwa 1100 bis 1600, wird in diesem Band beschrieben. Auf der anderen Seite steht die Wahrnehmung dieser Literatur, ebenfalls ein langer Strang, der im frühen 16. Jahrhundert beginnt. Insbesondere im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts hielt man die jiddische Sprache auch für einen Spiegel der moralischen Korruptheit der Juden. Denn wer »verdorbenes« Deutsch sprach, musste auch selbst verdorben sein.

Dass solche Projektionen möglich waren, hat einerseits mit der Haltung gegenüber Juden zu tun (denn wie man eine Sprache einschätzt, wird bestimmt vom Prestige ihrer Nutzer2) und andererseits mit der Besonderheit des Jiddischen, das zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert vermutlich im mitteldeutschen Sprachraum seinen Anfang nahm.3 Seit dem 16. Jahrhundert entwickelte es sich in Osteuropa von Riga bis Odessa und von Lemberg/Lviv bis Kiew in verschiedenen dialektalen Varianten zur Alltagssprache der Juden und wurde schließlich auf der ersten jiddischen Sprachkonferenz in Czernowitz 1908 zu einer Nationalsprache der Juden erklärt.

Doch im Gegensatz zu Deutsch oder Französisch fand Jiddisch lange keinen Rückhalt in den Institutionen eines Nationalstaats, die für die Standardisierung von Schreibung, Grammatik und Wortschatz hätten sorgen können.4 Allerdings wurde Jiddisch bis Ende des 19. Jahrhunderts auch nicht wie andere nationale Sprachen ideologisch vereinnahmt. Es fehlen im Jiddischen rhetorisches Säbelrasseln und Drohgebärden, aber es fehlten eben lange auch die öffentlichen Reden und politischen Schriften, die einem Volk Konturen verleihen und das nationale Selbstverständnis definieren. Jiddisch hatte bis 1897, als der Zionismus und die jüdische Arbeiterbewegung erstmals organisiert hervor15traten, häuslichen und familiären Charakter.5 Es wurde bis 1925 von keiner Akademie verwaltet und war darum als Sprache auf ganz eigene Weise frei.

Hefker (הפקר) nannte der Dichter Itsik Manger diesen Zustand. Ein verlassenes Haus oder ein Waisenkind sind hefker. Das Wort bedeutet verlassen, preisgegeben, schutzlos.6 Jiddisch war eine Sprache ohne Staatsgebilde und Armee. Obwohl es um 1900 bereits eine alte und anspruchsvolle Literatur in jiddischer Sprache gab, blieb Jiddisch, insbesondere in der Wahrnehmung von außen, verknüpft mit der Fluidität einer nur gesprochenen, nicht formalisierten, ästhetisierten oder verbürgerlichten Sprache. Jiddisch ist »di shprakh vos redt zikh«.7 Diese Assoziation schuf Ambivalenz. Denn mit Mündlichkeit verbinden wir einerseits Positives: Authentizität, Individualität, Intimität, Emotionalität, Improvisation, Mutterwitz, Bodenständigkeit, Zugehörigkeit zu Volk oder Ethnie, und andererseits Negatives: Instabilität, Bildungsmangel und Vulgarität. Mündlichkeit lässt Zweifel aufkommen, ob eine Sprache zu wissenschaftlicher Präzision und ästhetischer Form fähig ist.8 Platon, Shakespeare, Kant schienen westlichen Intellektuellen in jiddischer Übersetzung lange schwer vorstellbar.

Nach der gescheiterten Russischen Revolution von 1905 begannen junge Juden, die in der Revolution politisch aktiv gewesen waren, sich in Wilna, Warschau und St. Petersburg für die Standardisierung des Jiddischen und die ethnographische Erfassung der jiddischen Volkskultur einzusetzen. Ihr Engagement ist in etwa vergleichbar mit dem der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm für die deutsche Sprache. In beiden Fällen sollten das genaue Erfassen der Sprache und die Sammlung mündlich tradierter Gebräuche, Lieder und Erzählungen zu einem national einigenden Fundament für ein regional diverses und politisch rechtloses Volk geformt werden. Der Erste Weltkrieg unterbrach das jüdische Unternehmen. Die Kriegshandlungen an der Ostfront, die Revolution von 1917, der nachfolgende Bürgerkrieg 16und der sowjetisch-polnische Krieg sowie die Hungersnöte und Pogrome in den Jahren 1918 bis 1921 zerstörten die ökonomische und kulturelle Infrastruktur im alten ostjüdischen Siedlungsgebiet (Polen, Litauen, Weißrussland, Ukraine), das mit der Errichtung der Sowjetunion gespalten wurde. In wissenschaftlichen Instituten und Verlagen in Kiew, Charkow, Minsk und Moskau begann die Sowjetisierung der jiddischen Kultur. In Warschau und Wilna erblühte das literarische Leben in jiddischer Sprache. In Berlin wurde im Frühjahr 1925 das Jüdische Forschungsinstitut (Yidisher visnshaftlekher institut, YIVO) gegründet und im Herbst nach Wilna verlegt. Bis zur Besetzung der Stadt durch deutsche Truppen im Juni 1941 publizierten die Gelehrten des YIVO philologische, historische, ethnographische und statistische Arbeiten auf hohem Niveau und bewiesen, dass Jiddisch zu jeder Form des Ausdrucks fähig war.9 Wären diese jungen Akademiker und ihre Institutionen nicht mit der gesamten Matrix der jiddischen Kultur im Holocaust untergegangen, hätte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts im westlichen Europa wohl bald eine andere Auffassung des Jiddischen etabliert. Aber so überlebte die über Jahrhunderte hinweg eingeübte Wahrnehmung der Mündlichkeit der jiddischen Kultur und ihre Assoziation mit Authentizität, Komik und Vulgarität10 und die Vorstellung ihres kurzen literarischen Lebens. Der Bibliograph Moritz Steinschneider, der es hätte besser wissen können, fasste das literarische Potential der jiddischen Sprache 1904 in dem Satz zusammen: »Selbst der Ausdruck eines poetischen Gemüts kann im Jargon nur Mitleid nicht Bewunderung erwecken; Jargon ist niemals ›schön‹.«11

In den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hätte die Chance bestanden, diese Wahrnehmung zu korrigieren. Schon im April 1945 begannen die Überlebenden der Ghettos und Lager mit der Arbeit der Restauration: Sammlung, Sichtung, Verwahrung, Rückbesinnung, Neubesinnung, Aufbau und Neuschöpfung. Wer als Schriftsteller in ein Ghetto oder Lager 17geraten war, verließ es auch als...

Erscheint lt. Verlag 21.11.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Judentum
Schlagworte aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Jiddisch • Judentum • jüdische Helden • jüdische Literatur • jüdisches Leben im Mittelalter • Neuerscheinungen • neues Buch • Rabbiner • Sabbat
ISBN-10 3-633-77483-1 / 3633774831
ISBN-13 978-3-633-77483-8 / 9783633774838
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