Toponymische Klassifikatoren und der koloniale Blick (eBook)
211 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-100760-1 (ISBN)
Koloniale und Postkoloniale Linguistik / Colonial and Postcolonial Linguistics (KPL/CPL) provides the platform for a new research program which is currently taking shape in the realm of linguistics, viz. 'Colonial and Postcolonial Linguistics'. This new sub-discipline of linguistics is inspired by the work carried out within the framework of Missionary Linguistics and by the recent discussion about language, linguistics and colonialism. The integration of these two perspectives in one approach makes 'Colonial and Postcolonial Linguistics' special.
KPL/CPL serves the purpose of making accessible to the interested public (linguists, historians, native speakers of the object languages, etc.) and commenting upon those texts the topic of which are languages of the former European possessions in overseas and which were written during the European colonial era. The focus is on hitherto unpublished manuscripts and texts which nowadays are hard to come by. KPL/CPL also investigate in what ways the cultural and political discourse of the (post-)colonial times is reflected in the contemporary linguistic contributions dedicated to the languages of the colonized peoples.
The new series publishes monographs and collections of articles. All incoming manuscripts are peer-reviewed (double blind). The languages of publication are preferably English and German.
Jascha de Bloom, Universität Bremen, Deutschland
1 Ortsnamen und der koloniale Blick
Platz. Was ist das? Nichts. Ein Fleckchen Gras zwischen den Bahngleisen. Der Wavrinsky-Platz. Alles ist ein Platz.1
In seiner pseudobiografischen Erzählung Ansiktsburk durchlebt John A. Lindqvist eine paranoide Episode auf dem Weg durch Göteborg. Dabei schildert er einen kurzen Moment der Entfremdung von seinem physischen Umfeld – die Straßenbahnhaltestelle Wavrinskys plats im Stadtteil Guldsheden erscheint ihm plötzlich unwirklich. Er konstatiert, ein Platz sei zugleich alles und nichts. Lindqvists kurze Überlegung am Rande des eigentlichen Erzählgeschehens liest sich wie die beiläufige Paraphrase eines Grundgedankens der Place-Making-Theorie – und zwar, dass es sich bei Plätzen und anderen Orten als distinkte Ausschnitte von abstraktem Raum lediglich um Konstrukte handelt, die nicht außerhalb menschlicher Wahrnehmung existieren. Obwohl Lindqvist seinen Gedanken genauso prägnant wie rational umschreibt, bettet er ihn in einen Kontext des psychischen Ausnahmezustands ein: Das narrative Ich wird von der Infragestellung seiner gewohnten Wahrnehmung regelrecht aus der Bahn geworfen.
Selbstverständlich gehören Orte als kognitive Größen, im kommunikativen Austausch oder als Träger von Ortsnamen (Toponymen) auch zur sprachlichen Realität außerhalb von Lindqvists Erzählung. Sie sind von besonderem Interesse für eine Linguistik des Raums, die sich mit dem Verhältnis von Sprache und Landschaft beschäftigt: Die Herausbildung von Orten im Raum beschreiben Busse & Warnke (2014) als Place-Making oder Ortsherstellung, bei der jeder Ort grundsätzlich durch drei räumliche Modi dimensional, aktional und repräsentational charakterisiert wird. Analysiert man Orte im Hinblick auf diese Modi, wird die Subjektivität und Voreingenommenheit von räumlicher Wahrnehmung offenbar: Der unbestimmte, irrelevante Raum besitzt einen grundsätzlichen „dimensionalen Modus der Ausdehnung“ und wird erst durch intendierte „aktionale Prägungen“ (Dunker, Stolz & Warnke 2017: viii; Hervorh. i. O.) durch den Menschen zu einem Ort von Interesse. Mit dem komplexen Vorgang der Ortsherstellung, der bei allen Sprecher*innen durch sprachliche und kognitive Gewohnheiten voreingenommen ist, beschäftige ich mich in dieser Arbeit.
Dabei gehen Untersuchungen zum linguistischen Place-Making weit über die grammatikalische Analyse von Ortsnamen oder vom Sprechen über Orte hinaus. Vielmehr ist die Ortsherstellung ein intendierter Vorgang, der Deutungs- und Besitzansprüche ausdrückt und in dem sich Machtverhältnisse manifestieren. Denn die aktionale Prägung des Raums geschieht nicht immer im Einverständnis aller Personen, die ihn bewohnen. Ein besonders deutliches Beispiel hierfür ist der europäische Kolonialismus, der den historischen Rahmen meiner Arbeit darstellt. In seinen globalen Ausmaßen steht er wie kaum eine andere Epoche für die gewaltsame Aneignung und Ausbeutung von Raum und den darin lebenden Menschen. Die zentrale Rolle des Place-Makings im Kolonialismus machen Dunker, Stolz & Warnke (2017: vii–viii; Hervorh. i. O.) deutlich: „Koloniale Raumaneignung ist […] Raumberaubung, d. h. eine Form der kulturellen Zwangskodierung sowie Relationierung in einem Koordinatensystem von hier vs. dort, von Zentrum vs. Peripherie, Metropole vs. Kolonie.“
Ortsherstellung – zum Beispiel über die Verwendung von Kolonialtoponymen2 – stellt eine solche kulturelle Zwangskodierung dar. Das Beispiel Kolonialismus zeigt deutlich, dass die Aneignung von fremdem Raum nicht nur mit Waffengewalt oder auf dem institutionalisierten Wege der Schutzbriefe und Pachtverträge geschieht, sondern auch über sprachliche Handlungen wie die Benennung der begehrten Landschaft. Für die enorme Bedeutung des Place-Makings spricht auch die Tatsache, dass sich Kolonialtoponyme in den Sprachen sämtlicher kolonisierender Nationen feststellen lassen.3 Sie flächendeckend anzubringen und gegenüber Endonymen4 bzw. Exonymen5 aus anderen Kolonialsprachen durchzusetzen, gehört mitunter zu den ersten Bestrebungen einer Kolonialmacht in einer neu erworbenen Kolonie (vgl. Schuster 2018: 163).
Das Hauptanliegen dieser Arbeit besteht darin, die namenbezogenen Merkmale einer spezifischen, kolonialen Raumwahrnehmung zu beschreiben.
Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass sich der Kolonialismus global und unabhängig von einzelnen agierenden Personen und Gruppen auswirkt. Hierin besteht ein programmatischer Grundsatz der vergleichenden Kolonialtoponomastik, in der ich meine Arbeit weitestgehend verorte (s. Kap. 1.4). Sie geht davon aus, dass einzelsprachlich begrenzte Untersuchungen von kolonialen Ortsnamen dem globalen Maßstab des Kolonialismus nicht gerecht werden (vgl. Stolz & Warnke 2018c: 7). Stattdessen soll ein komparativer Ansatz verhindern, dass eventuelle räumliche, sprachliche und kulturelle Besonderheiten vorschnell auf den Kolonialismus als Ganzes projiziert werden. Für meine Untersuchung, die sich vor allem mit deutschen Kolonialtoponymen beschäftigt, stellt sich insofern die Frage, welche Vergleichsgröße herangezogen werden kann, um die deutschen Befunde in einem weiteren europäischen Kontext zu verorten. Im folgenden Kapitel erläutere ich, warum ich den schwedischen Kolonialismus dafür als besonders geeignet betrachte. Zudem werden beide Kolonialismen zeitlich und räumlich eingeordnet.
In der vorliegenden Arbeit folge ich gängigen linguistischen Notationskonventionen: Den objektsprachlichen Gebrauch bestimmter Ausdrücke markiere ich durch Kursivierung, Bedeutungsangaben und semantische Paraphrasen werden in einfachen Anführungszeichen dargestellt. Eine besondere Form der Notation erfordert die Darstellung von semantischen Frame-Strukturen, die für die Arbeit besonders relevant sind. Hierfür orientiere ich mich an der Darstellungsweise von Busse (2012), auf die ich an gegebener Stelle genauer eingehe (s. Kap. 3.2.2). Um die morphologische bzw. phraseologische Struktur von komplexen Toponymen präzise darzustellen, verwende ich eine indizierte Klammerung in Anlehnung an Stolz & Warnke (2015), deren Notationssystem sich in weiten Teilen der vergleichenden Kolonialtoponomastik durchgesetzt hat.
1.1 Deutscher und schwedischer Kolonialismus
Was genau mit Kolonialismus gemeint ist, kann sich im alltäglichen und im fachlichen Sprachgebrauch deutlich voneinander unterscheiden. In seiner alltagssprachlichen Verwendung meint der Ausdruck häufig einen rein politischen Sachverhalt. Nicht selten entsteht der Eindruck einer politisch definierten, historischen Epoche, was in der postkolonialen6 Zeit allerdings kaum mehr aktuell ist. Castro Varela & Dhawan (2015: 16) brechen ein verbreitetes Verständnis von Kolonialismus auf, das in seiner historischen Bewertung selbst eurozentrische Züge annimmt. Sie charakterisieren Kolonialismus als ein „europäisches wie außereuropäisches Gesamtphänomen“. Dabei sind die Positionen von Akteur*innen manchmal durchaus unübersichtlich: Kolonisierte und Kolonisierende stehen in einer komplexen und untrennbaren Verbindung zueinander. In Bezug auf radikal-dekoloniale Ansätze warnen etwa Conrad & Randeria (2002:
13) vor einem „nostalgische[n] Rekurs auf vorgeblich ‚reine‘ und ‚authentische‘ Traditionen außerhalb des europäischen Einflusses“. Dieser sei nicht förderlich, um eurozentrische Perspektiven zu überwinden. Darüber hinaus räumen Castro Varela & Dhawan (2015: 16) mit einem ebenso weit verbreiteten historisierenden Kolonialismus-Begriff auf:
Neokolonialismus […] und Rekolonisierungstendenzen zeigen […] an, dass der Kolonialismus immer neue Wege findet und Strategien entwirft, um sich die Ressourcen der vormals kolonisierten Länder zu sichern. Kolonialismus ist damit nicht ausschließlich Stoff für staubige Geschichtsbücher, denn spezifische Unterdrückungsformen sind durchaus weiterhin aktuell, während andere immer wieder revitalisiert werden.
Einen ähnlich differenzierten Ansatz, der sich besonders für die geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema eignet, entwirft die Forschungsgruppe Koloniallinguistik um Dewein, Engelberg, Hackmack, Karg, Kellermeier-Rehbein, Mühlhäusler, Schmidt-Brücken, Schneemann, Stolberg, Stolz & Warnke (2012: 243; Hervorh. i. O.). Sie schlägt eine Präzisierung mithilfe von drei Adjektiven vor:
[…] kolonial (räumlich-zeitlicher Bezug auf die Kolonien etwa des Deutschen Reiches von 1884 bis 1919), kolonisatorisch (koloniale Praxis mit machtpolitischem, wirtschaftlichem, militärischem, kulturellem etc. Anspruch) und kolonialistisch (ideologische Haltung, die aber nicht an die historische Periode des faktischen Kolonialismus gebunden sein muss, sondern zeitlich auch vor- und nachgelagert sein kann).
Wenn in dieser Arbeit unkommentiert vom deutschen Kolonialismus die Rede ist, beziehe ich mich damit auf die erste dargestellte Bedeutungsebene – den Zeitraum von 1884 bis 1919. Dass der Kolonialismus als Ideologie auch nach 1919 weiterlebt, soll bei dieser engen Definition nicht verschwiegen werden: Zum Beispiel hat die Geschichtswissenschaft den deutschen...
Erscheint lt. Verlag | 21.11.2022 |
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Reihe/Serie | ISSN |
ISSN | |
Koloniale und Postkoloniale Linguistik / Colonial and Postcolonial Linguistics (KPL/CPL) | Koloniale und Postkoloniale Linguistik / Colonial and Postcolonial Linguistics (KPL/CPL) |
Zusatzinfo | 14 b/w and 2 col. ill., 26 b/w tbl. |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Sprachwissenschaft |
Schlagworte | Ontologische Kategorien • Ortsnamen • Place Making • Postkolonialismus |
ISBN-10 | 3-11-100760-X / 311100760X |
ISBN-13 | 978-3-11-100760-1 / 9783111007601 |
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