Tanztherapie mit Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungsstörungen (eBook)
220 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61704-3 (ISBN)
Susanne Bender, Tanztherapeutin, M.A., Ausbilderin, Lehrtherapeutin, Supervisorin BTD, Sonderpädagogin, Familien- und Paartherapeutin, arbeitet in privater Praxis und leitet das Europäische Zentrum für Tanztherapie EZETTHERA in München.Else Diederichs, Tanztherapeutin BTD, Ausbilderin, Lehrtherapeutin, Supervisorin BTD, langjährige Arbeit in einer jugendpsychiatrischen Abteilung, ist in eigener Praxis und als Dozentin in der Tanztherapieausbildung in München tätig.
Susanne Bender, Tanztherapeutin, M.A., Ausbilderin, Lehrtherapeutin, Supervisorin BTD, Sonderpädagogin, Familien- und Paartherapeutin, arbeitet in privater Praxis und leitet das Europäische Zentrum für Tanztherapie EZETTHERA in München.Else Diederichs, Tanztherapeutin BTD, Ausbilderin, Lehrtherapeutin, Supervisorin BTD, langjährige Arbeit in einer jugendpsychiatrischen Abteilung, ist in eigener Praxis und als Dozentin in der Tanztherapieausbildung in München tätig.
Bewegungsanalyse – Kestenberg Movement Profile
Susanne Bender
1Einleitung
Für Kinder ist der körperliche Ausdruck ein fundamentaler Aspekt ihres Seins. Der Säugling ist darauf angewiesen, dass die Bezugspersonen die körperlichen Zeichen seiner Bedürftigkeit richtig deuten.
Die Tanztherapie verfügt über ein differenziertes Bewegungsanalyseinstrumentarium, dass es TherapeutInnen und PädagogInnen ermöglicht, die psychophysische Aussage einer Bewegung zu erkennen und für die therapeutische oder pädagogische Intervention zu nutzen (Bender, 2021a; Laban, 1981, 1988). So lassen sich scheinbar seltsame Verhaltensweisen des Kindes in neuen Bedeutungszusammenhängen erkennen, werden verständlich und können in einen Behandlungsplan integriert werden. Eine Vertiefung dieser Theorie findet sich in Bender (2021a).
In diesem Kapitel werden kurz die acht Kategorien des Kestenberg Movement Profiles vorgestellt und für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen interpretiert. Die nachfolgenden praktischen Beispiele der tanztherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nimmt auf diese Theorie Bezug. Das Kestenberg Movement Profile setzt sich aus acht verschiedenen Kategorien zusammen:
1. Spannungsflusseigenschaften (Wie reguliert das Kind sein Temperament und seine Gefühle?),
2. Spannungsflussrhythmen (Mit welchen Themen verkörpert das Kind die psychische Energie und die momentane Bedürfnislage?),
3. Vorantriebe (Wie sind die Lernstrategien des Kindes?),
4. Antriebe (Wie zeigt das Kind seine Kompetenz?),
5. bipolarer Formfluss (Wie reguliert das Kind seine allgemeine Bedürftigkeit?),
6. unipolarer Formfluss (Wie reguliert das Kind seine gerichtete Bedürftigkeit?),
7. Richtungsbewegungen (Welche Verbindungen zur Umwelt stellt das Kind her?) und
8. Formen (Wie gestaltet das Kind die Beziehung?).
Die Abkürzungen für die Kategorien sind:
■SFRSpannungsflussrhythmen,
■SFESpannungsflusseigenschaften,
■VANVorantriebe,
■ANTAntriebe,
■BFFbipolarer Formfluss,
■UFFunipolarer Formfluss,
■RIBRichtungsbewegungen, und
■FORFormen.
2Temperament des Kindes – Spannungsflusseigenschaften (SFE)
Wenn sich das Kind bewegt, muss es entweder die Bewegung zurückhalten und die Muskelkontraktion kontrollieren, oder es kann die Bewegung frei fließen lassen und wenig Kontraktionen in der Muskulatur haben. Jede Bewegung hat eine bestimmte Art von muskulärer Kontrolle, die den typischen Fluss einer Bewegung ausmacht.
Das Kind hält den Becher in der Hand und kontrolliert alle Muskeln, damit nichts überschwappt. Das Kind springt auf dem Sofa herum und lässt sich lustvoll in Entspannung fallen.
Wir sehen also einen Wechsel von Muskelspannung im Körper, der aus gebundenen, kontrollierten und freien, unkontrollierten Bewegungen entsteht.
Bei einer gebundenen Bewegung kontrahieren der Agonist und der Antagonist gleichzeitig, sodass die Energie gebunden und im Körper festgehalten wird. Da Bewegung geführt, planvoll und kontrolliert ist, kann sie auch jederzeit gestoppt werden (Bender, 2021a). „Gebundener Fluss kann eine Reaktion auf Gefühle sein, die sich aus Bedingungen ergeben, die entweder als gefährlich, bedrohlich oder zu kontrollierend erlebt werden“ (Bender, 2021a, S. 10).
Das Kind steht zum ersten Mal auf den Skiern. Es ist sehr verunsichert und bindet den ganzen Körper und hält sich im gebundenen Fluss an der Mutter fest in der Hoffnung, damit das rutschige Gerät kontrollieren zu können.
„Wenn die Energie der Bewegung frei durch den Körper und sogar aus dem Körper herausfließt, sprechen wir von einem freien Fluss. Die Bewegung kann nicht unbedingt gestoppt werden, der Agonist funktioniert allein ohne große Kontrolle des antagonistischen Muskels“ (Bender, 2021a, S. 10).
Freier Bewegungsfluss zeigt sich bei innerer Sicherheit und Wohlbefinden, erhöht lustvolle Empfindungen und kann bei Spontaneität, Sorglosigkeit und Leichtigkeit beobachtet werden. „Freier Fluss kann eine Reaktion auf Gefühle sein, die sich aus Bedingungen ergeben, die als sicher und beruhigend erlebt werden“ (Bender, 2021a, S. 11).
Das Kind sieht den Vater und freut sich so, ihn zu sehen, dass es auf ihn zurennt, sodass er die Arme öffnet, um das Kind aufzufangen, und es lässt sich im freien Fluss jauchzend durch die Luft wirbeln.
Da der Mensch in jedem Augenblick entscheiden muss, ob eine Situation der Kontrolle oder des Loslassens bedarf, sind Bewegungen im gebundenen und freien Fluss eine Reaktion auf die Konstruktion und Interpretation der äußeren Realität. Kulturelle, gesellschaftliche, familiäre und individuelle Bedürfnisse beeinflussen die Wahrnehmung von Sicherheit und Gefahr (Bender, 2021a).
Bereits sehr früh zeigen sich beim Kind individuelle Unterschiede im Wechselspiel von gebundenem und freiem Fluss als Reaktion auf psychische oder biologische Bedürfnisse. Es drückt damit sein Temperament aus. Aus ruhigen Kindern werden auch ruhige Erwachsene, ein temperamentvolles Kind wird auch ein temperamentvoller Erwachsener (Bender, 2021a; Belsky et al., 2020).
Harmonische oder widersprüchliche Spannungsflusseigenschaften zwischen dem Kind und der Bezugsperson spielen eine wichtige Rolle in dem Empfinden, ob eine Beziehung als positiv oder negativ erlebt wird und ob sich das Kind gesehen fühlt. Von daher ist das Beobachten der Spannungsflusseigenschaften besonders wichtig, um die interpersonellen Beziehungen innerhalb der Familie einzuschätzen. Bereits intrauterin zeigen Kinder ein sehr spezifisches Wechselspiel der Muskelspannung (Loman, 1992).
Diese Spannungsflusseigenschaften werden in drei Paare mit jeweils zwei gegensätzlichen Eigenschaften beschrieben:
■adaptierend – gleichbleibend
■niedrige Intensität – hohe Intensität
■graduell – abrupt
2.1Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist – gleichbleibender Spannungsfluss
Werden die Muskeln beständig auf einem gleichen Spannungsniveau gehalten, entsteht ein gleichbleibender Spannungsfluss. Die Muskelspannung wird bei jeder Bewegung weder angespannter noch entspannter, sondern bleibt gleich. Gleichbleibender Spannungsfluss wird als Anstrengungseigenschaft gesehen, weil jemand trotz Ablenkung und Unterbrechungen bei seiner Arbeit bleiben kann. Das Spannungsniveau zu halten, unterstützt die Fähigkeit, sich zu konzentrieren und in einem emotionalen Zustand zu verweilen (Bender, 2021a). Dies gelingt Kindern mit ADHS nicht.
Schaut ein Baby ruhig und lange auf ein Objekt oder eine Person, benutzt es den gleichbleibenden Spannungsfluss. Aber auch beim Schreien kann man bei manchen Kindern ein gleichbleibendes Halten des Tons und des Schmerzes beobachten (Bender, 2021a).
Kinder mit viel gleichbleibendem Fluss erscheinen sowohl in den Bewegungen als auch in den Gefühlen stabil, ausgeglichen, nicht besonders spontan, können sich trotz Störungen konzentrieren und empfinden Unterbrechungen als störend. Auch Emotionen bleiben lange unverändert.
Gleichbleibend freier Fluss zeigt ein Bild eines gelassenen Gleichmuts. Das Kind kann sich entspannt auf eine Aufgabe konzentrieren und fühlt sich in seinem Umfeld sicher. Im Gegensatz dazu ist gleichbleibend gebundener Fluss das beständige Halten von Kontrolle. Eine solche Grundhaltung sehen wir bei Kindern, die aus potenziell bedrohlichen Familiensituationen kommen. Als Überlebensmechanismus versucht das Kind, Überraschungen zu vermeiden und nicht aufzufallen.
2.2Ich will Veränderung – Adaptierung
Das Gegenteil vom Halten der Muskelspannung auf einem bestimmten Level sind kleine, subtile Wechsel der Muskelspannung durch ständige Anpassung und Adaptierung an die Umgebung.
Im ersten Lebensjahr macht ein Kind durch Anschmiegen und Einkuscheln häufig kleine Anpassungen an die Person, die es hält, oder es wird unruhig und windet sich, um sich von der Person zu befreien. Durch die Adaptierung verändert das Kind seine Gefühlsintensität beständig. Es bleibt selten lange in einem Gefühl, sondern ist lieber emotional vielfältig. Kinder mit viel freier Adaptierung haben ein anpassendes Temperament. Sie können sich leicht in eine neue Situation einfügen (Bender, 2021a).
Der Sohn hat am Muttertagmorgen heimlich den Tisch gedeckt. Als er die Freude der Mutter sieht, zeigt sich ein freier, adaptierender...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2022 |
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Co-Autor | Birgit Friedrich, Hemma Gerstl, Clara Kerber, Christiane Kowalik, Manuela Kuczera, Lisa Maria Kühn, Petra Mischo, Lucia Weber, Katrin Wirth-Storch, Marion Christoph |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | ADHS • Autismus • Bewegungsanalyse • Bindung • Entwicklung • Entwicklungspsychologie • Entwicklungsstörungen • Internet • Jugendliche • Kinder • Kinder- und Jugendpsychiatrie • Körper • Lernschwierigkeiten • Prävention • Psychologie • Schulsozialarbeit • Sucht • Tanztherapie • Tanztherapie und Schulsozialarbeit |
ISBN-10 | 3-497-61704-0 / 3497617040 |
ISBN-13 | 978-3-497-61704-3 / 9783497617043 |
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