Die ›Zwischenzeit‹ der Kapkolonie 1902–1910 (eBook)

Taktisches Handeln und politische Imaginationen im Transformationszeitraum

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
469 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-077733-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die ›Zwischenzeit‹ der Kapkolonie 1902–1910 - Claudia Berger
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Wie lässt sich Widerstand historiographisch beobachten? Die vorliegende Arbeit wählt eine praxistheoretische Perspektive und einen interdisziplinären Ansatz, um die Dynamiken von Herrschaftspraxis und Widerstand am Beispiel des politischen Transformationszeitraums von 1902-1910 in der Kapkolonie aufzuzeigen.

Die Autorin zeigt, wie radikalisierende administrative Ausgrenzungs- und Entrechtungsstrategien auf taktisches Handeln rassistisch marginalisierter Menschen trafen. Die Aktivist*innen werden in einem breiten Spektrum politischer Vorstellungen, Handlungsweisen und Taktiken verortet; ihr Kampf galt nicht nur den konkreten Praktiken der Ausgrenzung und Entrechtung, sondern auch den Bedeutungskategorien, die diese ermöglichten. Über Praktiken der Repräsentation und Mobilisierung wurde ein vielstimmiger Widerstand gegen das kolonialstaatliche System Weißer Vorherrschaft organisiert.

Die Relevanz der Arbeit liegt nicht nur in der sehr eindringlichen Quellenarbeit zu einer bislang wenig beachteten, aber folgenreichen Epoche der südafrikanischen Geschichte, sondern auch in der methodischen Konzeptionierung, die von soziologischen, literatur- und medienwissenschaftlichen Zugängen bereichert wird.



Claudia Berger, Universität Erfurt, Erfurt.

2 Politisch-diskursives Umfeld


Es ist schon fast ein Allgemeinplatz der Imperialismusforschung, dass soziale Transformationen Produkte sowohl globaler Konstellationen als auch lokaler Kämpfe sind.1 Als Teil des Britischen Empires war die Kapkolonie in ein Netz regionaler wie internationaler Verbindungen integriert. So wurde die Verwobenheit von Akteur*innen in den Kolonien und jenen in der Metropole nicht nur über die Produkt- und Rohstofflieferungen erzeugt und erhalten, welche die entlegensten Regionen des Empires im 19. Jahrhundert mit dem industrialisierten Großbritannien verbanden, sondern, wie Alan Lester herausstellte, auch über Kommunikationsnetze. Letztere gewannen mit der Telegraphenleitung nach Afrika im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert noch deutlich an Effektivität, da sie nun vom Schiffsverkehr unabhängig wurden.2 Politische Akteur*innen in Kapstadt kommunizierten mit London ebenso, wie sie es mit Sydney oder Washington taten; in ihrem Alltag reproduzierte sich – wie in jenen Imagined Communities Benedict Andersons – permanent das Wissen, Teil des britischen Imperialreichs und damit Bürger oder Untertan*in – citizen oder subject – zu sein. Wie bei Anderson spielte auch hier die Presse eine konstituierende Rolle bei der Schaffung einer gemeinsamen Öffentlichkeit.3 Die Freizügigkeit im Bereich des Empires gehörte zum Kern der Selbstwahrnehmung des britischen Bürgertums; eine Vielzahl britischer Biographien war dementsprechend durch eine hohe Mobilität gekennzeichnet.4 So informierte die englischsprachige Nachrichtenpresse am Kap regelmäßig über die Linienschifffahrt nach London und ihre prominenten Passagiere. Sie berichtete über Nachrichtenagenturen aus Großbritannien, Australien und den Vereinigten Staaten, zeigte Verbindungen im Tagespolitischen auf und problematisierte Protestbewegungen, die zwar meist kritisch abgehandelt wurden, deren politische Taktiken allerdings so auch eine weitere Verbreitung erreichten.5

Diese Verflochtenheit und globale Eingebundenheit der Kapkolonie soll nachfolgend in drei Deutungstiefen analysiert werden, die schließlich zu dem hier behandelten Untersuchungszeitraum ab 1902 hinführen und weltweite sowie lokale Entwicklungen zueinander in Beziehung setzen. Hierbei konzentriere ich mich vorrangig auf das 19. Jahrhundert, in dem sich das Verhältnis von Metropole und Kolonien zueinander noch einmal grundlegend veränderte. Dieser Wandel soll im ersten Teilkapitel (2.1) zunächst in Bezug auf die Metropole und den imperialen Kontext erläutert werden. Er war im ausgehenden 19. Jahrhundert zum einen besonders vom Hochimperialismus und ‚Neuen Journalismus‘6 geprägt sowie zum anderen von Konzeptionen des ‚Anderen‘, zumeist Indigenen, die im imperialen Verbund ausgetauscht wurden. Im nachfolgenden Kapitel (2.2) wird das Verhältnis der britischen Siedlungskolonien untereinander betrachtet; hierzu zähle ich explizit auch die Burenrepubliken, die mit dem Ende des Südafrikanischen Kriegs durch den Frieden von Vereeniging zu britischen Kolonien wurden. Dieser Krieg stellte eine „hegemoniale Krise“ des britischen Imperialismus im südlichen Afrika dar, die weitreichende Folgen für den sich anschließenden Transformationszeitraum hatte.7 Im abschließenden Kapitel (2.3) werden die lokalen Spezifika der Kapkolonie selbst herausgearbeitet, die sich aus ihrer einerseits langen Besiedlungsgeschichte und ihrer andererseits vergleichsweise jungen Expansionsgeschichte ergeben. Gerade aufgrund einer sehr individuellen Bevölkerungsstruktur und der sich aus dieser ergebenden Machtverhältnisse und Aushandlungsprozesse entstand eine besondere politische Kultur, die sich wesentlich von jener Natals oder derjenigen der Burenrepubliken Transvaal und Oranje-Freistaat unterschied. Zugleich war sie in herausgehobenem Maße anfällig für ideologische und soziale Destabilisierungen durch den Südafrikanischen Krieg.

2.1 Deutungsebene 1: das Empire


Eric Hobsbawm hat es mit der spezifischen Perspektive von Historiker*innen des 20. Jahrhunderts erklärt, dass gerade das (ausgehende) 19. Jahrhundert ein Übermaß an Bedeutungsaufladung durch die spätere Historiographie erfahren habe.8 Der zeitlichen und personalen Nähe geschuldet, schien der Hochimperialismus zum Ende des 19. Jahrhunderts, die imperiale Konkurrenz um die letzten, noch nicht unterworfenen Flecken Erde, direkt in die desaströsen Weltkriege zu münden. Die sich zuspitzende Konkurrenz zwischen europäischen Mächten – prominent sind hier Großbritannien und Deutschland – war sicherlich prägender Hintergrund der politischen Dynamiken im frühen 20. Jahrhundert weltweit und sollte auch in Hinblick auf das vorliegende Projekt nicht unterschätzt werden. Imperialhistoriker*innen werden jedoch nicht müde zu betonen, dass zur Mitte des 19. Jahrhunderts bereits ein Großteil des Britischen Empires erobert worden war und sich in dieser Hinsicht zum Ende des Jahrhunderts wirtschaftlich und territorial nur noch wenig ändern sollte.9 Von diesem Befund ausgehend, sollen nachfolgend die Diskurse und Ereignisketten dargestellt werden, welche die Institutionen und das Verhältnis der Kolonialmacht zu ihren Kolonien und den in ihnen lebenden Menschen seit dem frühen 19. Jahrhundert bis hin zum Südafrikanischen Krieg prägten.

Die Kapkolonie stand seit 1806 durchgehend unter britischer Herrschaft und sicherte für diese den Seeweg nach Indien strategisch ab. Von 1811 bis 1879 führte der wachsende Landhunger der Siedlergemeinschaften immer wieder zu Kriegen mit ansässigen Xhosa-Bevölkerungen,10 die letztlich von der britischen Armee mithilfe der militärischen Unterstützung der Siedlergemeinschaften und indigenen Verbündeten unterworfen werden konnten.11

Zudem kam es als Reaktion auf die sich abzeichnende Dominanz britischer Siedler*innen und das Verbot der Sklaverei in ihrem Herrschaftsgebiet zwischen 1835 und 1841 zu der Abwanderung eines Teils der burischen Bevölkerung der Kapkolonie. Dieser schlug sich in mehreren Zügen in das nordöstliche Hinterland und gründete dort die Burenrepubliken Transvaal (1848, ab 1856 unter dem Namen ‚Südafrikanische Republik‘), den Oranje-Freistaat (1854) und Natalia (1839, 1843 von Großbritannien erobert und unter dem Namen ‚Natal‘ annektiert).12

Die Neuordnung der Verhältnisse der Krone zu den nach der amerikanischen Revolution verbliebenen britischen Siedlungskolonien auf dem nordamerikanischen Kontinent sowie zu Britisch-Indien nach der Rebellion von 1857 waren 1860 bereits abgeschlossen. Beides hatte bedeutende Auswirkungen auf das gesamte Empire und soll daher kurz ausgeführt werden.

Als Antwort auf die kanadischen Rebellionen von 1837 wurden die dortigen Siedlungskolonien in ein sich stufenweise steigerndes Selbstverwaltungsprogramm eingebunden, das von John George Lambton, 1. Earl of Durham, in seinem Bericht von 1839 vorgeschlagen worden war, um nach dem Verlust der US-amerikanischen Besitzungen das Herausbrechen weiterer Kolonien aus dem britischen Empire zu verhindern.13 Mit dem responsible government wurden so den kanadischen Siedlungskolonien nach einer gewissen Zeit zumindest innenpolitisch umfangreiche Rechte der Selbstverwaltung zugesichert, in welche die Kolonialverwaltung nur in Ausnahmefällen per Veto eingreifen konnte. Dieses System wurde ab 1840 sukzessive auf andere britische Siedlungskolonien übertragen, so auch auf die Kapkolonie (responsible government 1872) und die Kolonie Natal (responsible government 1893).14

In dem von der Ostindien-Kompanie regierten Britisch-Indien kam es 1857 zu einer Rebellion, die schließlich brutal vom Militär niedergeschlagen wurde. Der Aufstand schockierte die britische Bevölkerung und regte eine Neubewertung der eigenen Rolle als Imperialmacht an. Die indischen Aufständischen, die zunächst in der Tagespresse exotisiert worden waren, erfuhren in der fortlaufenden Berichterstattung eine Dämonisierung, als erstens das Ausmaß der Ablehnung der britischen Herrschaft in der indischen Bevölkerung auch in der Metropole bekannt wurde und zweitens die Gewaltmeldungen eskalierten.15

Dass so ein heftiges Medienecho überhaupt möglich war, lässt sich aus einer Demokratisierung und Boulevardisierung der Presselandschaft erklären, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert weiter verstärkte. Neue Zeitungen mit hoher Auflage, geringeren Verkaufspreisen und aufsehenerregenden Schlagzeilen versuchten, Einnahmen und Einfluss über eine hohe Verbreitung zu erreichen, während die etablierte Presse stets nur einen relativ kleinen, exklusiven Kreis zu ihrer Leserschaft hatte zählen können.16 Der Aufstand in Indien zeigte diesem breiten Publikum nun die Diskrepanz zwischen der Eigenwahrnehmung der britischen Bevölkerung und der Fremdwahrnehmung durch die Kolonisierten auf, welche in die Metropole zurückgespiegelt werden konnte. Schlagartig wuchs in Großbritannien das Bewusstsein, weniger über die Kolonisierten zu wissen als bisher angenommen.17

Als Reaktion auf die Rebellion wurde Indien 1858 durch die Proklamation Victorias zur Kronkolonie und damit der Herrschaft der Ostindien-Kompanie, die als Verantwortliche für den Aufstand gesehen wurde, entzogen. Neben der...

Erscheint lt. Verlag 5.12.2022
Reihe/Serie ISSN
Studien zur Internationalen Geschichte
Zusatzinfo 12 b/w ill.
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Schlagworte Cape Province • Kapkolonie • Kapprovinz • Politische Praktiken • reform politics • Reformpolitik • South Africa • Südafrika • Weiße Vorherrschaft
ISBN-10 3-11-077733-9 / 3110777339
ISBN-13 978-3-11-077733-8 / 9783110777338
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