Geschichte wird von den Besiegten geschrieben (eBook)

Darstellung und Deutung militärischer Niederlagen in Antike und Mittelalter
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
483 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45214-2 (ISBN)

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Geschichte wird von den Besiegten geschrieben -
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Nach einem geflügelten Wort wird die »Geschichte von den Siegern geschrieben«. Demgegenüber steht die These Reinhart Kosellecks, dass Niederlagen und ihre Verarbeitung die Entstehung von Erklärungs- und Kompensationsmustern bedingen: Die Erfahrung des Besiegtwerdens könne einen »Erfahrungsgewinn« ermöglichen; Sieger hingegen müssten ihre Denkmodelle nicht hinterfragen, da sie gerade durch kurzfristige Erfolge bestätigt wurden. Die Beiträge dieses Bandes untersuchen ein breites Spektrum an Formen des Umgangs mit militärischen Niederlagen in Antike und Mittelalter und stellen damit Kosellecks These erstmals großflächig auf die Probe.

Manuel Kamenzin, Dr. phil., ist als Akademischer Rat im Bereich Mittelalterliche Geschichte der Universität Bochum tätig. Simon Lentzsch, Dr. phil., ist Postdoc-Researcher an der Université de Fribourg im Bereich Alte Geschichte.

Manuel Kamenzin, Dr. phil., ist als Akademischer Rat im Bereich Mittelalterliche Geschichte der Universität Bochum tätig. Simon Lentzsch, Dr. phil., ist Postdoc-Researcher an der Université de Fribourg im Bereich Alte Geschichte.

Das sizilische Abenteuer und seine Verarbeitung. Thukydides über die athenische ›Heimatfront‹


Christian Wendt

1.Einleitung


1.1Ein Besiegter schreibt Geschichte

›Geschichte wird von den Besiegten geschrieben‹ – in welchem Kontext wäre ein derartiges Dictum auf Anhieb angebrachter als für das Geschichtswerk des Thukydides, das ja für viele immer noch als erste wahrhaftige Referenz für historiographisches Tun gilt.45 Die Niederlage Athens im sogenannten Peloponnesischen Krieg von 431–404 v. Chr. ist denn wohl auch ein zentrales Movens für den Athener Thukydides, seine Sammlung von Material beziehungsweise seine als »xungraphe« bezeichneten Aufzeichnungen46 in ein durchkomponiertes Werk mit paradigmatischem Anspruch zu verwandeln. Jedoch ist, entgegen vielen Stimmen der Forschung,47 besonders bemerkenswert, in wie starkem Maß der Autor es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Spezifik der athenischen Position samt einer wollten der Erklärung, wie es zur athenischen Niederlage kommen konnte, zu transzendieren und stattdessen einen panhellenischen, womöglich gar wesentlich weiteren Focus einzunehmen, in dem naturgemäß Athen eine besondere und wesentliche Rolle zu spielen imstande ist.

Thukydides also schreibt nicht allein den Roman des Untergangs Athens, und doch erachtet er seine Heimatstadt sowohl als eine treibende Kraft innerhalb des größeren Geschehens, das das gesamte Hellenentum und die weitere Welt erfasst,48 als auch als eine gegebene Bühne, die es gestattet, ihm wichtige Themen auf exemplarische Weise verhandeln zu lassen, um sie so reflektierbar zu machen. Hat er damit die Position des Besiegten oder immerhin des Mitbesiegten überwunden? Oder handelt es sich um eine Form der Verarbeitung dieses Niedergangs, der für ihn persönlich zudem schmerzlich mit seiner Exilierung seit dem Jahr 424 verbunden war? Dies ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden – allerdings ist es sicher von Interesse, dass Thukydides die Problematik des Zustandekommens verschiedener Niederlagen als ein zentrales Thema verfolgt und sich demzufolge an der athenischen mit geradezu obsessiver Intensität abarbeitet, um aus ihr Schlüsse zu ziehen.

In diesem Zusammenhang also soll hier auf eine Konstellation im thukydideischen Werk eingegangen werden, die wie unter einem Brennglas die Situation analysiert, wie eine konkrete Niederlage in einer spezifischen Gesellschaft wahr- und aufgenommen wird, welche Potentiale sie generiert und welche Effekte mit ihr kurz- und mittelfristig verbunden sind. Dass dies eingebunden ist in die übergreifende Kriegsanalyse des Autors und somit die Information, die uns überliefert ist, einem spezifischen Konstruktionsvorbehalt unterliegt, macht sie für uns nicht weniger fruchtbar, sondern im Gegenteil erschließt sich die weitere Dimension der Darstellung erst durch eben diesen Filter, der es uns gestattet, im Wortsinn zu formulieren: Geschichte wird von Besiegten geschrieben – oder in diesem Fall sogar: gemacht.49

1.2Die Sizilische Expedition im Werk

Die militärische Operation Athens gegen Syrakus in den Jahren 415–413, die Thukydides zufolge auf den Gewinn ganz Siziliens und gar darüber hinaus ausgerichtet war,50 erhält in seinem Geschichtswerk eine Sonderstellung: zwei ganze Bücher, 7 und 8, sind ihr gewidmet, dazu noch zwei explizite Prolepseis in den Büchern 1 und 251 sowie eine Reihe von Anspielungen, die sich erst mit intensiverer Kenntnis entschlüsseln lassen.52 Doch der Entscheidung, Egesta zu unterstützen und eine Streitmacht gegen Sizilien zu entsenden, der grundlegenden Unkenntnis der Athener von dem Ort, wo sie schließlich eine militärische Katastrophe erfahren werden, der Materialschau bei der Ausfahrt im Hafen wie den Intrigen gegen einen der Strategen Alkibiades wie dessen Flucht, den Motiven des Eros und der Gier, der Überfahrt, die nicht so planmäßig verläuft, wie sie sollte, den vielen Entscheidungen vor Ort, der ausnehmend knappen militärisch-strategischen Entscheidung zu Lande wie auch der desaströsen letzten Seeschlacht im Hafen von Syrakus – all diesen Ereignissen räumt Thukydides gewaltigen Platz in seinem Bericht ein, wie denn auch dem schmählichen Untergang der verbliebenen Landtruppen, bis hin zum langsamen Sterben der Gefangenen in den Steinbrüchen samt der fürchterlichen Begleitumstände. Das entstehende Panorama ist eines der Überforderung (bei gleichzeitig erst zuletzt gänzlich vertaner Chance), der Erdung aller hochfliegenden athenischen Berechnungen, deren Scheitern schließlich eine Fülle an Konsequenzen hervorruft, die niemals im Blickfeld der Planer gewesen waren.

Sparta tritt wieder in den Krieg ein, nun dank der Finanzierung aus Persien in der Lage, eine eigene Flotte auszurüsten, die athenischen Bündner verlassen scharenweise den Seebund, Athen muss seine letzten Kräfte mobilisieren, um die verbliebenen Stellungen zu halten. Die noch direkt zuvor im Melierdialog geäußerte Selbstgewissheit der Athener, zu ihrem expansiven Handeln berechtigt zu sein wie eben die Götter,53 verflüchtigt sich zu einem Zaudern ihres führenden Generals Nikias, wann denn überhaupt ein Versuch gewagt werden könne, die Soldaten in einer konzertierten Aktion noch rechtzeitig auszuschiffen.54

Der Sizilischen Expedition entspricht also ein Wendepunkt, ein konkret festzumachender Umschlag, der die Vorzeichen des großen Konflikts endgültig umschreibt. Thukydides selbst bezeichnet die ganze Operation zudem bereits im Nachruf auf Perikles im 2. Buch als besonders herauszuhebenden Fehler, den die Athener im Kriegsverlauf begangen hätten55 – darauf wird später noch zurückzukommen sein.

1.3Die Sizilische Expedition als ›nemesis‹

Vielmals ist auch auf die vermeintlich tragische Komposition hingewiesen worden, die das Erleben der Niederlage auf Sizilien als Moment der ›nemesis‹ gegenüber der zuvor ausgestellten athenischen Hybris konstruiert.56 Diese Interpretation hat einiges für sich, sie ist geradezu verlockend eingängig, und doch scheint sie mir in einigem zu kurz zu greifen, zumal Thukydides wesentlich mehr vorführt als das unabwendbare Geschick, das sich aufgrund fehlerhaften Vorverhaltens unbarmherzig verwirklicht. Im übertragenen Sinn ›bestraft‹ die sizilische Niederlage das kontinuierlich irrationale und hypertrophe Planspiel Athens, und das thukydideische Narrativ greift auch auf tragische Elemente zurück;57 und doch ist die gesamte Sizilische Expedition auch die Erzählung von der Verkettung vieler falscher Entscheidungen, von ebenso vielen verpassten Gelegenheiten (vielleicht zum Erfolg, in jedem Fall aber zur Schadensbegrenzung), und die Totalität des Untergangs hat gerade mit der Offenlegung eben der stetig wachsenden athenischen Überforderung mit der Situation zu tun, die schließlich der ganzen hellenischen Welt offenbart wird. Das glorreiche, faszinierende und gleichermaßen gefährliche Athen ist seines Nimbus beraubt, gewissermaßen auf Normalmaß gestutzt worden.58

Thukydides konzipiert diese Demonstration als historische Obduktion, indem er eine Fülle an Faktoren in ihrer Interaktion als für die Entwicklungen kausal darstellt. Hier sind alle Ebenen angesprochen:...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2023
Reihe/Serie Krieg und Konflikt
Co-Autor Martin Clauss, Christopher Degelmann, Julia Hoffmann-Salz, Dirk Jäckel, Manuel Kamenzin, Simon Lentzsch, Christoph Mauntel, Benjamin Müsegades, Malte Prietzel, Laury Sarti, Oliver Stoll, Meret Strothmann, Sonja Ulrich, Christian Wendt, Helen Wiedmaier
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Mittelalter
Schlagworte Adel • Alte Geschichte • Antike • Athen • Erinnern • Erinnerungskultur • Europa • Feldzüge • Friedrich II. • Katastrophe • Krieg • Kriegführung • Legion • Maxentius • Militärgeschichte • Militärische • Mittelalter • Mittelalterliche Geschichte • Niederlage • Orosius • Ritter • Schlacht • Schlacht von Mühldorf • Seleukiden • Sieg • Thukydides • Umgang mit Krisen
ISBN-10 3-593-45214-6 / 3593452146
ISBN-13 978-3-593-45214-2 / 9783593452142
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