Hungern für Bischofferode (eBook)
240 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45430-6 (ISBN)
Christian Rau, Dr. phil., ist Historiker und seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. Er forscht zur Geschichte der DDR, zur deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte, zur ostdeutschen Transformationsgeschichte, zur Geschichte der Gewerkschaften und zur europäischen Stadtgeschichte im 20. Jahrhundert.
Christian Rau, Dr. phil., ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin.
Vom widerständigen Osten: Bischofferode und die (Protest-)Geschichte unserer Gegenwart
In regelmäßigen Abständen rückt Ostdeutschland in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Aufmerksamkeit kreist dabei in der Regel um zwei Ereignisse: den Mauerfall am 9. November 1989 und die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990, die in der offiziellen Erinnerungskultur durch das Erfolgsnarrativ der »zielstrebige[n] Geschlossenheit des atemberaubenden Revolutionsgeschehens« erzählerisch verbunden werden.1 Angesichts einer wachsenden rechten bis rechtsextremen Polarisierung in Ostdeutschland beginnt diese Deutung jedoch seit einigen Jahren zu bröckeln. So geriet mit der Treuhandanstalt (kurz: Treuhand) jüngst eine längst vergessen geglaubte Behörde wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit, die von 1990 bis 1994 den Großteil der ostdeutschen Betriebe privatisiert, saniert oder stillgelegt hat, dabei rund 2,5 Millionen Arbeitsplätze abwickelte2 und vielen Ostdeutschen bis heute als Symbol des systematischen »Ausverkaufs« ihres Landes gilt.
Die Beschäftigung mit der Treuhand und den damit verbundenen sozialen wie kulturellen Folgen dient im öffentlichen Diskurs vor allem dazu, die vermeintliche Andersartigkeit des Ostens im Vergleich zum Westen zu erklären. Zugleich markiert die neue Aufmerksamkeit für die Treuhand auch eine Trendwende in der Zeitgeschichtsforschung, die sich zur Erklärung der »besonderen« Entwicklung des Ostens bislang vor allem auf die von ihr ausgiebig erforschte Geschichte der DDR gestützt hat,3 während die Transformationszeit nach 1989/90 lange Zeit eine Domäne der Sozialwissenschaften war. Seit wenigen Jahren aber rückt auch die post-sozialistische Phase verstärkt in den Fokus zeithistorischer Debatten. Während ältere historische Darstellungen zur deutschen Einheit, gestützt auf die reichhaltige DDR-Forschung und die nicht weniger ergiebige sozialwissenschaftliche Transformationsforschung der 1990er Jahre, die post-sozialistische Geschichte Ostdeutschlands vorwiegend als einen Prozess der (noch unvollendeten) Angleichung an den Westen erzählt haben, wobei Erfolgs- und Misserfolgsgeschichten jeweils unterschiedlich gewichtet wurden,4 entwickeln Zeithistoriker*innen in den letzten Jahren neue Fragehorizonte. So wird die Transformation vielmehr als ergebnisoffener Interaktionsprozess von west- und ostdeutschen Akteuren untersucht, es wird nach Rückwirkungen der ostdeutschen Transformation auf den Westen gefragt und es werden zunehmend Vergleiche zwischen Ostdeutschland und anderen osteuropäischen Transformationsländern angestellt.5 Dabei erfahren die in den Lebenserzählungen vieler Ostdeutscher dominierenden Themen von Privatisierung und Arbeitslosigkeit derzeit freilich eine erhöhte Aufmerksamkeit. Bislang kaum ins Zentrum der neuen Beschäftigung mit den 1990er Jahren gerückt ist jedoch die mit der Treuhand (aber nicht nur) vielfältig verwobene Protestgeschichte Ostdeutschlands. Dabei spielte Protest als Form des Politischen für die politische Kultur Ostdeutschlands auch nach 1989 eine besondere Rolle. So beziehen sich auch die Protagonist*innen der jüngeren islamfeindlichen Pegida- und Anti-Corona-Proteste genauso selbstverständlich auf das Erbe der Revolution von 1989 wie die Verteidiger*innen der Demokratie.6 Während letztere aber weiterhin den Zusammenbruch des SED-Regimes als die große Leistung der Ostdeutschen loben, deuten erstere das Erbe von »1989« zu einem subversiven Potential gegen die westlich-liberale Demokratie um, deren politische Eliten den Ostdeutschen Freiheit und Wohlfahrt vorgelogen hätten und damit der SED-Diktatur angeblich in nichts nachstünden. Dass Ostdeutsche einst den »Unrechtsstaat« der SED zu Fall brachten, erscheint den Populisten dagegen als Blaupause für die Möglichkeit eines erneuten und als längst überfällig präsentierten Systemwechsels. Die negativen Erfahrungen vieler Ostdeutscher mit der deutschen Wiedervereinigung, so die Suggestion, seien korrigierbar.
Der Konflikt um die Deutung von »1989« hat aber keineswegs erst in den letzten Jahren begonnen. Schon kurz nach der Wiedervereinigung gingen Ostdeutsche wieder zu Tausenden auf die Straße, um unter Rückgriff auf die Revolutionsparole »Wir sind das Volk« zunächst gegen den »Ausverkauf« des Ostens und die Treuhand, aber zunehmend auch gegen »Überfremdung« und andere als bedrohlich empfundene Entwicklungen zu demonstrieren. Die Protestgemeinschaften von einst gestalteten sich oft ähnlich heterogen und konfus wie diejenigen der aktuellen Proteste, Ausschreitungen und »Spaziergänge«. Auch damals schon mischten sich unter die ostdeutschen Bürger*innen und Belegschaften teilweise Gruppen, die die Proteste politisch zu vereinnahmen suchten. So standen neben Betriebsräten und Gewerkschafter*innen zuweilen auch frühere ostdeutsche Bürgerrechtler*innen, Parlamentsabgeordnete, aber auch Rechtsradikale, westdeutsche Linke und ehemalige SED-Kader. Vor allem in den zahllosen Protesten ostdeutscher Belegschaften gegen Arbeitsplatzabbau und Stilllegungen von Betrieben drückten sich schon früh, d.h. noch im letzten Jahr der DDR, nicht nur die Angst um Arbeitsplätze, sondern auch das wachsende Misstrauen vieler Ostdeutscher gegenüber der (west-)deutschen Demokratie als der erhofften Problemlöserin und die tiefe Enttäuschung gegenüber dem parallel herbeigesehnten nationalen Aufbruch aus,7 was oppositionellen und populistischen Akteuren und Gruppen wiederum eine verheißungsvolle Angriffs- und Entfaltungsfläche bot. Diese frühen Protestgeschichten stehen damit ganz am Anfang einer komplex-verworrenen und umstrittenen Deutungsgeschichte von »1989«.8
Einer dieser im betrieblichen Umfeld erwachsenden Proteste, die überregionale Strahlkraft erlangten und damit bald eine Projektionsfläche für politische Botschaften und Zukunftsentwürfe jedweder Art boten, ereignete sich 1993 in Bischofferode, einer mitten im katholisch geprägten Thüringer Eichsfeld gelegenen 2.000-Seelen-Gemeinde. Dort traten Anfang Juli etwa 40 Kalibergleute in einen unbefristeten Hungerstreik, um für die letzten noch verbliebenen Arbeitsplätze in ihrer Grube zu kämpfen. 2023 jährt sich der Hungerstreik zum 30. Mal. Aber nicht nur das ist Grund genug, sich einmal näher mit der Geschichte des Streiks zu beschäftigen. Vielmehr unterschied sich der Hungerstreik von allen anderen ostdeutschen Belegschaftsprotesten hinsichtlich der besonderen Form, Ästhetik und Radikalität des Widerstands, seiner langen Dauer, seiner symbolischen Strahlkraft der massiven Präsenz von Medien und der landesweiten Solidaritätsaktionen.
Seit 1911 war in Bischofferode Kalisalz gefördert worden – ein Rohstoff, der besonders in der Düngemittelproduktion, aber auch für die Herstellung alltäglicher Konsumgüter wie Waschmittel oder Speisesalz gebraucht wird. Kaliförderung war damit lange Zeit immanenter Bestandteil der Industrialisierung und des wirtschaftlichen Wohlstands in Deutschland sowie ein begehrtes Exportgut, weshalb das Salz (in Analogie zur Kohle, dem »schwarzen Gold«) schon bald als »weißes Gold« galt. Zur Zeit der DDR belieferte Bischofferode exklusiv die Märkte im Westen, was dem Werk ein besonderes Prestige verlieh. 1993 aber sollte damit Schluss sein. Dagegen stemmten sich die Kumpel mit allen Mitteln. Dabei erlangten sie in kürzester Zeit eine bislang im Osten ungekannte Medienpräsenz, die Solidarität und Empathie auch über nationale Landes- und Binnengrenzen hinaus erzeugte und einen wahren Protesttourismus in die Region auslöste. Für viele wurde der Hungerstreik zum hoffnungsfrohen Symbol zivilgesellschaftlich-demokratischer Rückeroberung.9 Mit großer Bewunderung blick(t)en viele nach Bischofferode, wo »DDR-Bürger ihren volkseigenen Besitz an Produktionsmitteln verteidigten«.10 Der Protestslogan »Bischofferode ist überall« hallte bis in die letzten Winkel der Republik, und der medial inszenierte körperliche Verfall der Hungerstreikenden geriet zum Signal für eine tiefe Krise, in der sich längst nicht mehr nur der Ostteil Deutschlands befand.
Journalist*innen, Politiker*innen, Fernsehteams und Intellektuelle sorgten wesentlich mit dafür, dass Bischofferode kein gewöhnlicher Arbeitskampf wurde. In Bischofferode, so der Spiegel am 8. August 1993, wurde um nichts Geringeres als für die »Würde der Ossis« gehungert.11 Aus Sicht des Hamburger Nachrichtenmagazins stand der Kampf der Kalikumpel sinnbildlich ...
Erscheint lt. Verlag | 8.2.2023 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Zeitgeschichte |
Schlagworte | 1998 • AfD • Bischofferode • BRD • Bundesrepublik Deutschland • DDR • Deutsche Demokratische Republik • Deutsche Einheit • Eichsfeld • Geschichte • Hungerstreik • Kalibergbau • Kalifusion • Ossis • Ostdeutschland • Protest • Sozialgeschichte • Streik • Thomas-Müntzer-Werk • Thüringen • Transformation • Transformationsgeschichte Ostdeutschlands • Treuhand • Treuhandanstalt • Übernahme des Ostens • Wendezeit • Wessis • Westdeutschland • Wiedervereinigung • Wirtschaftsgeschichte |
ISBN-10 | 3-593-45430-0 / 3593454300 |
ISBN-13 | 978-3-593-45430-6 / 9783593454306 |
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