Präfiguration (eBook)
345 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45405-4 (ISBN)
Paul Sörensen, Dr. habil., ist Politikwissenschaftler und derzeit Projektleiter am Innovationszentrums Bayern für Diversity und Demokratie.
Paul Sörensen, Dr. habil., ist Politikwissenschaftler und derzeit Projektleiter am Innovationszentrums Bayern für Diversity und Demokratie.
1.»Etwas fehlt!« – Für eine auch utopistische kritische politische Theorie
»[D]ie kritische Theorie, die wir im Gegensatz zur Skepsis vertreten, [macht] aus der Einsicht in die Schlechtigkeit des Bestehenden und in die Vergänglichkeit der Erkenntnis keinen antitheoretischen Absolutismus, sondern [lässt sich] auch bei pessimistischen Feststellungen von dem unbeirrten Interesse an einer besseren Zukunft leiten.«
Max Horkheimer (1938, 52)
Es ist sattsam bekannt: Wie politische Theorie zu betreiben ist, was ihr Gegenstandsbereich ist und was ihre Methoden, Konzepte und Ansätze sind, hat als umstritten zu gelten.6 Bevor ich mich in den nachfolgenden Kapiteln in vielfältiger Weise mit der Theorie, Praxis und Geschichte präfigurativer Politik befassen werde, soll an dieser Stelle auf Grundlage eines idealtypisierenden Sortierungsversuchs politischen Theoretisierens eine zumindest rudimentäre Programmatik einer kritischen politischen Theorie skizziert werden. Diese theorieprogrammatischen Einlassungen sind dabei mit dem Gegenstandsbereich der Arbeit wohlgemerkt in ganz direkter, inhaltlich-substanzieller Weise verbunden: wie zu sehen sein wird, ist das Präfigurative in die im Folgenden zu umreißende Modellierung einer kritischen politischen Theorie in dreifacher Weise integriert. Wenn auch das Verhältnis von Kritischer Theorie und Politik ganz grundsätzlich als ambivalent zu bezeichnen ist (vgl. Bohmann/Sörensen 2019), so verstehen sich die folgenden Ausführungen explizit von dem von Max Horkheimer, Herbert Marcuse und anderen am Frankfurter Institut für Sozialforschung projektierten interdisziplinären Materialismus (vgl. Bonß/Schindler 1982) inspiriert und versuchen, ihm eine spezifische Stoßrichtung zu geben. Nach Spuren im klassischen Textkorpus der Kritischen Theorie suchend, aber auch aus anderen Kontexten schöpfend, möchte ich das spezifische Erkenntnisinteresse und die möglichen Verfahrensweisen einer auch utopistischen kritischen politischen Theorie herausarbeiten. Eine derartige Modellierung kann künftigen Forschungsvorhaben in untersuchungsleitender und orientierender Hinsicht zugrunde gelegt werden und erlaubt es, einen Schritt über die oft negativistischen Formen kritischen Theoretisierens hinaus zu tun, ohne dadurch auf bloß idealtheoretische Bahnen zu geraten.
1.1Fünf Diskurse, vier Fragen: Ein Sortierungsversuch
»Theorie wirft genauso Scheiben ein wie die unsublimierte Aggression. Theorie ist nicht eine Sammlung von Erklärungen, sondern etwas, das die Welt verändern soll und aus diesem Willen geboren ist.«
Max Horkheimer (1988, 224)
Ich werde mich zunächst mit einem grundlegenden Bestimmungsversuch und Sortierungsangebot politischer Theorien beginnen. Als ganz grundlegende, meines Erachtens unstrittige Prämisse kann gelten: politische Theorien, ganz gleich, ob sie einem akademischen oder nicht-akademischen Kontext entstammen, geben und/oder analysieren »Antworten auf das Problem überindividueller Ordnung«. Damit ist wohlgemerkt keine Vorentscheidung darüber getroffen, dass Ordnung per se gutzuheißen wäre und der Begriff der Ordnung selbst hat zudem als politisch umkämpfter Begriff zu gelten. Wenn man so möchte, zielen selbst individualanarchistische Ansätze letztlich auf eine, wie auch immer geartete, Ordnung des gelingenden Aneinander-vorbei von zahlreichen Einzigen und deren Eigentum. Eine weitere Grundlage der folgenden Sortierungsbemühungen bildet eine Binsenweisheit – oder zumindest ein Umstand, der als Binsenweisheit gelten sollte: Politische Theorien sind nie einfach nur Theorien über Politik oder das Politische, sondern stets – wenn auch zum Teil uneingestanden – politische Theorien, insofern sie in der Absicht verfasst sind, politisch zu intervenieren. Hatte etwa Charles Taylor in seinen frühen wissenschaftstheoretischen Schriften auf die unhintergehbare Politizität und den ideologischen Charakter einer vorgeblich wertfreien Politikwissenschaft insgesamt aufmerksam gemacht und dabei sowohl auf ihre normativen wie auch ›nur‹ erklärenden Spielarten Bezug genommen (z.B. Taylor 1975; dazu auch Rosa 1998, 240-260), so dürfte eine entsprechende Wahrnehmung speziell auch für den Bereich politischer Theorien spätestens seit den historisch-kontextualistischen Studien der sogenannten Cambridge School of Intellectual History als Gemeinplatz gelten.7 Quentin Skinner, einer der zentralen Köpfe der Cambridge School, dessen bahnbrechender Einfluss Kari Palonen (2003) gar von einer Skinnerian Revolution sprechen ließ, brachte dies im Rahmen seiner Frankfurter Adorno-Vorlesung von 2005 mit Blick auf die ideengeschichtliche Forschung treffend zum Ausdruck: »Meine leitende Annahme ist, daß selbst die abstraktesten Werke der politischen Theorie nie über dem Kampfgeschehen stehen; sie sind stets Teil des Kampfes selbst«, bzw. eine »polemische[] Einmischung in die ideologischen Konflikte« ihrer jeweiligen Zeit (Skinner 2008, 15; dazu auch Honneth 2014). Stark vereinfacht und eine ganz elementare Einteilung Samuel Salzborns aufgreifend ließe sich sagen, dass politische Theorien entweder in der Absicht verfasst sind, »politische Ordnungen zu verändern – oder sie vor Veränderungen zu bewahren« (Salzborn 2017, 11).
Als eine den Interventionscharakter politischer Theorien betonende Feindifferenzierung dieser fundamentalen Unterteilung kann die von Oliver Flügel-Martinsen 2008 vorgelegte Studie zu Grundfragen politischer Philosophie gewertet werden, in der er das Feld neuzeitlicher und moderner ›westlicher‹ politischer Theorien durch den Ausweis von vier zentralen Diskursen über das Politische kartographiert, welchen jeweils eine Art idealtypisches Kernanliegen und diverse Referenzautor*innen zugeordnet werden: unterschieden werden der begründende, der befestigende, der begrenzende und der befragende Diskurs (vgl. Flügel-Martinsen 2008). Flügel-Martinsen selbst, das wird in zahlreichen späteren Schriften deutlich, votiert dabei für einen befragenden Zugang der politischen Theorie, den er mit einem Modus negativer Kritik verbindet und als zentrale Referenzfiguren der zeitgenössischen Theorielandschaft Michel Foucault, Jacques Derrida und Jacques Rancière benennt, sowie Friedrich Nietzsche als deren intellektuellen »Ziehvater« (vgl. Flügel-Martinsen 2017a, 2010).
Abgesehen von einer später noch zu benennenden Leerstelle erscheint mir Flügel-Martinsens Diskursheuristik des Politischen äußerst tragfähig und auch dazu geeignet, meine weiteren Ausführungen begrifflich zu grundieren. Bevor ich sie auf dem Weg zu meiner programmatischen Bestimmung des ›Aufgabenspektrums‹ einer kritischen politischen Theorie wieder aufgreife, ist jedoch noch ein anderer Schritt nötig. Dabei möchte ich vorschlagen, die Horkheimer’sche Begrifflichkeit seines ›schulbildenden‹ Aufsatzes Traditionelle und kritische Theorie von 1937 in eine für Politikwissenschaftler*innen anschlussfähigere Sprache zu transformieren und infolgedessen statt von traditioneller und kritischer Theorie von legitimatorischer und delegitimatorischer Theorie zu sprechen.
Kritische politische Theorien zielen dabei dann auf die Delegitimation bestehender politischer Institutionen und Rechtfertigungsmuster. Dieser Übersetzungsvorschlag versteht sich keineswegs von selbst, handelte es sich bei Horkheimers theoriepolitischen Vorstoß doch zunächst und vor allem um eine erkenntnis- und wissenschaftskritische Intervention gegen solche Wissenschaftsparadigmen, die in seinen Augen in den bestehenden Herrschaftsverhältnissen verstrickt bleiben und diese dabei explizit oder implizit auch affirmieren. Der Aspekt der Herrschaft bzw. ihrer Kritik kann jedoch einen Übertrag auf die theoretische Behandlung der Frage nach der Legitimation bzw. Delegitimation politischer Ordnungen plausibilisieren. Eine Parallele kann insofern gezogen werden, als die von Horkheimer ins Visier genommenen, vorgeblich transzendenten Wahrheits- und Objektivitätsansprüche traditioneller Theorien eine Entsprechung in vorgeblich transzendenten Begründungen politischer Herrschaftsordnungen finden, die es – analog zu...
Erscheint lt. Verlag | 8.2.2023 |
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Reihe/Serie | Philosophie & Kritik | Philosophie & Kritik |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Anarchismus • Bewegungsforschung • Ideengeschichte • Kritische Theorie • Politische Theorie • Präfigurative Politik • Stadtpolitik • Widerstand |
ISBN-10 | 3-593-45405-X / 359345405X |
ISBN-13 | 978-3-593-45405-4 / 9783593454054 |
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