Vom Zauber des Untergangs (eBook)

Spiegel-Bestseller
Was Pompeji über uns erzählt | Vom Direktor des weltberühmten Archäologieparks Pompeji
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2964-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vom Zauber des Untergangs -  Gabriel Zuchtriegel
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»Eine Liebeserklärung an die Archäologie«Frankfurter Allgemeine Zeitung Garküchen, ein Sklavenzimmer, griechische Theater, Villen, Thermen und Tempel - die Ausgrabungen in Pompeji offenbaren eine Welt. Doch was hat sie mit uns zu tun? Gabriel Zuchtriegel, der neue Direktor des Weltkulturerbes, legt eindrucksvoll dar, dass verschüttete Altertümer, starre Ruinen und schweigende Bilder uns noch heute verändern können. »Ein kluges und auf zurückhaltende Weise persönliches Buch« Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung »Zaubern mit Scherben - Gabriel Zuchtriegels so famoses wie ungewöhnliches Buch« Süddeutsche Zeitung »So lebendig wurde noch nie über Archälogie erzählt.« Die Zeit »Ein herausragendes Sachbuch, eine Einladung, sich zu bilden.« Denis Scheck, Druckfrisch

Gabriel Zuchtriegel, geboren 1981, studierte in Berlin und Rom Archäologie und griechische Literaturgeschichte. Nach seiner Promotion an der Universität Bonn erhielt er ein zweijähriges Forschungsstipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Süditalien. Doch daraus wurden mehr als zehn Jahre, in denen er in Italien forschte, lehrte und im Denkmalschutz arbeitete. Seit April 2021 ist er Direktor des Archäologischen Parks Pompeji.

Gabriel Zuchtriegel, geboren 1981 in Weingarten, studierte an der Humboldt-Universität in Berlin Klassische Archäologie und wurde 2010 an der Universität Bonn promoviert. 2015 wurde er zum Direktor des Archäologieparks in Paestum und des dazugehörigen Museums berufen. Seit Februar 2021 ist er Direktor des Archäologieparks in Pompeji.

Zu Risiken und Nebenwirkungen


Dass Besucher in Pompeji immer wieder Herzinfarkte erleiden, manche mit tödlichem Ausgang, war mir nicht bewusst, bis mich eine erfahrene Mitarbeiterin dezent darauf hinwies, einige Wochen, nachdem ich im April 2021 meine Arbeit als Direktor der UNESCO-Stätte aufgenommen hatte. Seither haben wir den medizinischen Notdienst in der antiken Stadt noch mal aufgestockt. Von den durchschnittlich 600 Einsätzen im Jahr haben etwa 20 Prozent mit Herz-Kreislauf-Problemen zu tun. Man schiebt es meistens auf das heiße Wetter. Aber ist das der einzige Grund?

Im Jahr 2018 erlitt ein Besucher der Uffizien in Florenz einen Herzinfarkt vor Botticellis Geburt der Venus in einem voll klimatisierten Saal. Die Medien spekulierten über das Stendhal-Syndrom, benannt nach dem französischen Dichter, der 1817 beim Besuch der Basilica di Santa Croce in Florenz in eine Art Ekstase verfiel angesichts all der Kunst und Geschichte. In den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts hatte die Florentiner Psychiaterin Graziella Margherini bei Touristen der Stadt ähnliche Symptome festgestellt. Das »Stendhal-Syndrom« war geboren.1 Da offiziell nicht als Krankheit anerkannt, ist die Liste der Merkmale offen. Außer Herzanfällen werden genannt: Herzrasen, Atemnot und Hyperventilation, Ohnmacht, Schwindel, Schweißausbrüche, Übelkeit, Halluzinationen.

Ich selbst blieb bisher verschont. Aber es gibt einige Orte in Pompeji, an denen ich für mich eine gewisse Gefährdung sehe. Dazu gehört der Orto dei Fuggiaschi, der »Garten der Flüchtlinge«, am Südrand der antiken Stadt. Hier entdeckten Archäologen dreizehn Opfer des Vulkanausbruchs, der an einem Herbsttag 79 n. Chr. Pompeji unter einer meterdicken Ascheschicht begrub. Unter den Opfern sind mehrere kleine Kinder. Gegen 7:30 Uhr morgens, fast zwanzig Stunden nach Beginn der Eruption, fanden sie hier den Tod beim Versuch, aus der Stadt zu entkommen. Erfasst von einer Hitzewelle von circa 400 Grad, die sich mit fast 100 km/h vom nahen Vulkan Vesuv ausbreitete, wurden sie zu Boden gestreckt. Etliche halten die Hände schützend vors Gesicht, ein Mann versucht, sich mit letzter Kraft aufzustützen. Ein kleiner Junge hält sich die Brust, machtlos gegen die Wucht der Schockwelle aus Staub und Asche, die ihn umschloss. Fast scheint er zu schlafen, den Mund leicht geöffnet.

Dreizehn von 1300 Opfern des Vesuvausbruchs, die bislang in Pompeji ausgegraben wurden. Aber dreizehn, deren Gesichtszüge, Frisur, Kleidung, Körperbau wir genau kennen, als lägen sie tot seit wenigen Stunden. Asche und Staub schlossen ihre Körper ein und wurden hart, die Leichen selbst zersetzten sich, ließen so einen Hohlraum im Boden entstehen.

Als zwischen April und Juni 1961 Grabungsarbeiter auf diese Hohlräume stoßen, gießen sie Gips hinein. So stehen, nach neunzehn Jahrhunderten, die Abgüsse jener Menschen wieder vor uns. Oder sind es keine Abgüsse, sondern sie selbst? Wie umgehen mit solchen »Funden«? Und was erzählt unser Umgang damit über uns selbst?

Solche Fragen stellen sich in Pompeji manchmal ganz konkret. Zum Beispiel, wenn ich eine potenzielle Gruppe aus Sponsoren der Industrie- und Handelskammer Neapel durch Pompeji führe, wie ein paar Wochen nach meiner Ankunft in Pompeji geschehen. Dann sind sie wieder da: diese erwartungsvollen Gesichter, die zu sagen scheinen: Jetzt leg mal los. Erklär uns mal, warum wir eigentlich hier sind, ob es die Reise wert war. Soll ich die Kinder, Frauen und Männer aus dem »Garten der Flüchtlinge« in meine Führung mit einbauen, versuchen, meine Ergriffenheit mit den Leuten von der IHK zu teilen? Oder wäre das eine Art Verrat? Würde ich, von den dreizehn Opfern sprechend, etwas Intimes auch von mir preisgeben? Sollte ich mich gar am Ende mitschuldig machen, wenn einer von ihnen das Stendhal-Syndrom bekommt?

Dieses Buch gibt auf alle diese Fragen die Antwort: Ja! Denn in meiner Laufbahn als Archäologe vom Touristenführer während des Studiums im Pergamonmuseum Berlin bis nach Pompeji ist mir längst klar geworden: Das Problem ist nicht das Stendhal-Syndrom. Statistisch sind Herzinfarkte und andere Symptome in Pompeji nicht häufiger als in einer beliebigen Fußgängerzone. Das Problem ist ein anderes, nennen wir es: das Sammlersyndrom.

Das Sammlersyndrom


Der Sammler betrachtet alles unter dem Gesichtspunkt des Besitzes: Wäre das was für meine Sammlung? Hat ein anderer mehr als ich? Ein ständiges Abschätzen, Anhäufen, Vergleichen, Bewerten, Beurteilen. Er sieht die Welt als eine Art Warenhaus, in dem es den Einkaufswagen vollzuladen gilt – so weit eben die Kreditkarte reicht.

Ich habe immer wieder Menschen kennengelernt, die Sammlungen antiker Kunstwerke besitzen, und glauben Sie mir: Beneidet habe ich keinen von ihnen, eher bemitleidet, eine so wundervolle Sache wie die Archäologie zu einem Haufen von Besitztümern herabzuwürdigen. Aber das Sammlersyndrom ist nicht auf Sammler von Antiquitäten beschränkt. Zu einem gewissen Grad leiden wir alle daran – es ist schlicht ein Ausdruck unserer materialistischen Welt.

Eine wissenschaftliche Studie hat gezeigt, dass zwei der wichtigsten Beweggründe, ein Museum zu besuchen, im Sammeln von Wissen und Erfahrungen bestehen.2 Liest man genauer, so stellt sich heraus, dass mit »Erfahrungen sammeln« gemeint ist, dass man einen Haken dahintermachen kann: Pompeji-Besuch erledigt! Die abzuhakenden Erfahrungen werden ausgewählt nach dem, was man so hört, sprich: Diese Besuchergruppe geht dorthin, wo man gewesen sein muss. Man arbeitet eine Art Liste ab. Wie, noch nie im Louvre gewesen? … Dann aber nichts wie hin, ansonsten ist man ja kein ganzer Mensch/Archäologe/Kunsthistoriker! Kurz: Mit dem Sammlersyndrom lebt man im Bewusstsein, noch wohin zu müssen, noch etwas werden zu müssen, sich noch etwas aneignen zu müssen, sei es nun Wissen, Erfahrung oder Besitz.

Ich würde sogar vermuten, dass dieses Sammeln im weitesten Sinn das stärkste Motiv ist – zumindest nach der Mehrzahl der Besucherinnen und Besucher zu urteilen, denen ich als Führer durch archäologische Museen und Parks begegnet bin. Sie wollen in erster Linie wissen, warum sie diesen Ort eigentlich auf der Liste haben.

Das Bedürfnis, einen Haken darunterzusetzen, wird natürlich von den sozialen Medien wundervoll bedient. Dass Menschen filmen, bevor sie hinschauen, wäre meinen Großeltern als Witz erschienen; heute sind wir längst daran gewöhnt. Das ist auch völlig in Ordnung, es geht ja nicht darum, irgendwas vorzuschreiben.

Anders verhält es sich mit einem weiteren Symptom des Sammelsyndroms: Man nimmt was mit. Jede Woche gehen in Pompeji Päckchen und Pakete ein mit Lavabrocken, Mosaiksteinchen oder Scherben, die jemand hat mitgehen lassen. Die Reue kommt Jahre, manchmal Jahrzehnte später – der Nachteil am Sammeln ist, dass sich das Angehäufte irgendwann als Last erweist. In Pompeji kommt hinzu, dass eine Legende umgeht, der zufolge das Entwenden solcher Gegenstände, das übrigens strafrechtlich verfolgbar ist, Unglück bringt. Manch reuevoller Sammler begleitet denn auch die Rücksendung mit einer Aufzählung von Unglücksfällen, die teils sehr berührend sind. Von Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes und selbst Krebserkrankungen habe ich schon gelesen. Ein Beispiel aus dem Sommer 2022:

Lieber Museumsleiter,ich bin ein Steinesammler, und überall, wo ich hingehe, lese ich einen großen oder kleinen Stein auf. Als ich daher 2012 Pompeji besuchte, las ich diese hier auf und ein kleines Keramikfragment, das ich auf dem Boden fand.Vor einer Weile las ich einen Artikel auf CNN und auch im Lonely Planet, wo es um Leute ging, die mitgenommene Dinge zurückgeben, weil sie ihnen Unglück gebracht haben. Seither hat mich die Geschichte nicht mehr losgelassen.Ich ging in der Zeit zurück und sehe klar, dass die Dinge in meinem Leben und in meiner Karriere seit 2012 nicht gut gelaufen sind. Ich habe sogar bis heute eine Reihe komplizierter Gesundheitsprobleme durchzustehen gehabt.Ich weiß zwar nicht, ob der »Fluch« wahr ist oder nicht, aber ich habe entschieden, diese Gegenstände dorthin zurückzusenden, wo sie hingehören. …

In welche Gruppe hätte Stendhal gepasst? Sicher in keine Sammlergruppe; er war zeit seines Lebens ein unsteter Wanderer mit wenig Platz für Angehäuftes – materiell und geistig. Auch eine andere, laut Studie ziemlich zahlenstarke Gruppe – die derer, die ihrem Partner oder ihrer Partnerin zuliebe ins Museum gehen – scheidet aus, ganz von denen zu schweigen, deren Hauptgrund der Besuch der öffentlichen Toiletten ist. (Auch die sind eine Gruppe, wenn auch beruhigenderweise nur eine ganz kleine!)

Stendhal hätte am besten in die Gruppe derer gepasst, die in der Fachliteratur als »spirituelle Pilger« bezeichnet werden.3 Sie gehen in ein Museum oder in einen archäologischen Park, um Energie zu tanken, sich selbst besser kennenzulernen, Inspiration und ein Gefühl von Freiheit zu finden. Etwas neu entdecken, wie ein Kind, zum ersten Mal; nicht die Highlights abarbeiten, die andere definiert haben, sondern der eigenen Wahrnehmung vertrauen. So kann ein Museumsbesuch in der Tat zu einem spirituellen Erlebnis werden. Denn es geht dabei um uns selbst beziehungsweise darum, über uns selbst...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2023
Zusatzinfo Farbfotos
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Vor- und Frühgeschichte / Antike
Geschichte Allgemeine Geschichte Vor- und Frühgeschichte
Schlagworte Archäologie • Denkmalschutz • erotische Wandmalereien • Geburt der Kunst • Gender Studies • Griechische Mythen • Haus der Vettier • Italien • Klassische Archäologie • metoo • Paestum • Pompeji • Rassismus • Raubkunst • untergegangene Welt
ISBN-10 3-8437-2964-6 / 3843729646
ISBN-13 978-3-8437-2964-2 / 9783843729642
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