Einführung in die Angewandte Ethik (eBook)

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2022 | 2. Auflage
500 Seiten
UTB GmbH (Verlag)
978-3-8463-5902-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Einführung in die Angewandte Ethik -  Dagmar Fenner
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Der Bedarf an ethischer Orientierung ist durch den enormen wissenschaftlich-technischen Fortschritt im 20. Jahrhundert stark gestiegen. Die noch junge philosophische Disziplin der Angewandten Ethik versucht, mittels einer kritischen Analyse der Positionen und Argumente zur Lösung aktueller moralischer Konflikte in der Gesellschaft beizutragen. Dieser Band führt mit vielen Anschauungsbeispielen in die Grundlagen und die wichtigsten Bereichsethiken der Angewandten Ethik ein: Medizinethik, Naturethik (Umwelt- und Tierethik), Wissenschaftsethik, Technikethik, Medienethik und Wirtschaftsethik. Die völlig überarbeitete Zweitauflage berücksichtigt neue Entwicklungen in den verschiedenen Handlungsbereichen. So wurde z. B. ein neues Kapitel zur KI und Robotik eingefügt (Wissenschaftsethik). 'Die Autorin hat ein Werk vorgelegt, das überaus geeignet erscheint zum Standardwerk hinsichtlich der Angewandten Ethik zu werden. Es überzeugt durch seinen profunden Kenntnisreichtum und die starke Praxisorientierung.' (socialnet.de)

Prof. Dr. Dagmar Fenner forscht und lehrt am Philosophischen Seminar der Universität Basel.

Vorwort
1 Einleitung
1.1 Ethik und Angewandte Ethik
1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis
1.3 Ethik-Experten und Ethik-Kommissionen
1.4 Bereichsethiken
2 Medizinethik
2.1 Arzt-Patient-Beziehung
2.2 Sterbehilfe und Suizidbeihilfe
2.3 Schwangerschaftsabbruch und Reproduktionsmedizin
2.4 Organtransplantation
2.5 Gerechtigkeit im Gesundheitswesen
3 Naturethik (Umwelt- und Tierethik)
3.1 Anthropozentrismus
3.1.1 Instrumentelle Argumente
3.1.2 Eudaimonistische Argumente
3.1.3 Moralpädagogisches Argument
3.2 Physiozentrismus
3.2.1 Pathozentrismus und Sentientismus
3.2.2 Biozentrismus
3.2.3 Ökozentrismus und Holismus
3.3 Anwendungsfall: Tierethik
4 Wissenschaftsethik
4.1 Interne Verantwortung: Wissenschaftsethos
4.2 Externe Verantwortung: Folgenverantwortung
4.3 Humanexperimente
4.4 Tierversuche
5 Technikethik
5.1 Vermeintliche Neutralität der Technik
5.2 Techniksteuerung und Verantwortungsteilung
5.3 Anwendungsfall 1: Gentechnik
5.4 Anwendungsfall 2: Robotik
6 Medienethik
6.1 Produzentenethik
6.1.1 Nachrichten und Meinungen
6.1.2 Unterhaltung
6.1.3 Werbung
6.2 Rezipientenethik (Publikums-/Nutzungsethik)
6.2.1 Individualethische Verantwortung
6.2.2 Sozialethische Verantwortung
6.3 Internetethik (Prosumentenethik)
7 Wirtschaftsethik
7.1 Makroebene: Wirtschaftsordnungsethik
7.1.1 Wirtschaftsliberalismus: Freie Marktwirtschaft
7.1.2 Planwirtschaftlicher Sozialismus: Zentralplanwirtschaft
7.1.3 Bürgerliberalismus: Soziale Marktwirtschaft
7.2 Mesoebene: Unternehmensethik
7.3 Mikroebene: Mitarbeiter-, Führungs- und Konsumentenethik
8 Nachwort und Ausblick
Bibliographie
Sachregister
Personenregister

1.2 Verhältnisbestimmung von Theorie und Praxis


Wie im vorangegangenen Kapitel bereits anklang, wird das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Angewandten Ethik sehr unterschiedlich beurteilt. Die meisten wissenschaftlichen Beiträge von Philosophen beschäftigen sich mit abstrakten ethischen Konzepten und theoretischen Überlegungen, die sie im Sinne des Top down-Modells für die Orientierung in der Praxis fruchtbar machen wollen. Bottom up-Modelle hingegen bekamen Ende des 20. Jahrhunderts Auftrieb durch die Renaissance der Kasuistik in der Medizinethik, ausgelöst durch die Abhandlung The Abuse of Casuistry: A history of moral reasoning (1988) der beiden Philosophen Albert Jonsen und Stephen Toulmin. Bei der Kasuistik, abgeleitet von lateinisch „casus“: „Fall, Vorkommen“ steht die Einzelfallbetrachtung im Zentrum. Die in der Biomedizin angewandte reine Kasuistik versucht, durch eine sorgfältige Beschreibung konkreter Probleme oder zusätzlich noch durch Vergleiche und Analogien mit ähnlichen Fällen oder Präzedenzfällen zu moralischen Entscheidungen zu gelangen (vgl. Stoecker u. a., 8; Schöne-Seifert, 25). Bei ihrer Tätigkeit in Ethikkommissionen machten Jonsen und Toulmin die Erfahrung, dass sich ein Konsens in moralischen Konfliktfällen wie z. B. über einen konkreten Schwangerschaftsabbruch niemals auf der Ebene abstrakter Prinzipien wie „Recht auf Leben“ des Embryos und „Recht auf Selbstbestimmung“ der Frau herstellen lasse (Jonsen u. a., 5). Einigkeit finde man immer nur „in einer geteilten Wahrnehmung dessen, was in ganz bestimmten menschlichen Situationen spezifisch auf dem Spiel steht“ (ebd., 18). Es gehe darum, in der jeweiligen konkreten Situation ein gerechtes Gleichgewicht zwischen Situationswahrnehmungen und -deutungen, Befürchtungen und Interessen, Wertvorstellungen und -intuitionen der Beteiligten zu finden (vgl. Vieth, 8; 20). „Moral ernstnehmen heißt zuallererst, Menschen ernstnehmen“ (Kymlicka 2000, 205). Die Rede ist auch von evaluativen Erfahrungen als einer Art und Weise,

wie Personen sich und Situationen bewertend erfahren: In der Ethikberatung beschreibt und bewertet man eine Situation, einen Fall oder auch mehr generelle Aspekte des Handelns. Beschreibung und Bewertung gehen Hand in Hand und folgen zunächst keinen anderen Regeln als denen, nach denen Personen gewohnt sind, sich und ihr Umfeld wertend (also evaluativ) zu erfahren. (Vieth, 51)

 

Kritik an theoriefeindlichen Bottom up-Modellen

Insbesondere transakademisch engagierte Anhänger des Bottom up-Modells (2) legen bisweilen eine beträchtliche Theoriefeindlichkeit an den Tag. Eine theoriefreie, rein praxisbezogene Angewandte Ethik hat aber mit einigen konzeptuellen Schwierigkeiten zu kämpfen: Wie präzise und sensibel auch immer eine konkrete Handlungssituation beschrieben wird, ergeben sich aus deskriptiven Schilderungen keinerlei Hinweise auf normative Handlungsorientierungen. Schließt man vom faktischen Sein, d. h. von wahrgenommenen Einzelfällen auf normative Aussagen, begeht man den in der philosophischen Ethik verpönten Sein-Sollen-Fehlschluss (vgl. Ethik, 120f.). Wird von „evaluativen Erfahrungen“ gesprochen, werden die Differenzen zwischen Beschreibungen und Bewertungen absichtlich verwischt, die angeblich „Hand in Hand“ gehen (vgl. Vieth, 51). Hinsichtlich eines Schwangerschaftsabbruchs lässt sich aber beispielsweise im frühen menschlichen Embryo ein bloßer Zellhaufen sehen und daraus die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs herleiten. Oder aber man nimmt ein menschliches Leben wahr, dem Würde zukommt und das daher nicht getötet werden darf. Solche moralischen Intuitionen, Einzelfallurteile und Überzeugungen der beteiligten Personen können irrtümlich oder falsch sein, indem sie z. B. auf Unwissen, Vorurteilen, unreflektierten Prägungen durch Erziehung und Sozialisation oder irrationalen Ängsten und Hoffnungen basieren. Damit Einzelfallurteile nicht dezisionistisch, d. h. willkürlich sind, muss angegeben werden, welche Merkmale in einer vorliegenden Handlungssituation z. B. für den Beginn menschlichen Lebens oder die Zuschreibung von Würde entscheidend sind (vgl. Bayertz 1991, 19). Erforderlich sind allgemeine Gesichtspunkte oder Kriterien, die sich für alle nachvollziehbar begründen lassen. Auch bei Analogien und Verweisen auf Präzedenzfälle braucht es den Bezug auf generelle Prinzipien, um Ähnlichkeiten und deren ethische Relevanz aufzuweisen (vgl. Stoecker u. a., 8). Angesichts des frühen Embryos lässt sich nämlich ebenso eine Analogie herstellen zu einer ethisch zulässigen Verhütung einer Schwangerschaft durch nidationshemmende Mittel als auch zu einem Neugeborenen, dessen Tötung nach allgemeinem Konsens verboten ist.

Sofern sich in aktuellen Handlungssituationen keine Übereinstimmung in den Einzelfallbetrachtungen einstellt und auch keine Analogie zu einem bereits gelösten Präzedenzfall weiterhilft, stoßen Bottom up-Modelle an ihre Grenzen. In der Angewandten Ethik werden jedoch meist moralische Konflikte erörtert, die sich häufig erst seit der Möglichkeit neuer Handlungsalternativen stellen. Empfohlen wird in Bottom up-Modellen dann oft ein kohärentistischer Begründungsansatz, bei dem es mehr auf „Stimmigkeit“ als auf logische Schlüssigkeit ankommt: „Man stellt eine Balance her zwischen relevanten Gesichtspunkten und gewichtet alle Faktoren so lange immer wieder neu, bis sich ein klares Bild ergibt“ (Vieth, 51). Wie unterschiedliche Sichtweisen und Werthaltungen sich ins Gleichgewicht bringen lassen, bleibt aber unklar. Wenn exemplarisch die Enkelin das Ableben der Großmutter als menschenunwürdig erlebt, für den behandelnden Arzt aber jedes biologische Am-Leben-Sein lebenswert ist, lässt sich schwerlich eine einzelfallbezogene Balance erzielen. Ob aus der Suche nach Kohärenz und Übereinstimmung überhaupt ein moralisch richtiges Urteil hervorgehen kann, ist ohnehin fraglich, wenn dabei sämtliche Interessen, Wertvorstellungen und Überzeugungen gleich gewichtet werden. Auch falsche moralische Intuitionen und irrtümliche Überzeugungen können nämlich in ein kohärentes System gebracht werden, wie etwa der lange Zeit bestehende Konsens über die Legitimität der Sklaverei zeigt. Sowohl individuelle Einzelfallurteile als auch angebliche Präzedenzfälle müssten deswegen kritisch hinterfragt und ethische Entscheidungen allgemein nachvollziehbar begründet werden. Statt von „induktiven“ Modellen wird manchmal in einer abgeschwächten Form von „rekonstruktiven Modellen“ gesprochen, wenn anders als bei einem rein empirischen induktiven Vorgehen die vorgefundenen moralischen Überzeugungen immerhin von logischen Unzulänglichkeiten befreit und systematisiert werden (vgl. Birnbacher 2006, 35; Stoecker u. a., 8).

Wenn radikale Vertreter von Bottom up-Modellen sämtliche allgemeinen Kategorien zurückweisen, müsste konsequenterweise in jedem Fall stets situativ neu entschieden werden. Einzelfalldarstellungen werden den meisten Problemen Angewandter Ethik aber auch deswegen nicht gerecht, weil es nur selten um isolierbare Einzelsituationen oder individuelle Entscheidungen geht. Weder das Problem der Abtreibung noch das der Sterbehilfe lässt sich auf die individualethische Fragestellung reduzieren, ob die Abtreibung für eine bestimmte schwangere Frau oder der Tod für eine sterbewillige Person in ihren je spezifischen Lebenssituationen vernünftig und ratsam seien. Die meisten moralischen Konflikte weisen vielmehr eine gesellschaftliche und politische Dimension auf: Zu diskutieren ist die sozialethische Frage, ob die institutionellen Rahmenbedingungen für bestimmte Handlungsweisen wie Abtreibung oder Sterbehilfe geschaffen werden dürfen. In demokratischen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen muss geklärt werden, ob diese Handlungsweisen als legitime institutionalisierte Praxis zugelassen werden sollen. Da sich Angewandte Ethik in der Regel mit öffentlichen Institutionen und politischen Handlungsoptionen zu befassen hat, ist eine „Fall-zu-Fall“-Ethik unzureichend (vgl. Bayertz 1991, 23). Ob eine Handlungsweise im Prinzip zulässig oder unzulässig ist, erfordert eine öffentliche Entscheidung und kann nicht durch Einzelfallabwägungen begründet werden. Um einen Dezisionismus zu vermeiden, müssen Vertreter des Bottom up-Modells die Ebene einzelner Fälle verlassen und sich auf einen grundsätzlichen argumentativen...

Erscheint lt. Verlag 17.10.2022
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Geisteswissenschaften Philosophie Ethik
Schlagworte Alltagspraxis • Angewandte Ethik • Anthropozentrismus • Biozentrismus • Corona-Pandemie • Ethikkommission • ethische Norm • Freie Marktwirtschaft • Gentechnik • Gerechtigkeit im Gesundheitswesen • Gesundheitswesen • Handlungsweise • Humanexperimente • Internetethik • Kapitalismus • KI • Konsumentenethik • Künstliche Intelligenz • Lehrbuch • Medien • Medienethik • Medizin • Medizinethik • Nachrichten und Meinungen • Naturethik • Ökozentrismus • Organtransplantation • Philosophie studieren • Physiozentrismus • Planwirtschaft • Produzentenethik • Reproduktionsmedizin • Rezipientenethik • Robotik • Schwangerschaftsabbruch • Soziale Marktwirtschaft • sozialethische Verantwortung • Sozialismus • Sterbehilfe • Studium Philosophie • Suizidbeihilfe • Technik • Technikethik • Tierethik • Tierversuche • Umweltethik • Unterhaltung • Unternehmensethik • Wirtschaft • Wirtschaftsethik • Wirtschaftsliberalismus • Wirtschaftsordnungsethik • Wissenschaftsethik
ISBN-10 3-8463-5902-5 / 3846359025
ISBN-13 978-3-8463-5902-0 / 9783846359020
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