Von den Illusionen einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück, erwachsen zu sein (eBook)
304 Seiten
Scorpio Verlag
978-3-95803-523-2 (ISBN)
Dr.med. Albrecht Mahr, geb. 1943, ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse. Er arbeitet in eigener psychoanalytisch-systemischer Praxis in Würzburg, leitet das Institut für Systemaufstellungen und Integrative Lösungen (ISAIL)und gibt weltweit Trainings in der Kunst des Erwachsenseins.
Dr.med. Albrecht Mahr, geb. 1943, ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse. Er arbeitet in eigener psychoanalytisch-systemischer Praxis in Würzburg, leitet das Institut für Systemaufstellungen und Integrative Lösungen (ISAIL)und gibt weltweit Trainings in der Kunst des Erwachsenseins.
Einführung
»Werdet wie die Kinder«: Ein spirituelles Missverständnis
Kind zu sein wird oft verstanden, als unbeschwert, spielerisch und spontan ein Leben ganz im Jetzt zu führen, voller Entdeckerfreude, Abenteuerlust und erfrischender Sorglosigkeit. Und Gott sei Dank gibt es solche glücklichen Kinder tatsächlich.
Und dennoch – Leiden heißt oft, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen. Denn die Möglichkeiten des kindlichen Bewusstseins sind von Natur aus begrenzt und bringen ein Kind dazu, vieles auf sich zu beziehen und sich entsprechend belastet zu fühlen. Ist die Mutter zum Beispiel krank, ruft dies bei ihrem Kind oft den innigen Wunsch hervor, sie zu entlasten, und die Überzeugung, dafür vielleicht verantwortlich und, bei rechter Anstrengung, irgendwie auch fähig zu sein. Was zu chronischer Überforderung und zu Gefühlen von Versagen, Minderwertigkeit und Schuld führt. Als Erwachsener erlebt sich dieser Mensch später dann unter dem unbewusst fortdauernden Einfluss dieses Kinderbewusstseins ständig als verantwortlich, überanstrengt, untergründig erbost und entsprechend unglücklich.
In ihren Bewusstseinsgrenzen deuten Kinder ihre Lebenswirklichkeit immer wieder zu ihren Ungunsten und verknüpfen Ursachen und Wirkungen oft auf eine Weise, die für sie belastend oder gar ängstigend ist, indem ein Kind zum Beispiel annimmt: »Irgendwie liegt es an mir, dass meine Eltern so unglücklich sind und andauernd streiten. Wenn ich nicht da wäre, dann …«
Wenn Kinder unter traumatisierenden Umständen – also zum Beispiel von selbst schwer traumatisierten, vernachlässigenden oder drogenabhängigen Eltern – empfangen beziehungsweise gezeugt werden und das bereits während ihrer Zeit im Mutterleib und mehr noch nach ihrer Geburt erleben und spüren, gelten die skizzierten Glückseinschränkungen natürlich noch viel mehr.
Die als glücklich und unbeschwert idealisierte Kindheit ist für zahlreiche Kinder oft alles andere als nur schön, sondern von viel Furcht, Unsicherheit und Verwirrung geprägt, mit denen sie in ihrem kleinen Bewusstsein nicht gut umgehen können. So kann das Jesuswort »Werdet wie die Kinder« leicht missverstanden werden.
Nach Matthäus 18, 1–5 beschäftigen sich die Jünger mit der Rangfolge untereinander und fragen Jesus: »Wer ist doch der Größte im Himmelreich?« Jesus bittet darauf ein Kind mitten in die Runde und sagt: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt und wird wie dieses Kind, der ist der Größte im Himmelreich.«
Wenn wir zustimmen, dass mit »Himmelreich« kein äußerer Ort, sondern ein weit entwickelter, gereifter Bewusstseinszustand gemeint ist, und wenn wir dieses merkwürdige »sich selbst erniedrigen« zu verstehen suchen als das Wesensmerkmal eines Kindes im Sinne von Unbekümmertheit, Einfachheit, Bescheidenheit und mitfühlender Offenheit, so ist das für die meisten Menschen die Frucht eines langen Bewusstwerdungs- und Reifungsprozesses, der eines Tages vielleicht in die innere Verfassung des »Himmelreichs« führen kann. Jesus spricht dann mit dem Bild vom Kind offensichtlich über einen Reifungs- und Läuterungsweg, der nur einem erwachsenen Bewusstsein möglich ist, der also nicht als »Zurück in die Kindheit« gemeint sein kann, sondern als »Vorangehen zum Immer-bewusster- und damit Immer-erwachsener-Werden«.
Die Kindergleichnisse Jesu wurden von Theologen häufig so missverstanden, wie die jeweiligen Autoren sich vor ihrem zeitgeschichtlichen, beruflichen und persönlichen Hintergrund Kinder vorstellten oder wünschten. »Meist lesen die Auslegenden den Text, als hieße es: ›Werdet wie die braven Kinder‹«, und das heißt zum Beispiel: »… nicht stolz, frei von Bosheit und Streit … nicht frech, sie hassen und lügen nicht, glauben, was man ihnen sagt … fromm und fröhlich … nimmt die Strafen seiner Eltern an … anspruchslos …« (Luz 1997).
Die Situation von Kindern zur Zeit Jesu war jedoch alles andere als beneidenswert. Sie galten wenig, waren rechtlos und wurden auch zur Sklavenarbeit herangezogen. Sie waren gesellschaftlich »niemand«, und darauf mag Jesus hingewiesen haben: das Himmelreich als »das Königreich der ›Niemande‹«. »Ein Reich der Kinder ist ein Reich, in dem niemand was ist oder jeder ein Niemand« (Crossan 1994), wo es nicht auf Status oder Leistung ankommt, sondern auf einfaches So-Sein. Danach sind Kinder in sich bereits vollkommen, ohne sich dessen noch gewahr zu sein.
Das Missverständliche beim Bild von den Kindern spiegelt auch einen häufigen psychologisch-spirituellen Irrtum wider, den der amerikanische Anthropologe Ken Wilber als »Prä-Trans-Trugschluss« bezeichnet: die Verwechslung der kindlichen vorrationalen und vorbewussten Wahrnehmung (»prä«) mit dem transrationalen, gereiften und erwachsenen Bewusstsein (»trans«), ebendem »Himmelreich« – als das Königreich der bewussten, lebensfreundlichen »Niemande«.
Erwachsen sein
Das Erwachsensein genießt nicht immer einen guten Ruf. Es ist die Rede von ständigem Leistungs- und Verantwortungsdruck, erschöpfendem Leerlauf, Stress und chronischen Erkrankungen, Verlust von Spontaneität und Kreativität, von Erstarrung in Traditionen und Konventionen oder von quälender Sinnleere. »Das vorherrschende Bild des Erwachsenseins vermengt all diese Bedeutungen zu einem einzigen sauren Gebräu« (Neiman 2014). Und tatsächlich leben wir als Erwachsene allzu oft in dieser Verfassung.
Bei genauerem Hinschauen aber kann uns nichts Besseres widerfahren als das Erwachsenwerden, nichts Beglückenderes als das Erwachsensein. Damit ist der Prozess gemeint, der unser Bewusstsein aus der Enge und der Gefangenschaft der kindlichen Vorstellungen herausführt in eine zunehmende Weite, die vor allem durch die Qualitäten Klarheit, Leichtigkeit, Selbstliebe, Liebe zu unseren Mitmenschen und zum Leben, Freundlichkeit, Wohlwollen anderen gegenüber und – nicht zuletzt – durch Humor auch in schwierigen Lebenslagen ausgezeichnet ist.
Tatsächlich haben Kinder oft viel weniger zu lachen als Erwachsene! Wie bereits angesprochen, deuten sie in ihren Bewusstseinsgrenzen ihre Lebenswirklichkeit immer wieder zu ihren Ungunsten und verknüpfen Ursachen und Wirkungen oft auf eine Weise, die für sie belastend oder gar ängstigend ist.
Wenn wir die viel größeren Möglichkeiten unseres erwachsenen Bewusstseins nutzen und ausschöpfen, so lebt es sich viel freier, als das vielen von uns als Kind möglich war. Das geschieht natürlich nicht von selbst, sondern braucht Einsicht, Förderung und Übung. Unser Bewusstsein wachsen und erwachsen werden zu lassen ist wie das Erlernen eines Musikinstruments, auf dem wir mit der Zeit immer schönere Töne hervorbringen.
Vom Glück, erwachsen zu sein – davon handelt dieses Buch. Es geht dabei nicht so sehr um das Noch-erwachsen-Werden als vielmehr um das Glück, zu realisieren, dass wir bereits erwachsen sind – auch wenn wir uns nicht immer so fühlen mögen.
Ich habe in den folgenden Kapiteln meine Erfahrungen als Arzt sowie als psychoanalytischer und systemischer Psychotherapeut1 – mit langjähriger Praxis als Abteilungsleiter in einer psychotherapeutischen Klinik –, als Ehemann und Vater, als Bürger der Bundesrepublik Deutschland und auch manchmal so empfindender Weltbürger zusammengetragen. Erfahrungen, die mir am Herzen liegen, die das Erwachsensein und Wege dorthin beleuchten und die dazu ermutigen, eigene Möglichkeiten zu erkunden. Ich greife dabei auf frisch überarbeitete eigene Vorträge und Fachartikel zurück, auf neu verfasste Texte, auf Erfahrungen von zahlreichen Reisen und von vielen Jahren Schulungen in Zen- und Vipassana-Meditation sowie im Diamond Approach, einer Methode, bei der Tiefenpsychologie und Spiritualität sich verbinden. Sie wird durch die Ridhwan-Schule vermittelt, eine in den USA gegründete international tätige gemeinnützige Vereinigung.
Das Wichtigste aber verdanke ich meiner Frau und Lebensgefährtin Brigitta und unseren Kindern Johannes und Ines, unserem Zusammenleben und unserem immer wieder so schönen Zusammenkommen aus verschiedenen Winkeln der Welt.
Zum Aufbau des Buches: Eine Lesehilfe
Die einzelnen Kapitel dieses Buches tragen ganz unterschiedliche Aspekte zum zentralen Thema »Erwachsensein« bei, sie sind also konzentrisch oder zentripetal darum gruppiert und sollen zusammen eine gute Orientierungshilfe dafür anbieten, wo die Leserin oder der Leser steht und wie ihr/sein Erwachsensein weiter gewinnen und wachsen kann.
Eine Einführung zu Beginn der Kapitel und am Ende eine kurze Überleitung zum Folgekapitel...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Alter • Älter werden • Selbsterkenntnis • Selbstfindung • Sinnsuche • Systemische Therapie |
ISBN-10 | 3-95803-523-X / 395803523X |
ISBN-13 | 978-3-95803-523-2 / 9783958035232 |
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