Erzählen von Macht: Narratologische Studien zur Færeyinga saga (eBook)

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2022
688 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-077502-0 (ISBN)

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Erzählen von Macht: Narratologische Studien zur Færeyinga saga - Andreas Schmidt
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Germanische Altertumskunde Online (Germanic Antiquity Studies Online) - just like the Reallexikon that has merged with it - is accompanied by supplementary volumes. This series comprises both monographs and edited volumes on specific topics from the fields of archaeology, history, and literary studies. It thus expands the database with the inclusion of aspects that require comprehensive analysis. More than 100 volumes have now appeared, from Germanenproblemen in heutiger Sicht (The Problems of Germanic Peoples from a Contemporary Perspective) to Germanische Altertumskunde im Wandel (Germanic Antiquity Studies in Flux).



Andreas Schmidt, Ludwig-Maximilians-Universität München.

1 Einleitung


1.1 Einführung: Numquam eas insulas in libris auctorum memoratas invenimus. Die Färöer und ihre Saga


Sunt aliae insulae multae in septentrionali Brittanniae oceano, quae a septentrionalibus Brittanniae insulis duorum dierum ac noctium recta nauigatione plenis uelis assiduo feliciter uento adiri quaeunt. Aliquis presbyter religiosus mihi retulit quod in duobus aestiuis diebus et una intercedente nocte nauigans in duorum nauicula transtrorum in unam illam introiuit.

Illae insulae sunt aliae paruulae, fere cunctae simul angustis distantes fretis; in quibus in centum ferme annis heremitae ex nostra Scottia nauigantes habitauerunt. Sed, sicut a principio mundi desertae semper fuerunt ita nunc causa latronum Normannorum uacuae anchoritis plenae innumerabilibus ouibus ac diuersis generibus multis nimis marinarum auium. Numquam eas insulas in libris auctorum memoratas inuenimus. 1

(There are many other islands in the ocean north of Britain which can be reached from the northern islands of Britain in a direct voyage of two days and nights with sails filled with a continuously favourable wind. A devout priest told me that in two summer days and the intervening night he sailed in a two-benched boat and entered one of them.

There is […] [a] set of small islands, nearly all separated by narrow stretches of water; in these for nearly a hundred years hermits sailing from our country, Ireland, have lived. But just as they were always deserted from the beginning of the world, so now because of the Northman pirates they are emptied of anchorites, and filled with countless sheep and many diverse kinds of sea-birds. I have never found these islands mentioned in the authorities. 2)

Die unbekannten, kleinen und unbewohnten Inseln, die der irische Mönch und Geschichtsschreiber Dicuil in diesem Abschnitt seines im Jahr 825 im Karolingischen Reich entstandenen Liber de mensura orbis terrae beschreibt, werden gemeinhin aufgefasst als erste Erwähnung der Inselgruppe der Färöer. 3 Die 18 Basaltinseln vulkanischen Ursprungs befinden sich auf 62° nördlicher Breite und 7° westlicher Länge im Nordatlantik zwischen den schottischen Inseln, Norwegen und Island und werden heute von etwa 50.000 Einwohnern bewohnt. 4 Damit stellen sie die kleinste der nordischen Kulturnationen dar. Nie habe er etwas über diese Inseln in den Schriften der auctores, der Gelehrten, geschrieben gefunden, gibt Dicuil zu Protokoll – eine Angabe, deren Kern auch heute, rund zwölf Jahrhunderte später, durchaus Bestand hat. Im Rahmen der Weltöffentlichkeit präsentieren sich die »fernen Inseln« 5 der Färöer weithin als eine moderne terra incognita.

Der geringen Größe von Land und Bevölkerung mag es zu verdanken sein, dass die Färinger nicht allein als die kleinste, sondern auch als die unbekannteste nordische Nation betrachtet werden können. Der breiteren Öffentlichkeit ist der Name der Inselgruppe für gewöhnlich bestenfalls im Kontext der kontrovers diskutierten Tradition des Grindadráp ein Begriff, einer nicht-kommerziellen Form des Walfangs, nicht zuletzt dank massiver Kampagnen von Umweltschutzorganisationen während des letzten Jahrzehnts. 6 Gelegentlich die Bühne der Weltöffentlichkeit betreten die Färinger anderweitig hauptsächlich im Rahmen des Volkssports Fußball. 7 Selbst innerhalb der nordischen Welt bilden die Färöer ein randständiges Gebiet – die Beschäftigung mit den Inseln blieb und bleibt bis heute zum Großteil der einheimischen Bevölkerung selbst überlassen. Erste Werke ausländischer Gelehrter über den Archipel datieren so zwar bereits aus dem späten 17. Jahrhundert, 8 doch blieben solcherlei Informationsmöglichkeiten stets viel mehr Ausnahme denn Regelfall. Selbst die Isländer, gewissermaßen das ›Brudervolk‹ der Färinger, scheinen, trotz ihrer bereits seit dem Mittelalter berühmten Schreiblust, an den benachbarten Inseln kein nennenswert großes Interesse entwickelt zu haben. 9 Mit einer Ausnahme: Der einzig erhaltene, vormoderne Erzähltext über die Färöer stammt aus Island; es ist die sogenannte Færeyinga saga, die Geschichte der Färinger. 10

Doch auch dieser Text offenbart sich als eine terra incognita, umgeben von einer geheimnisvollen Aura. Diese Beobachtung ergibt sich bereits aus dem Befund, dass ein Text unter diesem Namen streng genommen gar nicht existiert bzw. erst seit seiner Editio princeps im Jahre 1832 als solcher verfügbar ist. Was heute unter dem Namen Færeyinga saga firmiert, ist in keiner einzigen überlieferten Handschrift als zusammenhängender Gesamttext enthalten und nie explizit so bezeichnet. Die sogenannte Saga ist eine moderne Rekonstruktion verschiedener Bruchstücke, die in anderen, mittelalterlichen Texten überliefert wurden. In ihrer Gesamtheit ist diese Rekonstruktion einzig an verschiedenen, nicht unmittelbar zusammenhängenden Stellen der Großkompilation Flateyjarbók (GKS 1005 fol.) vom Ende des 14. Jahrhunderts enthalten, als Interpolation in und um die dort versammelten Óláfs saga Tryggvasonar en mesta und Óláfs saga helga; in weiteren Manuskripten existieren mitunter stark anders geartete, kürzere Textversionen. Doch nur diese Überlieferungsbruchstücke erzählen die Geschichte jener nicht in den Büchern der auctores erwähnten Inseln, die Dicuil beschreibt. Selbst die isländischen auctores und ihre Sagas bleiben somit recht wortkarg. Und nicht allein sie: Zwar ist die Saga mehrfach herausgegeben und übersetzt und im Vergleich mit anderen Texten der Sagaliteratur durchaus nennenswert studiert worden, jedoch schienen die Inseln und ihre Saga auch in den Schriften der modernen, wissenschaftlichen Gelehrten eher grundsätzlich bekannt denn bis in die Tiefe ihres Wesens durchdrungen.

Auf den ersten Blick erscheint dies nur folgerichtig: Ereignisse auf den Färöern dürften mit Ausnahme der direkt Betroffenen kaum Bedeutung von Weltrang haben. Der Archipel, bestehend aus wenig mehr als Felsformationen, gedeckt mit weiten Grasflächen und umspült von den meist reißenden Wassern des Nordatlantik, wirkt wie ein ideales Refugium gerade der Tierwelt, die schon Dicuil beschreibt (innumerabil[es] ou[es] ac diuers[a] gener[a] […] marinarum auium), doch nur bedingt geeignet für menschliche Interaktion oder Sinnzuschreibung. 11 »[T]he natural scenery is abrupt, awesome and beautiful«, 12 doch gerade wegen der naturgegebenen Fulminanz und Abgeschiedenheit dieser Inseln kann es geradezu widersinnig erscheinen, hier nach den Spuren menschlicher Kultur oder für diese bedeutsamer Ereignisse Ausschau halten zu wollen. Die Färöer sind von Natur aus fern, unnahbar und unzugänglich, noch heute Inseln am Rande von Welt und Zeit. Entsprechend sind verfügbare Quellen menschlicher Interaktion mit und auf ihnen spärlich, umso mehr für die mittelalterliche Zeit, als die Distanz in Raum und Zeit zwischen den »fernen Inseln« und der Welt noch nicht per Flugzeug zu überbrücken war. Welche Botschaft, welche Geschichte sollten diese fast verlassenen und halb vergessenen »fernen Inseln« der Welt außerhalb ihrer selbst also schon zu vermitteln haben?

Doch trotz ihrer scheinbaren Sinnwidrigkeit finden sich immer wieder Texte, die die Färöer behandeln oder wenigstens erwähnen und die nicht allein zum Ziel haben, Curiosa oder Fußnoten der Weltgeschichte zusammenzustellen. Die Reiseberichte des späten 17. bis frühen 20. Jahrhunderts zeugen, gerade wenn sie auf die Färöer führen, von der gleichen Sehnsucht nach dem in seiner Wildheit und nicht-mondänen Natur interessanten Unbekannten, das die Reiseberichtliteratur in diesem Zeitalter insgesamt prägt und das Interesse für abgelegene Länder und unverdorbene Grenzen auch innerhalb Europas maßgeblich begründet. 13 Auch der eingangs zitierte Dicuil erwähnt die Färöer insbesondere deshalb, um von ihrem menschenleeren Wesen causa latronum Normannorum zu berichten, einer Angelegenheit, die im von den Wikingern wiederholt heimgesuchten Frankenreich des 9. Jahrhunderts sicherlich eine eigene Virulenz besaß. Den gleichen Parametern unterliegen auch die Færeyinga saga und ihre Erforschung. In größeren Übersichtswerken zur altnordischen Literatur und ihrer Geschichte meist bestenfalls beiläufig erwähnt, 14 wurde sie bisher lediglich in kleineren Einzelstudien erforscht, auf den ersten Blick ihrer Einzigartigkeit Rechnung tragend. 15 Dennoch behandeln sie die genannten Studien nicht als kontextloses Faszinosum, sondern attestieren ihr eine (auch literatur-) geschichtlich bedeutende Stellung, 16 und/oder analysieren sie als Träger bedeutender Diskurse des isländischen Mittelalters. 17

Eine terra incognita ist auch die Saga in den Schriften der auctores also insofern, als dass sie überwiegend alleinstehend betrachtet wurde und folglich keinen prominenten Platz in der altskandinavistischen Forschung einnimmt. Gegenläufiger Weise wird ihr jedoch das Potenzial bescheinigt,...

Erscheint lt. Verlag 7.11.2022
Reihe/Serie Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
ISSN
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte Erzähltheorie • Faroe Islands • Färöer • Isländersaga • Narrative theory • Sagas of Icelanders • Vikings • Wikinger
ISBN-10 3-11-077502-6 / 3110775026
ISBN-13 978-3-11-077502-0 / 9783110775020
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