Wissenschaft und ›race relations‹ (eBook)

Repräsentationen von Multiethnizität in Großbritannien 1950–1980

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
418 Seiten
De Gruyter (Verlag)
978-3-11-079078-8 (ISBN)

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Wissenschaft und ›race relations‹ - Reet Tamme
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Die Untersuchung der race relations-Forschung in Großbritannien 1950-1980 zeigt exemplarisch das Wechselverhältnis zwischen Wissenschaftsdiskurs und sozialer Realität auf. In Anlehnung an die US-amerikanische Soziologie beschäftigten sich die britischen Forscher ab den 1950er Jahren mit den neuen Zuwanderern aus dem New Commonwealth, die in der britischen Gesellschaft schnell als ein neues 'soziales Problem' wahrgenommen wurden. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob und wie die Sozialwissenschaften in dem konkreten historischen und sozialen Setting soziale Realität mitstrukturierten. Dabei wird nicht nur die textuelle Produktion der Forschung, sondern auch die Institutionalisierung des Forschungsfeldes mit Einbeziehung wissenschaftlicher und politischer Akteure untersucht. Deutlich wird, dass die race relations-Forschung eine wissenschaftliche Reaktion auf Migration, Auflösung der Kolonien und die Unruhen im britischen Mutterland war. Mit ihrer Grundidee der 'Verbesserung von race relations' beanspruchte sie einen neuen gesellschaftlichen Konsens und entfaltete einen enormen Einfluss auf das soziale und politische Denken in Großbritannien. Die rassistischen Zuschreibungen, die sie hervorbrachte, wurden erst mit den Vorläufern der Postcolonial Studies in Frage gestellt.



Reet Tamme, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin.

I Einleitung


One afternoon, in May 1955, I went down to the South London district of Brixton, to make a reconnaissance for the study of a recent West Indian migrant group which is the subject of this book. As I turned off the main shopping street, I was immediately overcome with a sense of strangeness, almost of shock. The street was a fairly typical South London side street, grubby and narrow, lined with cheap cafés, shabby pubs and flashy clothing-shops. All this was normal enough. But what struck one so forcefully was that […] almost everybody in sight had a coloured skin. […] This first reaction of mine was, I think, similar to that of most people in the United Kingdom, following the recent large-scale immigration of West Indians and other coloured Commonwealth citizens into Britain.1

Mit diesen Sätzen begann die Soziologin Sheila Patterson ihre Studie „Dark Strangers“, erschienen in London 1963. Sie zeigen einen Wandel, der in der britischen Gesellschaft in der Nachkriegszeit eingeleitet wurde, nämlich eine bis in die 1960er Jahre zunehmende Einwanderung aus den Ländern des New Commonwealth. Viele von diesen Einwanderern2 waren dem Versprechen des liberalen Nationality Act von 1948 gefolgt, sich in Großbritannien als Bürger des Commonwealth auf Dauer niederlassen zu dürfen. Die Wahrnehmung dieser Menschen mit einer anderen Hautfarbe in der britischen Gesellschaft jedoch war strangeness und shock. Ihre Anwesenheit wurde als jenseits des Normalen empfunden und als eine Herausforderung für die gewohnte soziale Ordnung, glauben wir der Soziologin Patterson, die sich hier als Sprecherin für die Mehrheit der britischen Gesellschaft positioniert. Die beiden Begriffe – strangeness und shock, beziehungsweise colour shock – drücken aber nicht nur die Wahrnehmung einer weißen Britin aus, sondern stehen gleichzeitig für die analytischen Konzepte der race relations-Forschung. Es waren Begriffe, mit denen die Begegnung von Menschen in einer Migrationssituation wissenschaftlich beschrieben wurde.3 Die Autorin fügte im Anschluss hinzu, dass sie sich mit den Begriffen an die amerikanische Soziologie anlehne,4 die sich schon seit den 1920er Jahren mit race relations beschäftigt hatte.

In ihrer Studie sprach Patterson einerseits von einem Gefühl der Befremdung unter den Einheimischen angesichts der Anwesenheit neuer, nicht-weißer Mitbürger, andererseits rief sie zu einer social action auf, um die Akzeptanz und Toleranz in der britischen Gesellschaft gegenüber den Einwanderern zu fördern. So wie Patterson forderten auch andere Wissenschaftler eine Neuverortung der Beziehungen zwischen schwarzer und weißer Bevölkerung und erwarteten einen baldigen Wandel der Einstellungen in der britischen Gesellschaft gegenüber race. Das vordringlichste Ziel der Forschung war „to reduce prejudice and improve relations“,5 denn solch ein Wandel, so glaubte man, könne nur mit Hilfe wissenschaftlicher Forschung und der Verbreitung von wissenschaftlichen Fakten stattfinden. Das war eine neue, damals kaum umstrittene Perspektive in der Forschung über race, ein soziologischer Ansatz, der den wissenschaftlichen Rassismus gänzlich ablehnte und die Gestaltung der Gesellschaft – einer harmonisch funktionierenden Gesellschaft – anstrebte. In der Periode ab dem Beginn der 1950er Jahre lässt sich die Herausbildung und Etablierung der race relations-Forschung in Großbritannien verfolgen.

1Race relations-Forschung als Untersuchungsgegenstand


Den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit bildet die race relations-Forschung in Großbritannien als neues System der Wissensproduktion und als neues Repräsentationssystem von Ethnizität. Das Erkenntnisinteresse leitet sich aus folgenden Beobachtungen ab: Gerade die 1950er und 1960er Jahre waren in den europäischen Gesellschaften geprägt von einer Planungseuphorie.6 Sozialwissenschaften wurden zu einem bevorzugten Mittel für die Definition sozialer Probleme und die Formulierung von Reformentwürfen für die nationalen Gesellschaften.7 Beeinflusst wurden sie von den Sozialwissenschaften in den USA, wo in der Periode von 1940 bis 1970 von einer Hochkonjunktur der empirischen Sozialforschung im Dienst des sozialen Fortschritts gesprochen werden kann.8 In diesem Prozess des Wissenstransfers spielten die amerikanischen philanthropischen Stiftungen eine wichtige Rolle.9

Auf diesem Befund aufbauend ist das Ziel dieser Arbeit, das Verhältnis der Sozialwissenschaften zum sozialen Wandel in der britischen Gesellschaft, der durch die Nachkriegseinwanderung eingeleitet wurde, genauer zu beleuchten und der Frage nachzugehen, ob und wie die Sozialwissenschaften in diesem konkreten historischen und sozialen Setting soziale Realität mitstrukturierten. Die Arbeit stellt die zweiteilige These auf, dass im untersuchten Zeitraum den Sozialwissenschaften eine zentrale Rolle bei der Generierung und Darstellung des Wissens zukam, dessen Kommunikation in der Öffentlichkeit und dessen Aushandlung in der minderheitenpolitischen Praxis das britische Selbstverständnis als das einer multiethnischen Gesellschaft untermauerte. Parallel dazu wird angenommen, dass sozialwissenschaftliche Diskurse nicht isoliert von der Gesellschaft existieren – während sie Deutungen über deren Beschaffenheit erzeugen, unterliegen sie selbst gesellschaftlichen Veränderungen. Das Fallbeispiel der race relations-Forschung soll zeigen, dass zwei gesellschaftliche Umbruchphasen Ende der 1950er und 1960er Jahre nicht nur die wissenschaftlichen Deutungsmuster, sondern auch die Organisationsformen der Forschung veränderten.

Aus diesen zwei Aspekten ergibt sich die Fragestellung. Es gilt herauszuarbeiten, wie die race relations-Forschung die Erfahrungen des sozialen Wandels in der britischen Gesellschaft deutete, wie die Wissenschaftler – selbst Teil dieser Gesellschaft – diese Deutungen in ihren Studien auf Begriffe brachten und wie dieses Wissen wiederum handlungsleitend wurde. Denn in den Begriffen einer Sprache sind soziale Erfahrungen ganzer Gesellschaften, einzelner Gruppen und ausdifferenzierter Disziplinen sedimentiert.10 Die Begriffe zeigen, wie die Existenz der multiethnischen Gesellschaft und die Zugehörigkeit zu einer nationalen Gemeinschaft artikuliert wurden und wie sich diese Wahrnehmungen im Laufe der Zeit veränderten. Dass Wandel eng verbunden mit Krisen und Umbrüchen ist, haben Imhof et al. gezeigt, die Krise als eine offene, dynamische Phase der Gesellschaftsentwicklung verstehen, in der allgemein akzeptierte Deutungsmuster, Normen und Werte in Frage gestellt werden und erst auf diese Weise ihre Kontingenz erkennbar wird.11 Somit wird hier unter „Krise“ ein Zustand der Gesellschaft oder zumindest zentraler gesellschaftlicher Bereiche verstanden, in dem unter Zeitdruck schwierige Probleme der Anpassung, der Koordination und gegebenenfalls der Strukturveränderung zu lösen sind.12 Daher soll gefragt werden, wie sich der wissenschaftliche Diskurs infolge von Krisen und Umbrüchen veränderte. Im Untersuchungszeitraum lassen sich zwei solche Perioden beobachten, die jeweils einen unterschiedlichen Charakter haben: zum einen die Unruhen im Londoner Stadtteil Notting Hill und in Nottingham 1958, zum anderen eine komplexe Dynamik der gesellschaftlichen Umwälzung Ende der 1960er Jahre. Von letzterer sind für den Untersuchungsgegenstand insbesondere die Verschärfung der Einwanderungsdebatten und das Aufkommen radikaler sozialer Bewegungen relevant.

Damit ist auch der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit umrissen. Er reicht von den ersten race relations-Studien, die mit dem Beginn der Einwanderung aus der Karibik Ende der 1940er Jahre verfasst wurden, bis in die 1970er Jahre, als das etablierte race relations-Paradigma von einer neuen Generation von Wissenschaftlern in Frage gestellt wurde, die neue, konkurrierende Deutungen von Multiethnizität formulierte. Gegliedert wird dieser Zeitraum durch die zwei oben genannten Krisen- und Umbruchzeiten, die den Wandel des Diskurses sichtbar machen.

Im Hinblick auf Forschungsthemen und -methoden lassen sich die Sozialwissenschaften nicht in einer nationalen Isolation voneinander untersuchen. Das wird auch im Fall der britischen race relations-Forschung deutlich, für die die amerikanische Forschung die theoretischen Grundlagen geliefert hat. Daher wird gefragt, welche Deutungsmuster der amerikanischen Forschung in die britischen wissenschaftlichen Diskurse übertragen wurden, wie sie sich im Transfer veränderten und wie sich britische wissenschaftliche Akteure diese Forschungsansätze angeeignet haben.

Eine weitere Perspektive ergibt sich aus dem Anliegen der Sozialwissenschaften, soziale Zustände zu definieren und Erklärungen sowie Lösungsstrategien für Probleme zu bieten. Eine Analyse ihrer Begriffe ermöglicht demzufolge auch einen Blick darauf, welche gesellschaftlichen Entwicklungen als Krisen oder soziale Probleme definiert wurden, die eine politische Lösung erforderlich machten. Auf diese Weise werden wissenschaftliche Konstruktionen sozialer Differenz sichtbar, die die Wirklichkeit strukturieren halfen. Das impliziert die Frage einerseits nach der Aushandlung von Wissen...

Erscheint lt. Verlag 24.10.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Interdisciplinarity • Interdisziplinarität • Migration • scientification • social engineering • Sozialtechnologie • Verwissenschaftlichung • Zuwanderung
ISBN-10 3-11-079078-5 / 3110790785
ISBN-13 978-3-11-079078-8 / 9783110790788
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