Kritik der entsinnlichten Vernunft (eBook)

Zur Naturgeschichte von Kultur, Subjekt und Geschlecht

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
439 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45382-8 (ISBN)

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Kritik der entsinnlichten Vernunft -  Mario Wolf
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Weshalb bleibt das Verhältnis der Geschlechter eigentlich so persistent gegenüber progressiven Veränderungen? Mario Wolf beantwortet diese Frage anhand der Erkenntnisse der psychoanalytischen und kritischen Theorie und betrachtet die sogenannte »Archaik« des Geschlechterverhältnisses dabei nicht als einfachen Rückfall in vorzivilisatorische Zeiten. Er betont vielmehr die Dialektik von Progression und Regression in der Geschlechterordnung und verweist auf die statischen und dynamischen Momente der Geschichte. Bedingung, diese Geschlechterordnung zu überwinden und die Vorstellungen einer »männlichen« Rationalität und einer »weiblichen« Sinnlichkeit endgültig aufzugeben, ist - so seine These - das Aufheben des Widerspruchs von Sinnlichkeit und Vernunft.

Mario Wolf, Dr. phil., studierte Soziologie und Gender Studies an der Georg-August-Universität in Göttingen und promovierte an der Leibniz Universität Hannover.

Mario Wolf, Dr. phil., studierte Soziologie und Gender Studies an der Georg-August-Universität in Göttingen und promovierte an der Leibniz Universität Hannover.

Vorwort


Kritik gilt gesellschaftlicher Herrschaft, die als ›Natur‹ erscheint. Solche Fetischisierungen entspringt dem Vergessen der Vorgeschichte der jeweils geltenden, institutionalisierten Lebensformen. Deren Imperative dirigieren die Vergesellschafteten, ohne daß sie ihnen zu Bewußtsein kämen.
Dahmer 1994: 9

Die kritische Theorie verweigert sich des vorgeblich richtigen »Standpunkts«, auch des sogenannten proletarischen. Die Tätigkeit der Kritik ist an keine Klasse und an kein Geschlecht gebunden, sondern die Chance für jede und jeden, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu durchschauen.
Stender 1996: 21

Wenn man das Geschlechterverhältnis betrachtet, dann erscheint es auch immer so, als hätte es trotz aller Modernisierungen etwas irgendwie Antiquiertes und auch »Archaisches« an sich. Auch in aktuellen Debatten innerhalb der Geschlechterforschung – wie im 2019 erschienenen Sammelband Struktur und Dynamik – Un/Gleichzeitigkeiten im Geschlechterverhältnis (Rendtorff / Riegraf / Mahs 2019) dargestellt – wird die Frage aufgeworfen, warum das Geschlechterverhältnis so persistent ist, während doch die Stellung der Frau in der Berufswelt wie auch insgesamt im öffentliche Raum stetig verbessert und modernisiert wird. Und Frigga Haug (2004) stellt – hier stellvertretend für viele Stimmen innerhalb der feministischen Forschung – in ihrem Aufsatz Gender – Karriere eines Begriffs und was dahinter steckt in Texte 18 – GeschlechterVerhältnisse – Analysen aus Wissenschaft, Politik und Praxis verwundert fest, dass gesetzliche Lohngleichheit nicht zu gleichen Löhnen, die Abschaffung der geschlechtlichen Separierung in der schulischen Bildung zur Benachteiligung der Mädchen, die freie Berufswahl der Frauen zum Wunsch Hausfrauen zu sein und die explizite sprachliche Erwähnung von Frauen zur Verdeckung der tatsächlichen Abwesenheit von Frauen in den entsprechenden Feldern führe (vgl. ebd.: 21). Gerade in Zeiten in denen viel über Politik, Umwelt und Arbeit im Bezug auf das Geschlechterverhältnis diskutiert wird und zu großen Teilen sogar die gesetzliche Gleichstellung verankert ist, stellt man sich m. E. berechtigterweise die Frage, warum das Verhältnis der Geschlechter immer wieder diese persistenten und archaischen Momente aufweist, in denen der Einzelne anscheinend zum Jäger bzw. Retter werden muss und die Einzelne wiederum zur Beute oder zur »Jungfrau-in-Nöten«. Dabei werden Männer häufig in die zweckrationale und Frauen in die eher sensible Ecke gerückt. Diese Bilder scheinen häufig so unumstößlich, dass sie wie natürliche Eigenschaften der Geschlechter wirken. Im Verlauf der menschlichen Geschichte haben die gesellschaftlichen Naturverhältnisse1 die Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit so stark geprägt, dass diese heute selbst wie Naturgewalten wirken – sie sind den Menschen zur zweiten Natur geworden. Um nachzuvollziehen, warum diese sozialen Vorstellungen wie natürliche Fakten wirken, wird sich diese Arbeit der kritischen Theorie von Kultur, Subjekt und Geschlecht auf Basis der Idee der Naturgeschichte widmen. Es wird darum gehen, wie sich diese zum Teil uralten Bilder in die modernen Vorstellungen mischen konnten und sich (männliche) Herrschaft durch die gesamte menschliche Geschichte zieht. Da die innere Naturbeherrschung – die Kontrolle der Triebwünsche – mit der Beherrschung der äußeren Natur zusammenhängt, wird es ebenfalls um die Kultivierung der natürlichen Umwelt des Menschen gehen. Die Beherrschung der Naturgewalten galt seit jeher als immens wichtige Frage für die menschliche Kultur. Vermittelt mit der Idee der Naturgeschichte lassen sich die archaischen Momente männlicher Herrschaft innerhalb der Kulturgenese, der Subjektkonstitution und des Geschlechterverhältnisses nachvollziehen. So soll verständlich werden, wie diese Momente – vermittelt durch die Dialektik der Aufklärung – in der Moderne wiederkehren. Damit wird verständlich, warum die »Verbesserungen« innerhalb der Beziehung der Geschlechter systemimmanent bleiben und letztlich – wie zu zeigen sein wird – zur Verschlechterung der Lage der Frauen (doppelte und dreifache Belastung, versteckte Diskriminierung etc.) und zum Überleben der archaischen Momente im neuen Gewand führen. Durch die dialektische Betrachtung kann der (scheinbare) Widerspruch von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit aufgelöst werden und die Frage nach der Persistenz des Geschlechterverhältnisses beantwortet werden. Damit nimmt diese Arbeit die aktuellen Debatten innerhalb der Geschlechterforschung auf und wird durch die Vermittlung der kritischen Theorie2 der Gesellschaft und einer psychoanalytisch begründeten Subjekttheorie Antworten auf die hier gestellten Fragen geben.

Ein gutes Anschauungsbeispiel für die »Archaik« in den Geschlechterbildern im Bezug zur Natur bietet die aktuelle Debatte um den Klimawandel. Auch hier erscheint es so, als ob die Ausbeutung der Natur nur von Männern gemacht werde und Frauen sich aufgrund ihres Geschlechts dem Umweltschutz verschrieben hätten. Das Klima ist heute in den öffentlichen und wissenschaftlichen Medien eine präsente Naturgewalt und der Klimawandel steht aktuell im Fokus der internationalen Öffentlichkeit und wissenschaftlicher Debatten. Laut IPCC sei der Klimawandel »eine akute und potenziell irreversible Bedrohung für menschliche Gesellschaften und den Planeten« (IPCC 2018: 6). In den aktuellen Debatten um den Klimawandel wird zumindest von Seiten der Geschlechterforschung und feministischen Bewegungen immer wieder auf den Zusammenhang von Klimapolitik und Geschlechterverhältnis3 verwiesen und wie wichtig dieser für die Analyse gesellschaftlicher Einordnungen des Klimawandels und den daraus resultierenden politischen Entscheidungen sei (vgl. Röhr / Alber 2018: 118 f.). Dabei wird in aller Regel auf die Männer geschaut, die den Klimawandel bestreiten. Hier handelt es sich um die sogenannten Cool Dudes: den weißen, alten und konservativen Männern in den USA (McCright / Dunlap 2011) und in Norwegen (Krange / Kaltenborn / Hultman 2019). McCright und Dunlap haben dabei den nach ihrer Studie benannten Cool Dude-Effekt analysiert, der den Zusammenhang von Männlichkeit, Konservatismus und Weißsein beschreibt. Pulé und Hultman begründen diesen white male effect4 in der Leugnung des Klimawandels damit, dass die Cool Dudes ganz allgemein die Industrial / Breadwinner Masculinity bedroht sehen (vgl. Pulé / Hultman 2019: 94 f.). Ähnliche Leugnungen des menschlichen Einflusses haben auch Forchtner, Kroneder und Wetzel in ihrer Untersuchung Being skeptical? Exploring far-right climate change communication in Germany (Forchtner / Kroneder / Wetzel 2018) bezüglich rechtspopulistischer und rechtsextremer Äußerungen in Deutschland über den Klimawandel herausgefunden – und das Trotz der angeblichen Sorge um die natürliche Umwelt im Herzen der rechtsradikalen Ideologie (vgl. ebd.). Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Skeptiker des menschengemachten Klimawandels eher alte, weiße und politisch rechts verortete Männer seien, deren Vorstellungen sich häufig auch mit misogynen Diskursen verbinden (Gelin 2019: online). Dagegen sei, laut einer Studie der TU Chemnitz, die Seite des Protests gegen einen Klimawandel eher weiblich, jung und politisch links (vgl. Wahlström / Kocyba / de Moor 2019: 9 ff.). Einen androzentrischen Blick wird allerdings auch den Umweltschützern vorgeworfen, die mittels gesteigerter, technologischer Naturbeherrschung durch Geoengineering das Problem der globalen Erwärmung aufhalten wollen – Geoenginieering sei, auch wenn nicht unwiderruflich, ein männliches Projekt (vgl. Buck / Gammon / Preston 2014: 665): »The work of geoengineering – the calculations, drawings, schematics, and model-making involved in designing balloons, ballistics, and nozzles for spraying – consists of the simultaneous play and display of technical prowess in the masculine ritual of tinkering« (ebd.: 657). Dies bestätigt auch Bari (2020) in ihrem Aufsatz Manipulating Mother Nature: The gendered antagonism of geoengineering, in dem sie betont, dass Geoengineering als kapitalistische Verwertung der »Mutter Erde« unter dem Male Gaze zu begreifen sei (vgl. ebd.).

Sehr ähnliche Punkte bezüglich des Natur- und Geschlechterverhältnisses lassen sich nicht nur in der internationalen Debatte um den Klimawandel finden, sondern auch in der deutschen Diskussion ums Tempolimit: Auch hier seien alte Männer das...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Geschlechterforschung • Herrschaftsverhältnisse • Konstruktionen von Geschlecht • Konstruktivierung der Geschlechterbeziehungen • Kritische Theorie • Psychoanalytik • Subjektkonstitution • Unterdrückung
ISBN-10 3-593-45382-7 / 3593453827
ISBN-13 978-3-593-45382-8 / 9783593453828
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