Seneca - Epistulae morales ad Lucilium - Liber IX Epistulae LXXV - LXXX -  Michael Weischede

Seneca - Epistulae morales ad Lucilium - Liber IX Epistulae LXXV - LXXX (eBook)

Latein/Deutsch
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
100 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-5312-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
1,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
In den 60er-Jahren des ersten Jahrhunderts n. Chr. hat der römische Politiker und Philosoph Lucius Annaeus Seneca (Seneca der Jüngere) eine Sammlung von 124 Briefen verfasst, in denen er seinem Freund Lucilius Einblicke in seine persönliche Ausdeutung der stoischen Philosophie gewährt. Dabei geht die heute geläufige Einteilung der Briefe in 20 Bücher bereits auf die Antike zurück. Der vorliegende Band beinhaltet die Briefe 75-80 aus Buch 9 in deutscher Übersetzung sowie den lateinischen Originaltext.

Der Autor Michael Weischede hat Geschichte an der Ruhruniversität in Bochum studiert und arbeitet zurzeit als freier Schriftsteller in Dortmund.

Liber IX – Epistula LXXVI


Seneca Lucilio suo Salutem,

(1) Inimicitias mihi denuntias si quicquam ex iis quae cotidie facio ignoraveris. Vide quam simpliciter tecum vivam: hoc quoque tibi committam. Philosophum audio et quidem quintum iam diem habeo ex quo in scholam eo et ab octava disputantem audio. 'Bona', inquis, 'aetate.' Quidni bona? Quid autem stultius est quam quia diu non didiceris non discere?

(2) 'Quid ergo? Idem faciam quod trossuli et iuvenes?' Bene mecum agitur si hoc unum senectutem meam dedecet: omnis aetatis homines haec schola admittit. 'In hoc senescamus, ut iuvenes sequamur?' In theatrum senex ibo et in circum deferar et nullum par sine me depugnabit: ad philosophum ire erubescam?

(3) Tamdiu discendum est quamdiu nescias; si proverbio credimus, quamdiu vivas. Nec ulli hoc rei magis convenit quam huic: tamdiu discendum est quemadmodum vivas quamdiu vivas. Ego tamen illic aliquid et doceo. Quaeris quid doceam? Etiam seni esse discendum.

Buch 9 – Brief 76


Seneca grüßt seinen Lucilius,

(1) Feindseligkeiten kündigst du mir an, falls du irgendetwas von dem, was ich Tag für Tag tue, nicht zur Kenntnis erhältst. Schau, wie aufrichtig ich mit dir umgehe: ich werde dir auch dieses anvertrauen: ich höre einen Philosophen und verlebe gewiss schon den fünften Tag, seitdem ich zur Vorlesung gehe und von der achten Stunde an dem Vortragenden zuhöre. „In einem ehrbaren Alter”, wendest du ein. Warum nicht in einem ehrbaren [Alter]? Was hingegen ist dümmer, als nicht zu lernen, weil man seit langer Zeit nicht gelernt hat?

(2) „Was jetzt? Soll ich dasselbe tun, wie die Dandys und die Jünglinge?” Gut steht es um mich, wenn allein das meinem Alter nicht angemessen ist: diese Vorlesung lässt Menschen jeden Alters zu. „Sollen wir deshalb alt werden, um uns den Jünglingen anzuschließen?” Ich werde als alter Mann in das Theater gehen und in den Zirkus getragen, und kein Gladiatorenpaar wird ohne mich auf Leben und Tod kämpfen: soll ich mich schämen, zum Philosophen zu gehen?

(3) Es muss so lange gelernt werden, wie man [etwas] nicht versteht; wenn wir dem Sprichwort glauben, solange man lebt. Und dieses entspricht keiner Sache mehr als der Folgenden: auf welche Weise man leben soll, muss so lange gelernt werden, wie man lebt. Trotzdem lehre auch ich dort etwas. Du fragst, was ich lehre? Dass auch ein Greis noch lernen muss.

(4) Pudet autem me generis humani quotiens scholam intravi. Praeter ipsum theatrum Neapolitanorum, ut scis, transeundum est Metronactis petenti domum. Illud quidem fartum est, et ingenti studio quis sit pythaules bonus iudicatur; habet tubicen quoque Graecus et praeco concursum: at in illo loco in quo vir bonus quaeritur, in quo vir bonus discitur, paucissimi sedent, et hi plerisque videntur nihil boni negotii habere quod agant; inepti et inertes vocantur. Mihi contingat iste derisus: aequo animo audienda sunt inperitorum convicia et ad honesta vadenti contemnendus est ipse contemptus.

(5) Perge, Lucili, et propera, ne tibi accidat quod mihi, ut senex discas; immo ideo magis propera quoniam id nunc adgressus es quod perdiscere vix senex possis. 'Quantum', inquis, 'proficiam?' Quantum temptaveris.

(6) Quid expectas? Nulli sapere casu obtigit. Pecunia veniet ultro, honor offeretur, gratia ac dignitas fortasse ingerentur tibi: virtus in te non incidet. Ne levi quidem opera aut parvo labore cognoscitur; sed est tanti laborare omnia bona semel occupaturo. Unum est enim bonum quod honestum: in illis nihil invenies veri, nihil certi, quaecumque famae placent.

(4) Die menschliche Gattung jedoch beschämt mich, sooft ich eine Vorlesung besuche. Wie du weißt, muss man unmittelbar am Theater von Neapel vorbeigehen, wenn man das Haus des Metronax aufsucht. Ersteres ist sicherlich brechend voll, und mit ungeheurem Eifer wird entschieden, wer ein guter Flötenspieler ist; auch der griechische Tubabläser und der Ausrufer verursachen einen Auflauf: an jenem Ort dagegen, an dem der tugendhafte Mann zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird, an dem ein tugendhafter Mann etwas über sich erfahren wird, halten sich nur sehr wenige auf, und den meisten erscheint es, dass sie keine anständige Beschäftigung haben, der sie nachgehen; töricht und untätig ruft man sie. Mag mich dieser Spott [ruhig] treffen: mit gelassenem Herzen müssen diese Beleidigungen der Unkundigen vernommen werden und der zum sittlich Guten hin fortschreitet, muss gerade die Verachtung verachten.

(5) Mach dich auf, Lucilius, und eile dich, damit es dir nicht ergeht wie mir, dass du als alter Mann [noch] lernst; ja beeile dich deswegen sogar mehr, weil du jetzt das in Angriff genommen hast, was du als alter Mann nur mit Mühe gründlich erlernen kannst. „Wie weit werde ich fortschreiten?”, fragst du. So weit [wie] du es erstrebst.

(6) Warum wartest du? Keinem ist es zuteilgeworden, zufällig weise zu sein. Das Vermögen wird von selbst entstehen, das Ehrenamt dargeboten, Einfluss und eine hohe gesellschaftliche Stellung dir vielleicht aufgedrängt werden: die sittliche Vollkommenheit wird nicht [von selbst] auf dich herabfallen. Durch leichte Arbeit und mit wenig Anstrengung lernt man sie nicht einmal kennen; es ist aber der Mühe wert, sich anzustrengen, um alle Güter ein für alle Mal in Besitz zu nehmen. Das einzige Gut ist nämlich dasjenige, das sittlich gut ist: in all den genannten Dingen, die der öffentlichen Meinung gefallen, wird sich nichts Wahrhaftiges finden, nichts Gewisses.

(7) Quare autem unum sit bonum quod honestum dicam, quoniam parum me exsecutum priore epistula iudicas magisque hanc rem tibi laudatam quam probatam putas, et in artum quae dicta sunt contraham.

(8) Omnia suo bono constant. Vitem fertilitas commendat et sapor vini, velocitas cervum; quam fortia dorso iumenta sint quaeris, quorum hic unus est usus, sarcinam ferre; in cane sagacitas prima est, si investigare debet feras, cursus, si consequi, audacia, si mordere et invadere: id in quoque optimum esse debet cui nascitur, quo censetur.

(9) In homine quid est optimum? Ratio: hac antecedit animalia, deos sequitur. Ratio ergo perfecta proprium bonum est, cetera illi cum animalibus satisque communia sunt. Valet: et leones. Formonsus est: et pavones. Velox est: et equi. Non dico, in his omnibus vincitur; non quaero quid in se maximum habeat, sed quid suum. Corpus habet: et arbores. Habet impetum ac motum voluntarium: et bestiae et vermes. Habet vocem: sed quanto clariorem canes, acutiorem aquilae, graviorem tauri, dulciorem mobilioremque luscinii?

(7) Weshalb jedoch einzig das ein Gut ist, was sittlich gut ist, will ich erklären, weil du ja der Meinung bist, dass ich es in einem früheren Brief nicht ausreichend erörtert habe, und meinst, dass dir dieser Sachverhalt eher angepriesen als dass er untersucht wurde, und ich werde knapp zusammenfassen, was behauptet worden ist.

(8) Alles beruht auf einem entsprechenden Gut. Den Rebstock zeichnet seine Fruchtbarkeit und der Geschmack des Weines aus, den Hirsch seine Schnelligkeit; wie kräftig der Rücken der Lasttiere ist, fragt man, deren einzige Verwendung darin besteht, eine Last zu tragen; bei einem Hund steht sein Spürsinn zuvorderst, wenn er wilde Tiere aufstöbern, Schnelligkeit, wenn er ihnen nachsetzen, Kühnheit, wenn er sie beißen und anfallen soll: bei jedem muss das am besten sein, wofür er bestimmt ist, wodurch er seinen eigentlichen Wert gewinnt.

(9) Was ist beim Menschen das Beste? Die Vernunft: den lebenden Wesen geht sie voran, den Göttern folgt sie. Die vollendete Vernunft ist demnach das ihm eigentümliche Gut, alles übrige hat er mit Tieren und Pflanzen gemeinsam. Er ist stark: die Löwen auch. Er ist wohlgestaltet: die Pfauen auch. Er ist schnell: die Pferde auch. Ich behaupte nicht, er wird bei all diesen übertroffen; ich frage nicht, was er als Höchstes, sondern was er als ihm Eigenes in sich trägt. Er hat einen Körper: die Bäume auch. Einen inneren Drang besitzt er und ein dem Willen unterworfenen Antrieb: die wilden Tiere und die Würmer auch. Eine Stimme hat er: aber eine wie viel lautere haben Hunde, eine wie viel durchdringendere die Adler, eine wie viel mächtigere die Stiere, eine wie viel lieblichere und gewandtere die Nachtigallen?

(10) Quid est in homine proprium? Ratio: haec recta et consummata felicitatem hominis implevit. Ergo si omnis res, cum bonum suum perfecit, laudabilis est et ad finem naturae suae pervenit, homini autem suum bonum ratio est, si hanc perfecit laudabilis est et finem naturae suae tetigit. Haec ratio perfecta virtus vocatur eademque honestum est.

(11) Id itaque unum bonum est in homine quod unum hominis est; nunc enim non quaerimus quid sit bonum, sed quid sit hominis bonum. Si nullum aliud est hominis quam ratio, haec erit unum eius bonum, sed pensandum cum omnibus. Si sit aliquis malus, puto inprobabitur; si bonus, puto probabitur. Id ergo in homine primum solumque est quo et probatur et inprobatur.

(12) Non dubitas an hoc sit bonum; dubitas an solum bonum sit. Si quis omnia alia habeat, valetudinem, divitias, imagines multas, frequens atrium, sed malus ex confesso sit, inprobabis illum; item si quis nihil quidem eorum quae rettuli habeat, deficiatur pecunia, clientium turba, nobilitate et avorum proavorumque serie, sed ex confesso bonus sit, probabis illum. Ergo hoc unum est bonum hominis, quod qui habet, etiam si aliis destituitur, laudandus est, quod qui non habet in...

Erscheint lt. Verlag 17.6.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
ISBN-10 3-7562-5312-0 / 3756253120
ISBN-13 978-3-7562-5312-8 / 9783756253128
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 283 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich