Resonanz - Begegnung - Verstehen (eBook)
240 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11960-2 (ISBN)
Stephan Doering, Univ.-Prof. Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker (Wiener Psychoanalytische Vereinigung, Internationale Psychoanalytische Vereinigung). Lehrtherapeut für Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP). Leiter der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, dort Lehrstuhl für Psychoanalyse und Psychotherapie. Past President der European Society for the Study of Personality Disorders (ESSPD) und der International Society of Transference-focused Psychotherapy (ISTFP). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Diagnostik und Behandlung der Persönlichkeitsstörungen sowie in der Psychotherapieforschung.
Stephan Doering, Univ.-Prof. Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker (Wiener Psychoanalytische Vereinigung, Internationale Psychoanalytische Vereinigung). Lehrtherapeut für Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP). Leiter der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, dort Lehrstuhl für Psychoanalyse und Psychotherapie. Past President der European Society for the Study of Personality Disorders (ESSPD) und der International Society of Transference-focused Psychotherapy (ISTFP). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Diagnostik und Behandlung der Persönlichkeitsstörungen sowie in der Psychotherapieforschung.
Kapitel 1
Epistemologische Vorbemerkung
»Es ist bemerkenswert, daß das Ubw eines Menschen mit Umgehung des Bw auf das Ubw eines anderen reagieren kann. Die Tatsache verdient eingehendere Untersuchung, besonders nach der Richtung, ob sich vorbewußte Tätigkeit dabei ausschließen läßt, ist aber als Beschreibung unbestreitbar« (Freud 1913, S. 293).
Diese Bemerkung Freuds aus dem Jahr 1913 stellt so etwas wie das Leitmotiv dieses Buches dar. Mit anderen Worten: Wir nehmen an, dass es eine nonverbale, unbewusste, implizite Kommunikation gibt, die bisweilen magisch erscheint, aber auf sinnlicher Wahrnehmung beruht. Freuds Beobachtung nehmen wir als Ausgangspunkt unserer Hypothese an, für die wir Belege zusammentragen wollen, denn ein beträchtlicher Teil an »eingehenderer Untersuchung« hat inzwischen stattgefunden, sodass sich eine Bestandsaufnahme lohnt.
Bei einem Unterfangen wie diesem ist die Gefahr groß, der Versuchung einer Gleichsetzung von Erkenntnissen zu erliegen, die mittels verschiedener epistemologischer Zugangswege auf unterschiedlichen Erkenntnisebenen gewonnen wurden. Solche Kurzschlüsse stellen eine Trivialisierung dar, die den Schein von Verstehen vermittelt, wo allenfalls ein Staunen über die verschiedenen Erscheinungsformen und Bedeutungsebenen desselben Gegenstands zulässig wäre.
Hedy Lamarr galt als eine der schönsten Frauen ihrer Zeit – noch im Jahr 2020 widmete ihr das Jüdische Museum in Wien eine Ausstellung, die das eindrucksvoll belegte. Sieht man sich die Fotografien und Filme Lamarrs an, so ist man bewegt von ihrer Schönheit und – nicht zuletzt – von ihrer unfassbar makellosen Haut. Diese kann sicher als ein wichtiger Bestandteil ihrer Schönheit angesehen werden. Die Künstlerin wird die Magie der Beschaffenheit, die unvergleichliche Farbigkeit erkennen und wiederzugeben versuchen, der Ästhetiker das Ebenmaß, die Symmetrie des Gesichts hervorheben, der Filmkritiker die geistreiche Ausdruckskraft und Mimik der Schauspielerin loben. Die Dermatologin kann uns beschreiben, welches Zusammenspiel der Funktionen aller Hautgewebe- und Zellbestandteile nötig sind, um eine solche Glätte entstehen zu lassen. Fragen wir den Histologen, wird er uns auf die mikroskopisch sichtbaren Zellbestandteile hinweisen, während der Physiologe die Funktion dieser Organellen beschreibt – und so weiter.
Wir sehen an diesem Beispiel, dass es zum einen so etwas wie eine Körnung der Wahrnehmungsebene gibt: von der Makroebene zur Mikroebene mit immer größerer Auflösung. Gleichzeitig gibt es aber auch eine weitere Dimension, nämlich die Dimension subjektiv erlebte Bedeutung vs. »objektive« Phänomenologie. Die Ausdruckskraft der Lamarr als Schauspielerin lässt sich nur subjektiv erfahren, nicht aber objektivieren – der Versuch einer Vermessung mithilfe von Zeit und Raum führt zum Verlust der künstlerischen Erfahrung. Bis ins Absurde gesteigert wird dies deutlich, wenn wir versuchen wollten, Hedy Lamarrs Schönheit mithilfe der Funktion der Calcium-Kanäle ihrer epidermalen Basalzellen zu beschreiben.
Die dritte Dimension beschreibt das Ausmaß der Bewusstheit der Wahrnehmung. Die Erfahrung des Kinobesuchers, der eine Gänsehaut bekommt oder ein tiefes Sehnsuchtsgefühl erlebt, ist eine zunächst körperlich-emotionale, die sich ihres auslösenden Mechanismus – zumindest im Detail – nicht bewusst ist. Jeder ihrer sechs Ehemänner wird auf den Anblick und die Berührung ihrer Haut anders reagiert haben, sie als schön empfunden und sie wiederum körperlich-emotional erfahren haben. Aus psychoanalytischer Sicht können unbewusste Erfahrungen entweder symbolisiert bzw. »mentalisiert« sein (sekundäres Unbewusstes) oder aber (noch) nicht durch diese mentale Aufbereitung gegangen sein (primäres Unbewusstes).
Aus diesem Beispiel wird deutlich, dass es nur selten möglich ist, von einer Erkenntnisebene die Phänomene und Erfahrungen einer anderen erklären zu wollen. Gelegentlich ist dies teilweise möglich, nämlich dann, wenn der gleiche Grad der Objektivierbarkeit vorliegt: Die Atomphysik kann helfen, molekularbiologische Prozesse zu verstehen, aus der Histologie lässt sich einiges der Anatomie erklären. Wenn es allerdings darum geht zu erfassen, was der Kinobesucher erlebt, wenn Hedy Lamarr ihren Leinwandpartner küsst, sind die genannten Disziplinen völlig ungeeignet.
Bereits Aristoteles formulierte in seiner Metaphysik im 4. Jhdt. v. Chr.:
»Das, was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, daß es ein einheitliches Ganzes bildet, nicht nach der Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht die Summe ihrer Laute, ba ist nicht dasselbe wie b plus a, und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus Erde« (Aristoteles 2014, S. 114 f.).
Das Diktum »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« wird bis heute vielfach zitiert und beispielsweise als eine Grundannahme der Systemtheorie angesehen (siehe Engel 1980). In unserem Zusammenhang verweist es einmal mehr auf die Unzulässigkeit von Kurzschlüssen über Systemebenen hinweg: Die Erkenntnisse der Biologie sind nicht geeignet, das Funktionieren der Psyche zu erklären.
Kommen wir nun zur bereits zuvor erwähnten Rachel Blass. Sie ist Psychoanalytikerin mit kleinianischer Prägung, geboren in New York lebt und arbeitet sie in Israel. Sie ist eine der wortgewaltigsten und leidenschaftlichsten Verfechter:innen der Trennung der Erkenntnisebenen, genauer gesagt: Gegnerin einer neuropsychoanalytischen Forschung, die neurobiologische Erkenntnisse nutzt, um psychoanalytische Prozesse und Theorien zu entwickeln bzw. zu untermauern. In dem Artikel »Plädoyer gegen die Neuropsychoanalyse«, den sie gemeinsam mit Zvi Carmeli verfasst hat, warnt sie vor einer »Biologisierung der Psychoanalyse« (Blass & Carmeli 2008, S. 150). »Sinnliches, Physisches und Visuelles« würden »auf Kosten von psychischer Bedeutung, Wahrheit und Ideen« ins Feld geführt und dadurch der psychoanalytischen Erkenntnishaltung nicht nur entgegenstehen, sondern geradezu schaden. Die »Anwendung der Neurowissenschaften auf die Psychoanalyse [beruht] auf ungerechtfertigten Schlüssen« (S. 122). In sehr differenzierter Weise weisen Blass & Carmeli auf reduktionistische Schlüsse hin, wie zum Beispiel den, dass die Identifizierung von »im Gehirn befindlichen Motivationszentren« (S. 133) die psychoanalytische Triebtheorie erklären könnte. Zunächst, so die Autor:innen, konzipiere die psychoanalytische Triebtheorie wesentlich komplexer, als es in einer Gleichsetzung von Trieb und Motivation enthalten sei, darüber hinaus könne die Neurowissenschaft eben keine Aussage über die »psychologische Struktur« der Motivationen machen, lediglich über ihr »biologisches Substrat« (ebd.). Eine Gefahr entstehe unter anderem dort, wo aufgrund neurowissenschaftlicher Erkenntnis vorschnell und reduktionistisch der Schluss gezogen werde, dass »neuronale Abnormalitäten von solcher Art sind, dass eine psychologische Intervention, also auch Psychoanalyse, zwecklos« wäre (S. 124). In dramatischer Weise schließen Blass & Carmeli ihre Ausführungen mit der Warnung, dass »das besondere Interesse der Psychoanalyse an der psychischen Dimension der menschlichen Existenz«, dem »Höherwertigen« nach Freud, verloren gehen könnte (S. 150).
Blass & Carmeli spielen hier auf eine Passage aus Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion an. Freud (1939) setzt sich mit den Folgen auseinander, die das (in der jüdischen Zählung) zweite Gebot gezeitigt hat. Im 2. Buch Mose (20, 4–5) lautet es:
»Du sollst Dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an, diene ihnen nicht!«
Das »Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, also der Zwang, einen Gott zu verehren, den man nicht sehen kann«, stellt für Freud die »Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, einen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, streng genommen einen Triebverzicht« dar. Mit einer gewissen Ironie fährt er fort:
»Die Harmonie in der Ausbildung geistiger und körperlicher Tätigkeit, wie das griechische Volk sie erreichte, blieb den Juden versagt. Im Zwiespalt trafen sie wenigstens die Entscheidung für das Höherwertige« (Freud...
Erscheint lt. Verlag | 19.11.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie ► Psychoanalyse / Tiefenpsychologie |
Schlagworte | Deutungsprozess • Embodiment • Emotionale Kommunikation • Gegenübertragung • Körpersprache • Nonverbale Kommunikation • Psychoanalyse • Psychodynamik • Psychologie • Therapeutische Beziehung • Therapieverfahren |
ISBN-10 | 3-608-11960-4 / 3608119604 |
ISBN-13 | 978-3-608-11960-2 / 9783608119602 |
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