Denk ich an Kiew (eBook)
Lübbe (Verlag)
978-3-7517-3779-1 (ISBN)
Ein bewegender Roman über ein prägendes Kapitel der ukrainischen Geschichte
1929. Behütet und geliebt wächst Katja in einem Dorf bei Kiew auf. Ihre Familie ist nicht reich, kann sich aber von ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren. Bis Stalins Handlanger die Dorfbewohner zwingen, dem Kollektiv beizutreten. Wer sich weigert, wird mitgenommen und nie wieder gesehen. Anfangs gibt es für Katja dennoch auch glückliche Stunden. Sie ist in den Nachbarssohn verliebt und ihre Schwester in dessen Bruder. Doch schon bald muss Katja sich jeden Tag Mut zusprechen, um weiterzumachen angesichts des Schreckens um sie herum.
Jahrzehnte später entdeckt Cassie im Haus ihrer Großmutter in Illinois ein Tagebuch. Nie hat diese über ihre ukrainische Herkunft gesprochen. Seit einiger Zeit aber verhält sie sich merkwürdig. Sie versteckt Lebensmittel und murmelt immer wieder einen Namen, den keiner aus ihrer Familie je gehört hat: Alina ...
'Ich hätte nie gedacht, dass die Veröffentlichung meines Romans über die Unterdrückung des ukrainischen Volkes in der Vergangenheit mit einer aktuellen Tragödie zusammenfallen würde' ERIN LITTEKEN
Unter der Herrschaft Stalins verhungerten in den 1930er-Jahren in der Ukraine Millionen Menschen, obwohl die Getreidespeicher voll waren. Erin Litteken rückt diesen weitgehend vergessenen Aspekt der ukrainischen Geschichte in unser Bewusstsein, einfühlsam und sehr bewegend.
<p><strong>Erin Litteken</strong> hat einen Abschluss in Geschichte und liebt es zu recherchieren. Schon als Kind fesselten sie die Geschichten über die erschütternden Erfahrungen ihrer Familie in der Ukraine vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Idee zu ihrem Debütroman, <strong>DENK ICH AN KIEW</strong>, reifte über Jahre in ihr. Dass seine Fertigstellung sich mit den aktuellen Ereignissen überschneidet, erschüttert sie. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Illinois, USA.</p>
Erin Litteken hat einen Abschluss in Geschichte und liebt es zu recherchieren. Schon als Kind fesselten sie die Geschichten über die erschütternden Erfahrungen ihrer Familie in der Ukraine vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Idee zu ihrem Debütroman reifte über Jahre in ihr. Dass seine Fertigstellung sich mit den aktuellen Ereignissen überschneidet, erschüttert sie. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Illinois, USA.
1
CASSIE
Wisconsin, Mai 2004
Die Muskeln in Cassies Gesicht zuckten widerwillig, aber als ihre Tochter in die Küche kam, zwang sie ihren Mund zu einem breiten, falschen Lächeln. Sie hoffte, dass Birdie reagieren würde, wenn sie nur lange und ausdauernd genug lächelte, doch ihre kleine Tochter starrte sie nur ausdruckslos an.
Cassie kämpfte gegen den Drang an, den Kopf vor die Wand zu schlagen.
Birdies große blaue Augen standen im scharfen Kontrast zu ihren wirren dunklen Haaren. Der rosa Prinzessinnenschlafanzug, den sie sich zum vierten Geburtstag so unbedingt gewünscht hatte, reichte nur noch bis zur Mitte der Waden und Unterarme. Er war eingelaufen. Oder sie war gewachsen. Beides vielleicht. Cassie hatte in letzter Zeit keinen Blick für solche Dinge.
Harvey warf sich auf Birdies Füße und klopfte mit dem Schweif auf den Boden, während sein zotteliges braunes Fell ihr die bloßen Knöchel wärmte.
»Der Hund achtet mehr auf Birdie als ich.« Cassie rieb sich das Gesicht und nahm ihre typische Routine wieder auf, leere Phrasen vor sich hinzufaseln. Sie ertrug die Stille nicht. Stille gab ihr zu viel Zeit für Erinnerungen.
»Guten Morgen! Hast du gut geschlafen? Was möchtest du zum Frühstück? Ich habe eingeweichte Haferflocken und Eier, aber ich kann dir auch Quinoa, Obst und Honig machen, wenn du magst.«
Cassie versagte in vielen Disziplinen des Mutterseins, aber niemand konnte ihr nachsagen, dass Birdie nicht genug zu essen bekam. Die Speisekammer quoll über vor Bio-Schnellmahlzeiten, die sie in Großpackungen kaufte, und die Obstschale auf der Küchentheke bot immer eine breite Auswahl an. Cassie war es egal, ob ihre Tochter das Mittagessen ausließ oder Salzcracker zum Frühstück aß, aber sie achtete darauf, dass Birdie alle Nährstoffe erhielt, die sie brauchte. Auch wenn ihre Kleider ihr nicht mehr passten und sie kein Wort sprach.
Birdie zeigte auf den Karton Eier, den Cassie aus dem Kühlschrank geholt hatte, und die Bratpfanne auf dem Abtropfgestell der Spüle. Cassie brachte beides zum Herd, während Birdie einen Pfannenwender und die Butter holte.
»Ein Ei oder zwei heute?«, fragte Cassie. Ständig sprach sie Birdie an, um sie zu verleiten, einmal zu antworten, ohne nachzudenken. Es funktionierte nie. Birdie hatte seit vierzehn Monaten, einer Woche und drei Tagen nicht mehr gesprochen. Es gab keinen Grund dafür, dass es heute anders sein sollte.
Birdie öffnete den Karton, nahm in jede Hand ein Ei und hielt sie Cassie hin.
»Na gut. Zwei Eier also. Machst du schon mal den Toast?«
Birdie tappte zum Toaster und schob eine Scheibe Vollkornbrot hinein.
Während die beiden Spiegeleier in der Pfanne brutzelten und zischten, sah sich Cassie in dem unordentlichen Haus um. Die Post stapelte sich so hoch, dass der Stoß umzukippen drohte. In den Ecken sammelten sich Hundehaarknäuel in beunruhigendem Ausmaß, und ein Mülleimer, der dringend geleert werden musste, zeichnete nicht gerade das Bild einer glücklichen Familie. Vor anderthalb Jahren wäre Cassie lieber gestorben, als in einem derart zugemüllten Haus zu wohnen.
Ihr Laptop lugte unter einem Berg von Zeitungen hervor. Cassie tat es in der Seele weh, ihn so einsam herumstehen zu sehen, aber seit jenem Abend hatte sie sich nicht überwinden können, etwas zu schreiben. Sie warf ein Geschirrtuch darüber, damit sie nicht noch ein weiteres Beispiel für ihr Versagen vor Augen hatte, ließ die Spiegeleier auf einen rosa Plastikteller gleiten und stellte ihn vor Birdie auf den Tisch. Während sich ihr kleines Mädchen darauf stürzte, sah Cassie zu, wie die dunkelgelben Dotter in das Brot einzogen, das Birdie getoastet hatte, und seufzte. Ein neuer Tag, genau wie gestern und vorgestern. Kein Stück vorwärts, nie heilte die Wunde, nie ging es mit dem Leben weiter. Sie musste es in Ordnung bringen, allein für Birdie, aber sie wusste einfach nicht, wo sie anfangen sollte.
Es schellte, und Cassie erstarrte. Selbst jetzt, nach all der Zeit, befiel sie noch immer Angst, sobald sie die Klingel hörte. Im Flur band sie den schäbigen Morgenmantel fester zu. Ihre Psychiaterin hätte gesagt, sie benutze ihn als Abwehrschild, um von sich fernzuhalten, wer immer vor ihrer Tür stand und hereinwollte. Cassie hätte geantwortet, sie wolle nicht, dass ihr Besuch ihren fadenscheinigen alten Pyjama sah. Vielleicht lag es an solchen Wortwechseln, dass sie keine neuen Termine bei der Seelenklempnerin mehr ausgemacht hatte.
Sie zog die Tür auf, und ihre Mutter, zerzaust und bleich, rang sich ein mattes Lächeln ab, bevor sie ein Schluchzen verschluckte, stürzte herein und schloss Cassie in die Arme.
»Ach, Cass. Ich musste herkommen und es dir persönlich sagen. Ich wollte nicht, dass du dich ans Steuer setzt, nachdem du es gehört hast.«
Cassie erstarrte und löste sich aus der Umarmung. »Mir was sagen?«
»Niemand ist gestorben. So schlimm ist es nicht.«
»Mom, wovon redest du?«
»Es geht um Bobby.«
»Bobby?« Cassie trat ihre runzlige, zweiundneunzig Jahre alte Großmutter vor Augen, die vor langer Zeit Bobby getauft worden war. Die kleine Cassie hatte das ukrainische Wort für Großmutter, babusya, verstümmelt und sich geweigert, den traditionellen Kosenamen baba zu benutzen.
»Es gab einen Unfall.«
Cassies Herz setzte einen Schlag aus. Vielleicht auch zwei. Sie zog rasselnd den Atem ein und versuchte, sich nicht von Panik übermannen zu lassen, aber genau diese Worte hatte sie vergangenes Jahr gehört, und gleich darauf war ihre Welt in Trümmer zerfallen.
Cassie ließ sich von ihrer Mutter, die sie in Gedanken Anna nannte, zu einem Stuhl am Küchentisch führen. Anna beugte sich vor und küsste Birdie auf den Scheitel. »Hallo, mein Schatz.«
Birdie lächelte ihre Großmutter stumm an, während sie den Dotter auf ihrem Teller mit dem Brot auftupfte.
»Passiert ist es am Freitag, aber ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst, bevor ich mehr weiß.« Anna setzte sich neben Birdie.
Cassie zählte im Kopf zurück. »Aber Mom, das war vor zwei Tagen! Bobby hatte vor zwei Tagen einen Unfall, und du konntest mich nicht anrufen?«
»Wie gesagt, ich musste mit dir persönlich sprechen. Als feststand, dass sie nicht in Lebensgefahr schwebt, habe ich beschlossen, dass es das Beste wäre, wenn ich herkomme und es dir selbst sage. Ich konnte sie erst heute allein lassen.«
»Jetzt erzähl mir schon alles«, befahl Cassie mit bebender Stimme.
Anna sah Birdie an und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Birdie, Grammy und Mommy müssen miteinander reden. Möchtest du vielleicht ein bisschen fernsehen?«
Birdie nahm ihren Teller, stellte ihn in die Spüle und ging an den Stapeln aus Post und Zeitungen vorbei zum Wohnzimmer. Als die Musik einer Zeichentrickserie erklang, wandte sich Cassie erwartungsvoll ihrer Mutter zu.
»Vergangene Woche hat sie wie üblich ein Spaziergang gemacht«, begann Anna. »Sie ist weiter weg gegangen als normal, und ich weiß nicht, ob sie sich verlaufen hat oder was war, aber sie wurde angefahren, als sie eine verkehrsreiche Straße überquerte.«
Cassie setzte sich kerzengerade auf. »Sie wurde angefahren? Das ist doch nicht dein Ernst?«
Anna hob die Hand. »Ihr geht es gut. Sie hat eine leichte Prellung und musste genäht werden. Keine Knochenbrüche. Es ist erstaunlich, dass sie so glimpflich davongekommen ist.«
»Wo ist sie jetzt? Ist sie schon wieder zu Hause?«
»Nein, und deshalb bin ich hier. Heute Nachmittag wird sie aus dem Krankenhaus entlassen, aber sie braucht Gesellschaft. Jemanden, der bei ihr ist und ihr ein bisschen zur Hand geht.«
Cassie nickte. »Du willst, dass sie hierherkommt? Bei mir wohnt?«
Anna blickte sich mit skeptischer Miene in der Küche um. »Ich glaube nicht, dass sie bei dir am besten aufgehoben wäre. Ihre Ärzte wären weit weg, und sie kennt sich hier nicht aus. Was ich mir überlegt habe: Es wäre doch eine Gelegenheit für dich zu einer Veränderung. Lass diese Stadt, dieses Haus und die Erinnerungen hinter dir, und komm zurück nach Hause.«
Cassie lachte, und die Bitterkeit, die durch den Raum hallte, überraschte sogar sie selbst. »Glaubst du etwa, ich könnte meine Erinnerungen einfach zurücklassen? Ich mache die Tür hinter mir zu, und es wäre, als hätte Henry nie existiert?«
»Nein, Schatz, das habe ich natürlich nicht gemeint.« Anna legte Cassie die Hand auf die Wange. »Vergessen wirst du ihn niemals. Aber ich dachte, vielleicht wird es Zeit für einen Neuanfang, an einem Ort, wo dich die Erinnerungen nicht so sehr überwältigen. Bobby sollte nicht mehr allein wohnen, und es kam mir wie eine ideale Lösung vor, wenn du eine Weile bei ihr einziehen würdest. Schließ hier ab, und geh fort.«
»Einfach fortgehen? Mein Leben hinter mir lassen? Mein Zuhause?« Cassie schüttelte die Berührung ihrer Mutter ab. In ihrer Kehle pochte der dumpfe Schmerz, der einen Weinkrampf ankündigte.
»Cassie, seien wir doch realistisch.« Anna ergriff ihre Hand und starrte sie nieder. Offenbar war es mit den Nettigkeiten vorbei. »Ich möchte, dass du mir ganz ehrlich sagst, dass du hier glücklich bist, und zwar sofort. Sag mir, dass du aus diesem Haus ein freundliches, sicheres Zuhause für Birdie machen wirst. Sag mir, dass du nicht dein ganzes Leben in so einem Saustall zubringen wirst!«
Cassie sank vor Erstaunen die Kinnlade herunter. Gewöhnlich versteckte ihre Mom ihre biestige Seite unter einer Schicht aus nicht allzu subtilen Andeutungen und passiv-aggressiven...
Erscheint lt. Verlag | 29.7.2022 |
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Übersetzer | Rainer Schumacher, Dietmar Schmidt |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Memory Keeper of Kyiv |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Berührend • durchhalten • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Famizid • Fesselnd • Genozid • historisch • Hoffnung • Holodomor • Hunger • Kiew • Kyiv • Lebensabend • Liebe • literarische Unterhaltung • Mut • Schwestern • spannend • Stalin • Überleben • Ukraine • Zeugnis ablegen • zwei Zeitebenen |
ISBN-10 | 3-7517-3779-0 / 3751737790 |
ISBN-13 | 978-3-7517-3779-1 / 9783751737791 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
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