Die Ukraine und wir (eBook)

Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
248 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3104-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Ukraine und wir - Sabine Adler
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»Selten treffen langjährige Kenntnis vor Ort und Vertrautheit mit der Geschichte des Schauplatzes so sehr aufeinander wie in Sabine Adlers Ukraine-Buch. Besonders für das deutsche Publikum eine längst fällige Lektüre!« Karl Schlögel.

Der Krieg in der Ukraine stellt das politische und wirtschaftliche Handeln Deutschlands auf den Prüfstand. Jahrzehntelang wurde über den zweitgrößten Staat Europas hinweggeschaut und Russland hofiert. Mit fatalen Folgen. Deutschland hat versagt, konstatiert die Osteuropa-Expertin Sabine Adler. Ihre Analyse nimmt nicht nur die Ukraine und den aktuellen Krieg in den Blick, sondern vor allem Deutschlands Rolle - wirtschaftlich, politisch, medial - in Bezug auf das von Russland überfallene Land. Als langjährige und hellsichtige Beobachterin zieht sie eine kritische Bilanz: politische Versäumnisse, Lobbyismus, Doppelmoral und ein verlogener Pazifismus waren über weite Strecken bestimmend. Zeit, daraus zu lernen und einen radikalen Kurswechsel einzuleiten!



Sabine Adler ist langjährige Osteuropa-Expertin des Deutschlandfunks. Sie berichtete viele Jahre aus Moskau, war Leiterin des Hauptstadtstudios in Berlin und Korrespondentin im Studio Warschau mit Schwerpunkt Polen, Belarus, baltische Länder und Ukraine. Während der Ereignisse auf dem Euro-Maidan berichtete sie aus Kiew, danach über den Krieg in der Ostukraine und seit Februar 2022 über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. als 'Politikjournalistin des Jahres'. Ihr Buch 'Die Ukraine und wir' wurde zum SPIEGEL-Bestseller.

Das Trauerspiel


… beginnt mit einem Witz, bei dem einem das Lachen im Hals steckenbleibt. Fast ein Jahr lang wird die Welt Zeuge eines gigantischen russischen Truppenaufmarsches entlang der ukrainischen Grenze. Im Januar 2022 stehen dort mindestens 130 000 bis an die Zähne bewaffnete Soldaten. Angesichts dieser Bedrohung wird die Bitte der Ukrainer um deutsche Waffen lauter und dringlicher. Am 19. Januar fragt die Regierung in Kiew erneut nach und wird präzise: Kann Deutschland mit Helmen und Schutzwesten helfen? Später erweitert der ukrainische Botschafter in Berlin Andrij Melnyk die Liste um Kriegsschiffe und Luftabwehrsysteme. In der Hauptstadt stellt man sich taub.

Die Ohren stehen schon seit 2014 auf Durchzug. Nur bei Einzelnen, sehr wenigen, kommen die Hilferufe an. Robert Habeck zeigt sich offen. Im Mai 2021 – noch vor dem Bundestagswahlkampf – war er an der Front in der Ostukraine. Dort nimmt der grüne Realo nicht nur den Krieg, der seit sieben Jahren nicht enden will, in Augenschein, sondern hört auch die Nöte der ukrainischen Bevölkerung an der Demarkationslinie zu den Separatistengebieten. Noch auf der Reise macht er sich stark für die Menschen, die um Unterstützung für ihre Verteidigung gegen die prorussischen Besatzer bitten. »Waffen zur Verteidigung, zur Selbstverteidigung, kann man meiner Ansicht nach der Ukraine schwer verwehren«, sagte er dem Deutschlandfunk. »Die Ukraine fühlt sich sicherheitspolitisch alleingelassen, und sie ist alleingelassen.«

In Deutschland wird er dafür mit Schimpf und Schande empfangen. Die damals CDU-geführte Bundesregierung verweist auf den Grundsatz, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Eine politische Linie, die auch Habecks Co-Vorsitzende bei den Grünen vertritt. Anders als der Ex-Parteichef Jürgen Trittin distanziert sich Annalena Baerbock zwar nicht offen, aber doch vernehmlich genug von Habeck: »Das steht auch in unserem Programm, und das sehen wir als Parteivorsitzende beide so.« Habeck lenkt der Kanzlerkandidatin Baerbock zuliebe ein.

Im Unterschied zu dem Grünen plagen den damaligen SPD-Fraktionsvize Sören Bartol keine Zweifel. Anders als Habeck hat er die Ukraine noch nie besucht, genauso wenig wie die allermeisten Bundestagsabgeordneten, nicht vor und nicht nach der Annexion der Krim, nicht während der Kämpfe im Osten, nicht seit Russlands Einmarsch. Bei Habeck sehe man, wohin solch eine Reise führe: »Habeck besucht die Ukraine und schon kündigt er den Konsens auf. Das ist naiv.« Deutschland sei gut beraten, auf Diplomatie zu setzen.

Berlins ehemaliger Regierender Bürgermeister Michael Müller von der SPD warnt am 21. April 2022 in der Berliner Zeitung ebenfalls vor Ukraine-Reisen. Nicht, weil dort Krieg herrscht und es zu gefährlich wäre, sondern weil Anton Hofreiter (Bündnis 90 / Die Grünen), Agnes-Marie Strack-Zimmermann (FDP) und Michael Roth (SPD) voller Emotionen und mit Forderungen in Richtung Bundesregierung zurückgekommen seien, was nun wirklich nicht hilfreich sei. Strack-Zimmermann, die als weitaus fähigere Verteidigungsministerin gilt, als es Müllers Parteifreundin Christine Lambrecht ist, redet daraufhin im Tagesspiegel Klartext: »Gerne biete ich dem Neu-Sicherheitsexperten Michael Müller an, Emotionen zu entwickeln, um zu verstehen, dass ein brutaler Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nichts ist, was uns kaltlassen kann.«

Die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen empört Habecks Empathie mit den Ukrainern, die seit sieben Jahren die Okkupanten im Osten ihres Landes, wenn schon nicht verdrängen, so doch an einem weiteren Vormarsch hindern wollen. »Wer von Russlandhass verblendet die ultrarechten Milizen in der Ukraine ignoriert und behauptet, das Land verteidige die Sicherheit Europas und müsse daher aufgerüstet werden, ist eine reale Gefahr für die Sicherheit in Deutschland und Europa.« Nicht von Russland, sondern von Habeck, Strack-Zimmermann, Roth, Hofreiter, kurz von jenen, die der Ukraine bei der Verteidigung gegen den Aggressor helfen wollen, geht für Die Linke die eigentliche Sicherheitsgefahr aus. Dagdelen ist nicht die Einzige, die es lieber sähe, wenn sich die Ukrainer Putin opferten, in der Hoffnung, dass sein Appetit dann gestillt wäre. Sie verkaufen das als Friedenslösung und verweisen zudem auf Deutschlands historische Verantwortung. Daria Kaleniuk kann es nicht mehr hören. Die junge Ukrainerin, die das Kiewer Anti-Corruption Action Center leitet, bringt es auf die Palme, dass sich Deutschland wegen seiner Täterrolle im Zweiten Weltkrieg bei der militärischen Zusammenarbeit zurückhält, sie findet, dass das »eine der dümmsten Aussagen ist, die je gemacht wurden«. Auf Twitter fragt sie bereits im Januar 2022: »Deutschlands Geschichte hat schon einmal Millionen Ukrainer ums Leben gebracht, und jetzt sollen wegen Deutschlands Geschichte weitere sterben?«

Im Auswärtigen Amt liegt derweil Kiews Liste mit den benötigten Waffen, Helmen und Schutzwesten, doch das Ministerium schweigt. Schließlich setzt die Verteidigungsministerin ein »ganz deutliches Signal«. Christine Lambrecht verkündet am 26. Januar, dass die Ukraine 5.000 Helme bekommt. Präsident Selenskyj traut seinen Ohren nicht, ringt um Fassung. Vitali Klitschko poltert los: »Ein absoluter Witz!« Der Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt spricht aus, was man nicht nur in Kiew denkt: »Was will Deutschland als Nächstes zur Unterstützung schicken? Kopfkissen?«

Während in Deutschland weiter über Waffenhilfe diskutiert wird, tauchen kontinuierlich mehr bewaffnete russische Soldaten an der ukrainischen Grenze auf. Inzwischen wird das Land von drei Seiten bedroht. Von Osten, wo sich die russischen Truppen nach Manövern und entgegen mehrfacher Ankündigung nie wirklich zurückgezogen haben. Von Süden, wo die Halbinsel Krim seit der russischen Annexion 2014 zu einem Militärstützpunkt hochgerüstet wurde. Und selbst im Norden steht russisches Militär, in einem fremden Land, in Belarus. Dort hält sich der Wahlbetrüger Alexander Lukaschenko nur noch mit Hilfe von Wladimir Putin an der Macht, dem er im Gegenzug sein Land als Aufmarschgebiet zu Füßen gelegt hat. Rund 200 Kilometer bis Kiew sind ein Katzensprung. Die Motoren laufen schon, zunächst für ein belarussisch-russisches Manöver. Parallel beginnen am 4. Februar in Peking die Olympischen Winterspiele. Putin verspricht Xi Jingping, sie nicht mit einem Krieg zu überschatten. Auch bei den Spielen in Sotschi 2014 schickte er seine »grünen Männchen« – Spezialkräfte der russischen Streitkräfte in grünen Uniformen ohne Hoheitszeichen – erst einen Tag nach der Abschlussfeier auf die Krim. Der Countdown läuft.

Polen, Lettland, Litauen und Estland liefern zu diesem Zeitpunkt längst Waffen in das bedrohte Land. Tallin hätte sogar schon im Dezember 2021 damit angefangen. Die Balten wollten der Ukraine neun Haubitzen schenken. Aber weil die aus NVA-Beständen stammen, mussten die Esten erst Berlin um Erlaubnis bitten, denn das deutsche Rüstungsrecht schreibt eine Endverbleibserklärung vor. Wer Waffen in Deutschland kauft und dann weitergibt, muss sagen, an wen, und dafür die Genehmigung abwarten. Berlins Beamte lassen sich Zeit. Mitte Februar 2022, als die drei baltischen Regierungschefs den neuen Kanzler Olaf Scholz in Berlin besuchen, bekommt die estnische Kollegin Kaja Kallas immer noch keine Antwort, ob sie die alten, sehr einfach konstruierten Geschütze nun nach Kiew schicken darf oder nicht. 218 Stück hatte die Bundesrepublik 1992 an Finnland verkauft, 42 der Haubitzen übernahmen 2009 die Esten, die nun exakt neun davon weitergeben wollen. Möglichst schnell. Die neue Bundesregierung steht auf der Bremse und agiert wie die alte in der Coronakrise: vor allem bürokratisch. Von Führung keine Spur.

Deutschland wird zur internationalen Lachnummer, erst die Helme, dann die Haubitzen. Das ukrainische Haus droht in Flammen aufzugehen, doch Deutschland reicht die Wasserflasche, statt die Feuerwehr zu holen. Die Ampelkoalition macht sich mit einem verhängnisvollen Fehlstart in der Welt bekannt, zu dem anfangs auch Annalena Baerbock beiträgt. Am 7. Februar erklärt die Außenministerin bei ihrem Besuch in Kiew einmal mehr, dass es aus Deutschland keine Waffenlieferungen geben werde. Sie grenzt sich damit erneut von Robert Habeck ab. Eine massive Aufrüstung der Ukraine durch Berlin würde die russische Seite als Provokation deuten und Krieg wahrscheinlicher machen. Eine militärische Hilfe könne auch die Rolle Deutschlands als Vermittler beschädigen. Was jedoch kaum noch möglich ist, denn die Reputation auf der Weltbühne ist bereits nachhaltig ramponiert. Der deutsche Autoritätsverlust bedeutet weit mehr als nur ein Imageproblem. Der Auftritt als internationaler Schlichter, den sich Berlin nicht zuletzt wegen des angeblich so guten Drahts zu Moskau wünscht, ist zu Ende, bevor er überhaupt richtig begonnen hat. Später – der Krieg in der Ukraine dauert mittlerweile schon fast zwei Monate – kommt es noch schlimmer.

Frank-Walter Steinmeier wird ausgeladen, als er sich Mitte April spontan einer Reise des polnischen Amtskollegen Andrzej Duda von Warschau aus in die ukrainische Hauptstadt anschließen...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Wirtschaft
Schlagworte Budapester Memorandum • Deutschland • Donetsk • Energiewende • EU • Gas • Gaskrise • Kiew • Krim • Maidan • Medienpolitik • Merkel • Moskau • NATO • NordStream • Nordstream2 • Osteuropa • Putin • Russland • Scholz • Schröder • Selenskij • Sicherheitspolitik • Ukraine • Ukraine-Krieg • Wirtschaftspolitik • Zeitenwende • Zelensky
ISBN-10 3-8412-3104-7 / 3841231047
ISBN-13 978-3-8412-3104-8 / 9783841231048
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