In den Häusern der anderen (eBook)
400 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3100-0 (ISBN)
Etwa zehn Millionen Deutsche flohen mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus Schlesien, Pommern, der Neumark und Ostpreußen oder wurden von dort vertrieben. Zurück blieben ihre Häuser, Straßen, Fabriken und Kirchen, aber auch ihre Möbel, Küchengeräte und Bilder. Welche Geschichten erzählen sie heute über ihre ehemaligen Besitzer? Die Gebiet östlich von Oder und Neiße lagen fortan in Polen, Menschen aus anderen Landesteilen wurden dort angesiedelt. Wie machten sie die Städte und Dörfer der ehemaligen Besatzer zu ihrer Heimat? Gestützt auf Archivfunde, Forschungsarbeiten, Literatur und eine Vielzahl persönlicher Begegnungen erzählt Karolina Kuszyk davon, wie die Biografien von Menschen und Dingen miteinander verwoben sind.
»Karolina Kuszyk gelingt etwas Außergewöhnliches. Auf einfühlsame Weise beschreibt sie die Herausforderung der polnischen Nachkriegsgesellschaft, mit dem deutschen Erbe im heutigen Westpolen umzugehen. Endlich liegt dieses wegweisende Buch in deutscher Sprache vor.« Andreas Kossert
Karolina Kuszyk, geboren 1977 in Legnica, lebt in Berlin und Niederschlesien und arbeitet als freiberufliche Autorin, Übersetzerin und Lehrbeauftragte, u.a. an der Viadrina. Sie verfasste Beiträge u.a. für Zeit Online, Deutschlandradio Kultur und Funkhaus Europa und übersetzte u.a. Max Frisch, Ilse Aichinger, Karen Duve und Bernhard Schlink ins Polnische. »In den Häusern der anderen« wurde 2020 mit dem Arthur-Kronthal-Preis ausgezeichnet und regte in Polen eine lebhafte Diskussion über den Umgang mit dem deutschen Erbe an. Bernhard Hartmann, geboren 1972 in Gerolstein/Eifel, studierte Polonistik und Germanistik. Seit 2009 arbeitet er als Übersetzer literarischer und geisteswissenschaftlicher Texte aus dem Polnischen. 2013 wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis ausgezeichnet.
ALLES BEI MIR WAR FRÜHER DEUTSCH
»Taż przecie to ksiądz jeszcze poniemiecki, das ist doch noch ein alter deutscher Priester«, sagt Pawlaks Frau Mania, als es mit Großmutter Leonia zu Ende geht, und der Priester, der ihr die letzte Ölung erteilen soll, sich als Deutscher entpuppt. »Gott is’ hier aber derselbe wie in Krużewniki«, antwortet Pawlak, wenn auch nicht ganz überzeugt. Der Familie bleibt nur die Hoffnung, dass der Allmächtige auch eine auf Deutsch erteilte Absolution akzeptiert und Oma Leonia »reinlässt« – wenn nicht direkt in den Himmel, dann wenigstens ins Fegefeuer. Die Szene stammt aus Andrzej Mularczyks Roman Sami swoi (deutsch sinngemäß etwa: Man ist unter sich), dessen Verfilmung aus dem Jahr 1967 in Polen Kultstatus genießt. Das Buch erzählt die Geschichte der Familien Pawlak und Kargul, die infolge der geopolitischen Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg aus den der UdSSR zugeschlagenen polnischen Ostgebieten in die vormals zum Deutschen Reich gehörenden »wiedergewonnenen« Gebiete im Westen umsiedeln müssen.
Nachdem diese Gebiete nun unter polnischer Verwaltung stehen, ist auch der deutsche Priester nicht mehr völlig fremd, nicht mehr niemiecki (deutsch), sondern poniemiecki (ehemals deutsch), wie alles andere auch. In einer anderen Szene von Sami swoi will Pawlaks Sohn Witia auf dem szaberplac, dem Markt für Plünderware, eine Katze kaufen, die der Mäuseplage auf dem Hof der Familie ein Ende bereiten soll. Katzen gibt es dort zuhauf. Sicher poniemieckie, überlegt Witia laut. Aber nicht doch, protestiert der Händler energisch, er bekomme sie aus Zentralpolen. Die Katze »aus der Stadt Łódź«, die Witia schließlich für zwei Sack Weizen und ein Fahrrad kauft, erweist sich als ausgezeichneter Jäger, der – immer abwechselnd – auf den Höfen der Pawlaks und der Karguls gute Dienste leistet. Und an Sonn- und Feiertagen verdient sie sich beim Gemeindevorsteher ein Zubrot.
Lange dachte ich, der Gag mit der Katze aus der Stadt Łódź solle die Abneigung der sogenannten »Repatrianten«, wie die offizielle Propaganda die zwangsumgesiedelten Menschen aus den polnischen Ostgebieten bezeichnete, gegen alles Deutsche karikieren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Katzen aus Zentralpolen tatsächlich beliebter waren als die lokalen Mäusejäger. Doch Andrzej Mularczyk hält sich durchaus an die historische Wahrheit. Das ist mir bei der Lektüre von Erinnerungen der ersten Siedler klargeworden. Eine Bäuerin aus den Masuren schreibt, während der Nagetierplage von 1946 hätten manche Leute Katzen aus Zentralpolen herangeschafft und für zweihundert Zloty das Stück verkauft. Das war damals sehr viel Geld, für fünfhundert Zloty bekam man schon einen Doppelzentner Weizen. Es scheint also, als wären die deutschen Katzen mit dem Mäusefangen nicht hinterhergekommen oder hätten gegen ihre Natur in einem Akt antipolnischer Sabotage die Arbeit verweigert.
Auch Kühe konnten poniemiecki sein. »Besitzt ein Bürger eine Bescheinigung einer militärischen Einheit, der zufolge sich eine Kuh zuvor in Armeebesitz befand, so kann diese Kuh nicht als poniemiecki eingestuft werden« – so die Antwort der Zeitschrift Osadnik na Ziemiach Odzyskanych (Der Siedler in den Wiedergewonnenen Gebieten) auf die Zuschrift eines von diesbezüglichen Zweifeln geplagten Bürgers.
Alles war poniemiecki: Häuser, öffentliche Gebäude, Fabriken, Straßen, Kirchen, Friedhöfe, aber auch die Dinge des täglichen Gebrauchs: Anrichten und Schränke, Tische und Stühle, Maschinen und Werkzeuge, Gefäße und Küchengeräte, Kleidungsstücke, Bilder an den Wänden und Einmachgläser in den Kellern. Poniemiecki waren die Kartoffeln, aus denen man urpolnischen Schnaps brannte. Aber auch die Pilze und das Wild in den Wäldern oder die Linden entlang der Landstraßen. Die polnische Übergangsregierung hatte schon am 6. Mai 1945 – ein halbes Jahr vor dem Potsdamer Abkommen, das den Verlauf der deutsch-polnischen Grenze neu regelte – mit einem »Gesetz über das verlassene und aufgegebene Vermögen« Tatsachen schaffen wollen. Verlassenes Vermögen im Sinne dieses Gesetzes war jegliche Habe, die sich nicht im Besitz ihres Eigentümers befand; als aufgegeben galt jegliches bewegliche und unbewegliche Vermögen des deutschen Staates oder deutscher Staatsangehöriger sowie anderer Personen, die »vor der Roten Armee flohen und nicht zurückkehrten«. Formell wurde die Konfiskation deutscher Besitztümer – nachdem im August 1945 die Gebiete östlich von Oder und Neiße Polen zugeschlagen worden waren – per Dekret vom 8. März 1946 vollzogen. Damit fiel sämtliches Vermögen des Deutschen Reiches und der ehemaligen Freien Stadt Danzig sowie der Staatsangehörigen des Deutschen Reichs mit Ausnahme von Personen »polnischer oder einer anderen von den Deutschen verfolgten Nationalität« in den Besitz des polnischen Staates. In der Überschrift des Dekrets wurde die Bezeichnung »aufgegebenes Vermögen« durch »ehemals deutsches Vermögen« ersetzt.
Das Hakenkreuz
Die erste Idee zu diesem Buch entstand vor einigen Jahren in Legnica (ehemals Liegnitz), wo mein Mann und ich meine Eltern besuchten. Als wir nach dem Abendessen das Geschirr abwuschen, schrie mein Mann plötzlich auf, als hätte er sich verbrüht.
»Was ist das denn?!«
Er schaute – oder vielmehr: starrte – auf die Unterseite einer weißen Keramikschüssel, auf die Stelle, an der sich normalerweise die Bodenmarke befindet. Auch unsere Schüssel hat eine solche Marke, allerdings in Gestalt eines grünen Hakenkreuzes. Es ist nicht groß, man möchte fast sagen dezent, aber eben doch ein Hakenkreuz. Umrahmt wird das Symbol der NS-Schreckensherrschaft von einem Zackenkranz und dem Schriftzug »KPM [Krister Porzellan-Manufaktur] – Modell des Amtes – Schönheit der Arbeit«.
Die Schüssel befindet sich seit jeher im Besitz unserer Familie. Sie steht an keinem besonderen Platz, denn sie ist weniger von ästhetischem als von praktischem Wert. Sie eignet sich hervorragend zur Zubereitung von Teig oder Kutia (einer süßen Getreidespeise nach ostpolnischem Rezept). Ich kann mich an kein Weihnachten oder Ostern ohne sie erinnern. Doch das Hakenkreuz sah ich zwanzig Jahre nach meinem Auszug aus dem Elternhaus zum ersten Mal – dank meines deutschen Mannes, der aus dem Staunen nicht herauskam, dass ein NS-Symbol so lange in einem polnischen Haushalt überdauern konnte. In deutschen Haushalten wäre Geschirr mit eingeprägtem Hakenkreuz heute unvorstellbar, es sei denn bei Neonazis oder Sonderlingen, die aus ihnen allein bekannten Gründen Artefakte aus der Hitlerzeit sammeln. Ich weiß nicht, weshalb das Hakenkreuz auf der Unterseite der Schüssel weder mir noch sonst jemandem aus der Familie aufgefallen war, doch an jenem Abend stellte ich mir die Frage, wie viele deutsche Dinge wir in unseren Häusern haben, ohne sie bewusst als solche wahrzunehmen.
~
Die Menschen, die sich noch an die Übernahme der per Dekret zu ehemals deutsch erklärten Dinge erinnern, werden immer weniger. Andererseits fahren heute manche Wrocławer oder Szczeciner öfter nach Berlin als nach Warschau: zum Flughafen, zu Konzerten, zum Einkaufen, zum Studium, zur Arbeit. Auch ich bin nach meinem Studium in Warschau und einem Jahr Arbeit in Ostpolen nach Berlin gezogen. Von Legnica sind das gerade einmal dreihundert Kilometer. Anders als in Warschau, wo ich trotz ernster Versuche nie richtig Wurzeln schlug, fühlte ich mich in Berlin gleich heimisch. Und das, obwohl bis in die frühen 1990er Jahre mein Radius nach Westen gerade bis zur Niederschlesischen Heide reichte. Dahinter lag bis 1989 die Grenze zur DDR, also das Ende der Welt.
Damals wusste ich nicht, wie sehr die Landschaft auf der anderen Seite unserer niederschlesischen ähnelt. In den 1980er Jahren fuhr auch niemand aus meinem näheren Umfeld regelmäßig nach Deutschland. Unsere Urlaube verbrachten wir in Bulgarien oder in der Tschechoslowakei, in Ungarn oder in Odessa. Während meine Altersgenossen aus Westeuropa ihre Ferien am Mittelmeer, in Italien oder auf Mallorca verbrachten, futterte ich am Schwarzen Meer Melonen und Granatäpfel. Dabei war ich noch ein Glückspilz, denn die meisten polnischen Kinder verbrachten ihre Ferien an der polnischen Ostsee oder in den Masuren.
Deutschland? Das weiter entfernte, aber irgendwie nähere und greifbarere, interessierte mich nur als das Reich der Nussbeisser-Schokolade (die mit den ganzen Haselnüssen und dem Fensterchen in der Verpackung), der Coca-Cola-Dosen und der Bravo. Das andere und angeblich mit uns verbrüderte, aber herablassend enerdówek, DDRchen, genannte, lag gleich vor der Haustür, aber es war, als existierte es überhaupt nicht. Als erstreckte sich hinter der Niederschlesischen Heide eine von einer Katastrophe entvölkerte Landschaft. Wie sehr sich die Erfahrungen der in der Volksrepublik Polen und in der DDR aufgewachsenen Menschen gleichen, wurde mir erst klar, als ich meinen in...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2022 |
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Übersetzer | Bernhard Hartmann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Poniemieckie |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Bestseller • Breslau • Deutsche • Flucht aus dem Osten • Friedhöfe • Gebäude • Heimatvertriebene • Josef August Untersberger • Kulturgeschichte • Materielle Kultur • Möbel • Ostgebiete • Ostpreußen • Polen • Pommern • Posen • Poznań • Rudolf Rempel • Schlesien • Siedler • Spuren • Vertreibung • Vertriebene • Westpreußen • Wrocław |
ISBN-10 | 3-8412-3100-4 / 3841231004 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3100-0 / 9783841231000 |
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