Das Zeitalter der Hexenverfolgung (eBook)

Angst und Aberglaube am Beginn der Neuzeit - Ein SPIEGEL-Buch

Eva-Maria Schnurr (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
304 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29771-8 (ISBN)

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Das Zeitalter der Hexenverfolgung -
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Mythen, Macht und die Angst vor der schwarzen Magie: die Geschichte der Hexenverfolgung in Europa
Der Beginn der Frühen Neuzeit war auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands und in ganz Europa eine Zeit des Umbruchs und der Verunsicherung, in der althergebrachte Wahrheiten infrage gestellt wurden. Zugleich wuchs die Furcht der Menschen vor dem nahenden Ende der Welt und mit ihr die Angst vor Hexerei und schwarzer Magie, die viele für das wahrgenommene Unheil verantwortlich machten. In diesem Buch nehmen renommierte Historikerinnen und SPIEGEL-Autoren das gewaltsame Kapitel der Hexenprozesse und die Schicksale der Opfer neu in den Blick. Sie untersuchen, warum zahlreiche Frauen und Männer als vermeintliche Hexen oder Hexenmeister verfolgt, brutal gefoltert und grausam hingerichtet wurden. Dabei entlarven sie verbreitete Mythen über jene dunkle Epoche und zeigen, dass hinter der Verfolgung oftmals Machtinteressen, soziale Konflikte und politische Rivalitäten steckten.

Mit zahlreichen Abbildungen.

» Aus diesen Fakten werden keine Hexentaten abzuleiten sein«


1615 wurde Katharina Kepler als Hexe angeklagt. Ihr Sohn, der berühmte Astronom Johannes Kepler, verteidigte sie auf erstaunliche Weise.


Von Ulinka Rublack


Am 29. Dezember 1615 arbeitete Johannes Kepler in Linz. Er hatte gerade seinen 44. Geburtstag gefeiert und schrieb seine Neujahrsgrüße. Plötzlich klopfte ein Bote an die Tür und überbrachte einen Brief, der schon vor drei Monaten losgeschickt worden war. Kepler erkannte die Handschrift seiner in Württemberg lebenden Schwester und entfaltete den Brief rasch. Die Nachricht hätte kaum schlimmer sein können. Seine alte Mutter war im August in Leonberg der Hexerei bezichtigt worden. Ihre Ankläger verfügten über gute Verbindungen zum Stuttgarter Hof.

Johannes Kepler (1571 bis 1630) war einer der berühmtesten Astronomen, die je gelebt haben. Er verteidigte Nikolaus Kopernikus, der behauptet hatte, die Erde drehe sich um die Sonne, und entdeckte, dass Planeten sich in Ellipsen bewegen. Und er legte bahnbrechende Forschungen zur Optik vor. Was weniger bekannt ist: 1615 wurde Katharina Kepler, die Mutter des Astronomen, als Hexe angeklagt. Im Jahr 1620 übernahm er ihre rechtliche Verteidigung, um ihr Leben und seinen eigenen Ruf zu retten.

Diese Begebenheit verändert unser Verständnis des Astronomen in seiner Zeit. Er veröffentlichte seine Verteidigungsschrift nie, aber sie zielte präzise auf die rechtlichen Schwachstellen der Hexenverfolgung und legte aus Keplers Sicht die Mechanismen der Jagd auf alternde Frauen bloß.

Und das war Katharina Kepler zweifellos. 1615 war die Tochter eines Wirts bereits an die 70 Jahre alt und verwitwet. Ihre Ehe war schwer gewesen, immer wieder hatte ihr Mann sie verlassen, um sich als Söldner zu verdingen, die vier ihrer sieben Kinder, welche die ersten Jahre überlebten, hatte sie weitgehend allein aufgezogen. Durch das Erbe ihres Mannes und ihres Vaters war sie zu etwas Geld gekommen, hatte sich ein Haus in Leonberg gekauft und besaß Land, das sie bestellte. Vermutlich verkaufte sie, wie andere Witwen in dieser Zeit auch, Heu und vergab Kredite zu den gesetzlich vorgeschriebenen fünf Prozent Zinsen. Auch die Heilkunst übte sie wie viele andere aus, stellte Salben oder Arzneien her, aber sie verkaufte diese nie für Geld. In der Steuerliste von 1614 wird Katharina Kepler neben 36 Leonberger Witwen geführt, die voller Stolz ihre Steuern als selbstständige Bürgerinnen bezahlten.

Zu jener Zeit erlebte Leonberg beunruhigende Veränderungen. Weil das protestantische Württemberg 1608 die Führungsrolle im militärischen Bündnis der Protestanten übernommen hatte, stiegen die Abgaben der Bürger. Außerdem kam es 1608 und 1615 nach Missernten zu dramatischen Preissteigerungen. Der Winter 1615 war besonders streng gewesen, die städtische Armenhilfe musste fast die Hälfte der Leonberger Bevölkerung mit Getreide unterstützen. In dieser Zeit gab es in Leonberg die ersten Anklagen und Prozesse wegen Hexerei: Im Dezember 1615, vier Tage vor Weihnachten, schauten die Leonberger zu, wie vier Frauen aus dem benachbarten Heimsheim als Hexen hingerichtet wurden.

Versammlung: 1607 imaginierte Frans II. Francken einen Hexensabbat. Beängstigende Fabelwesen streifen umher, aber auch bürgerlich gekleidete Frauen nehmen teil.

In dieser Zeit wurden auch die Vorwürfe gegen Katharina Kepler laut. Die Anklage wurde von der schwer kranken Glasersfrau Ursula Reinbold angeführt, die behauptete, Katharina Kepler habe ihr ein unheilbringendes Getränk gereicht, dadurch sei sie erlahmt und leide seither unter »unmenschlichen Schmerzen« in Kopf und Unterleib. 24 Zeugen wurden schließlich in ihrer Sache vernommen. Katharina Kepler hätte ihnen verhexten Wein gegeben, sagten einige, außerdem sei sie durch verschlossene Türen gegangen, berichteten andere. Sie hätte mehrere Leute unheilbar krank gemacht, hieß es.

Ihr ältester Sohn, Johannes Kepler, befand sich zur Zeit dieser Anklage auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er war dabei, seine Weltharmonik zu publizieren, in der er die Elemente mit geometrischen Formen in Verbindung brachte. Selbstbewusst schrieb er, Gott habe auf einen Mann wie ihn gewartet, einen Mann, der die göttlichen Baupläne voll verstehe. Kepler, dessen Vater ein Soldat gewesen war, der ständig die Familie verließ, bis er namenlos im Feld starb, verstand sich als Prophet.

Neben seinen beruflichen Zielen stand die Familie im Zentrum seines Lebens. Nach dem Schulinternat studierte er, lebte mit lutherischen Kommilitonen und Professoren und gründete seinen eigenen Haushalt, sobald er dazu in der Lage war.

Obwohl Kepler weit weg von Leonberg lebte – erst in Graz, dann im Umfeld des kaiserlichen Hofs in Prag und später in Linz –, blieb ihm die Beziehung zu seiner Mutter und seinen Geschwistern wichtig. Die Verbindung zu seiner Mutter war so eng, dass Katharina 1602 allein von Leonberg nach Prag reiste, um seine Familie zu besuchen. Über Jahre schrieb Kepler Briefe nach Leonberg. Katharina, die nicht lesen konnte, ließ sie sich von ihrer Tochter oder einem Lehrer vorlesen. Ihre Antworten diktierte Katharina. Keplers Schwester Margaretha wusste, dass sie auf die Hilfe ihres älteren Bruders zählen konnte, als sie ihm 1615 wegen der Hexereibeschuldigung schrieb.

Kepler richtete sofort Petitionen an den Herzog Württembergs; er nahm seine Mutter für eine Zeit bei sich in Linz auf und brachte sie wieder nach Leonberg zurück. Schließlich nahm er das Gerichtsverfahren in die Hand, während der böhmische Krieg ausbrach und er das dritte Planetengesetz entwickelte.

Am 7. August 1620 wurde seine Mutter Katharina von ihrer Tochter frühmorgens aufgeweckt: Der Stuttgarter Vogt – ein hoher Beamter des Herzogs – und seine Männer stünden vor der Tür, sie solle sich schnell verstecken. Die nun 73 Jahre alte Frau lag nackt unter einer Überdecke in einer Truhe, als man sie bald darauf fand. Auf herzoglichen Befehl kam sie in den Stuttgarter Diebesturm.

Wenige Tage später schrieb ihr jüngster Sohn Christoph an den Herzog Württembergs, er wolle auf gar keinen Fall, dass seine Mutter in Leonberg vor Gericht gestellt werde, wo er und seine junge Familie am Marktplatz lebten – zu groß war seine Sorge, der Hexereivorwurf könne auf die Familie abfärben.

Katharina Kepler wurde in ein Gefängnis nach Güglingen bei Heilbronn verlegt. Johannes Kepler verpackte im Herbst desselben Jahres seine Bücher und Schriften in Linz, zog mit seiner Familie nach Regensburg, mietete sich dort ein Pferd und ritt nach Güglingen, um an der Verteidigungsschrift für seine Mutter zu arbeiten.

Zunächst führte er eingehende Gespräche mit seiner geschwächten, grauhaarigen, zahnlosen Mutter, die insgesamt über 14 Monate lang an Eisenketten am Boden lag und von zwei Wächtern beaufsichtigt wurde. Die Gespräche führten ihn tiefer in ihre Welt, denn er brauchte mehr Wissen über ihr soziales Umfeld, um die Zeugenaussagen besser einordnen zu können. Sie brachten ihn seiner Mutter näher.

Anfang Mai 1620 händigte Kepler dem Güglinger Vogt Aulber einen offiziellen Schriftsatz zur Verteidigung seiner Mutter aus. Mitte Mai hörte Kepler von Aulber, die ganze Akte liege noch immer in der herzoglichen Kanzlei. Daraufhin wandte sich Kepler verzweifelt an Hieronymus Gabelkhover, den Advokaten der württembergischen Kanzlei, und bat ihn, die herzoglichen Beamten zu einer raschen Fortsetzung des Prozesses zu bewegen. Seine Mutter sei jetzt seit zehn Monaten in Haft. Mit ihren inzwischen 74 Jahren sei sie im Begriff, Verstand, Gesundheit und Besitz zu verlieren. Im Juni berichtete Aulber selbst, Katharina sei außerordentlich ungeduldig geworden, befürchte, ihre Angelegenheit werde absichtlich verzögert, und bitte um Beschleunigung des Verfahrens, damit die Sache »einmal zu Ende komme«.

Kepler verließ sich in juristischen Dingen vor allem auf Christoph Besold (geboren 1577), einen produktiven und wohlhabenden Tübinger Rechtsprofessor, der 1610 auf seinen Lehrstuhl berufen worden war. Besolds Bibliothek war enzyklopädisch und auf dem neuesten Stand. Er versah die Bücher mit seinem Namen und dem Motto: »Ich schwöre dir ab, Satan, ich gehöre dir an, Christus« – als könnten diese Worte jeden Band spirituell aufladen. Besolds Fachwissen und der Zugang zu dessen Spezialbibliothek bewogen Kepler, in Tübingen Quartier zu beziehen, während er sich mit der gebotenen Sorgfalt der Verteidigungsschrift für seine Mutter widmete. Besold sollte später acht Gulden für seine Ratschläge einfordern, und ein nicht genannter Tübinger Advokat, vielleicht Besold selbst, erhielt die beträchtliche Summe von 40 Gulden als Entgelt für »Dokumente«. Es bleibt aber unklar, in welchem Umfang Besold oder ein anderer Jurist an der Verfassung der Verteidigungsschrift beteiligt waren.

Kepler, der sich nun vollständig auf den Prozess gegen seine Mutter konzentrierte, empfand zweifellos eine ungeheure Wut. Wie konnten die zentralen Regierungsstellen zulassen, dass die Finsternis überhandnahm? Kepler warnte sogar ausdrücklich vor Provinzvögten, die gern die »Rolle eines kleinen Königs« spielten und nicht zögerten, Gesetze zu übertreten. Hier spielte er auf den Leonberger Vogt Einhorn an, der das Verfahren gegen Katharina Kepler maßgeblich vorangetrieben hatte.

Kepler bestand auf einem bestimmten Prozessverfahren, dem im Römischen Recht entwickelten...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2022
Zusatzinfo mit Abb.
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Geschichte Allgemeine Geschichte Mittelalter
Schlagworte 2022 • Dämonen • Dämonologie • eBooks • Folter • Foltermethoden • Frühe Neuzeit • Geschichte • Henker • Hexen • Hexenjagd • Hexenmeister • Hexerei • Hinrichtung • Katharina Henot • Katharina Kepler • Mittelalter • Neuerscheinung • Okkultismus • Schadzauber • Scharfrichter • Scheiterhaufen • Schwarze Magie • Teufelsanbetung • Teufelsaustreibung • True Crime
ISBN-10 3-641-29771-0 / 3641297710
ISBN-13 978-3-641-29771-8 / 9783641297718
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