Zwischen Licht und Schatten (eBook)

Das Kaiserreich (1871-1914) und seine neuen Kontroversen
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2022 | 1. Auflage
399 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45133-6 (ISBN)

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Zwischen Licht und Schatten -
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War das Kaiserreich mit einem Geburtsfehler behaftet, weil es aus einer Serie von Kriegen hervorging? Befand sich die deutsche Politik nach 1871 auf einem nationalen »Sonderweg« oder lassen sich nicht doch viele Parallelen zur allgemeinen europäischen Entwicklung bis 1914 nachweisen? Gab es etwa in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg nicht auch bemerkenswerte Modernisierungsprozesse und Ansätze zur Demokratisierung? Anlässlich des 150. »Geburtstags« streitet man heute wieder heftig und öffentlich um die Bedeutung und das Vermächtnis des Kaiserreichs. Die Beiträge dieses Bandes greifen die aktuellen divergierenden Deutungen auf und animieren dazu, neu nach den prägenden Charakteristika der Epoche - und ihren Nachwirkungen bis heute - zu fragen. Mit Beiträgen von Birgit Aschmann, Frank Becker, Robert Gerwarth, Heinz-Gerhard Haupt, Sandrine Kott, Ulrike Lindner, Thomas Mergel, Christina Morina, Frank L. Müller, Wilfried Nippel, Christoph Nonn, Werner Plumpe, Hedwig Richter, Wilfried Rudloff und Monika Wienfort

Birgit Aschmann ist Professorin für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Monika Wienfort ist Professorin für Brandenburgisch-Preußische Geschichte an der Universität Potsdam.

Birgit Aschmann ist Professorin für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Monika Wienfort ist Professorin für Brandenburgisch-Preußische Geschichte an der Universität Potsdam.

Zwischen Licht und Schatten. Das Kaiserreich und seine neuen Kontroversen. Eine Einleitung


Birgit Aschmann und Monika Wienfort

Ende Mai 2022 erregte eine Meldung vom Stuttgarter Katholikentag die Gemüter auch der nichtreligiösen Öffentlichkeit.1 Wie selbst in der überregionalen Presse zu lesen war, hatte ein Künstlerkollektiv im Auftrag der Veranstalter das überlebensgroße Reiterdenkmal Kaiser Wilhelms I. auf dem Karlsplatz verhüllt.2 »Wir verhüllen, weil wir darauf aufmerksam machen wollen. Das ist ein rotes Tuch«3, äußerte sich einer der Mitorganisatoren betont doppeldeutig. Eine erste Bezugsebene war evident: Es war ein knallrotes Tuch, das über Ross und Reiter geworfen worden war und jetzt die Aufmerksamkeit auf das Denkmal lenkte, wie es seinerzeit Christo mit seinen Verhüllungskünsten etwa beim Berliner Reichstag gelungen war.

Was aber war darüber hinaus mit dem »roten Tuch« gemeint? Begründet wurde die Verhüllung des Kaisers mit dessen Verbindungen zu Nationalismus und Kolonialismus. Das entsprach den Vorwürfen, mit denen schon im Sommer 2020 Farbattacken auf die Bismarck-Denkmäler in Berlin und Hamburg erklärt worden waren.4 Im Fahrwasser der globalen Bewegung des Postkolonialismus, die nicht nur die Aufmerksamkeit auf die koloniale Vergangenheit, sondern auch auf die Folgen für die Gegenwart lenken möchte und neben dem aufklärerischen ein aktionistisches Programm der Gesellschaftsveränderung vertritt, ist auch die Geschichte des deutschen Kolonialismus in den vergangenen Jahren in den Vordergrund der Erinnerungsdebatte gerückt. Waren die deutschen Kolonialverbrechen nun – wie in einem Buchtitel aus dem Jahr 2010 ebenso plakativ wie polemisch behauptet wurde – »The Kaiser’s Holocaust«5? Die Wissenschaft hat schnell darauf hingewiesen, dass nicht nur der »Holocaust«-Begriff problematisch ist, sondern auch, dass der Kaiser selbst keineswegs eine treibende Kraft des Kolonialismus gewesen war.6 Insofern spricht viel dafür, dass mit der Kaiserstatue in Stuttgart ein Symbol für das Kaiserreich als Ganzes in Haft genommen wurde.

Ist womöglich das gesamte Kaiserreich in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit inzwischen zum »roten Tuch« geworden? Und wenn ja, welche Informationen liegen einer solchen Deutung zugrunde?

1.»Licht und Schatten« – die neuen Kontroversen anlässlich des 150. Jubiläums der Reichsgründung


Als sich im Januar 2021 die im Schloss von Versailles am 18. Januar 1871 vollzogene Kaiserproklamation zum 150. Mal jährte, lagen – pünktlich zum Jubiläum – umfangreiche und schmale Bände zum Kaiserreich auf den Verkaufstischen der Buchhandlungen. Historiker:innen meldeten sich in Zeitungen zu Wort und diskutierten mit dem Bundespräsidenten im Schloss Bellevue über das Kaiserreich.7 Dass aber »so heftig und so kontrovers wie schon lange nicht mehr«8 über das Kaiserreich diskutiert wurde, hatte seine Ursache darin, dass mit dem Geschichtsbild zugleich das Selbstverständnis der Gegenwartsgesellschaft verhandelt wurde. So lag den verschiedenen Positionierungen gegenüber dem Kaiserreich zuweilen weniger ein Blick auf die Vergangenheit als vielmehr divergierende Annahmen über Gegenwart und Zukunft zugrunde. Während der Marburger Historiker Eckart Conze im Jahr 2020 die »Berliner Republik« mit »einer Renationalisierung, ja einem neuen Nationalismus« ringen und dadurch eine Gefährdung der Demokratie aufziehen sah, blickte die Münchener Historikerin Hedwig Richter optimistisch in die Zukunft: »vermutlich ist sie hell«.9 Beide Haltungen standen im Zusammenhang mit der Frage nach dem Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte. Während für Richter der »Zivilisationsbruch des Holocaust«10 nicht mit »langen Kausalketten von Untertanengeist und Pickelhauben«11 erklärt werden konnte, waren es für Conze eben Nationalismus, Militarismus und Autoritätshörigkeit im Kaiserreich, die in die Abgründe des 20. Jahrhunderts geführt hatten. Entsprechend hat kein anderer Forscher so akzentuiert die »Schatten des Kaiserreichs«12 hervorgehoben wie Conze. Dabei sah er sich durch das Zusammenwirken außerwissenschaftlicher und historiographischer Entwicklungen zu seiner »geschichtspolitische(n) Intervention«13 motiviert.

Eine entscheidende Rolle spielten die Bemühungen der Hohenzollernfamilie, Entschädigungsansprüche für die Enteignungen nach 1945 geltend zu machen. Doch diese Ansprüche würden gemäß dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz von 1994 alle Erfolgsaussichten verlieren, wenn den Vorfahren nachgewiesen werden könnte, dem Nationalsozialismus »erheblichen Vorschub« geleistet zu haben. Entsprechend kreiste die von der Hohenzollernfamilie und politischen Gremien angestoßene Debatte stets um das Verhältnis des damaligen Kronprinzen Wilhelm von Preußen zum Nationalsozialismus. Angeheizt wurde die Auseinandersetzung dadurch, dass die Hohenzollernfamilie mit juristischen Mitteln gegen Historiker:innen vorzugehen begann, die mit Äußerungen an die Öffentlichkeit gegangen waren, die den Vorstellungen der Hohenzollern nicht entsprachen. Auch Eckart Conze war von Klagen betroffen. Juristisch sollten die Restitutionsansprüche vom Verwaltungsgericht Potsdam entschieden werden; in der Öffentlichkeit und der Historiographie hatte sich im Jahr 2022 die Waage längst zulasten der Hohenzollern geneigt: Der Verband deutscher Historikerinnen und Historiker positionierte sich eindeutig im Sinne einer »Vorschubleistung«,14 und Stephan Malinowski, der schon früh auf die Steigbügelhalterfunktionen des Hohenzollernprinzen verwiesen und mit Klagen der Hohenzollernfamilie zu kämpfen hatte, wurde für sein 2021 erschienenes Werk über die Kollaboration der Hohenzollern mit den Nazis mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2022 ausgezeichnet.15

Allerdings hat Conze seine Positionierung gegenüber dem Kaiserreich auch deshalb für geboten gehalten, weil sich Gruppierungen am äußerst rechten Rand der Politik immer öfter auf das Kaiserreich beziehen. Als Reichsbürger und andere Rechtsextreme im August 2020 versuchten, den Reichstag zu stürmen, schwenkten sie demonstrativ die schwarzrotweiße Flagge des Kaiserreichs.16 Flankiert wurden solche Aktionen von Äußerungen aus dem Umfeld der AfD, deren revisionistische Geschichtspolitik sich auffällig auf das Kaiserreich verlagerte. Angesichts eines solchen »Kaiserreichsrevisionismus von weit rechts« kritisierte Conze auch Kolleg:innen, die durch »ein weiches Bild des Kaiserreichs«17 den rechten Vorstellungen entgegenkämen und dem allgemeinen Abdriften der Erinnerungskultur nach rechts zuarbeiteten. Die Kritik bezog sich nicht zuletzt auf jene Geschichte der deutschen Demokratie seit dem 18. Jahrhundert, die Hedwig Richter kurz zuvor veröffentlicht hatte.18 Deutschlands »ganz besondere Geschichte mit der Demokratie«19 wurde hier als »Modernisierungserzählung« konzipiert, bzw. als – trotz aller Fehler – »optimistische Chronologie«.20 Richter skizzierte das Kaiserreich nicht zuletzt als eine Zeit großer Reformen, in der die Menschen »im Gefühl« gelebt hätten, »aus der Dunkelheit ins Licht getreten zu sein«.21 Dieser »Lichtgeschichte« setzte Conze nun umso vehementer seine »Schattenerzählung« entgegen. Schon die Auftaktmotive konnten konträrer kaum sein: War für Conze das Kaiserreich eine »Kriegsgeburt«, hieß es bei Richter: »Am Anfang war die Verfassung«.22 Während Richter manche Brücken zwischen dem Kaiserreich mit seinen Demokratisierungs- und Pluralisierungsschüben einerseits und der Demokratiegeschichte der Bundesrepublik andererseits zu erkennen meint, sah Conze das Kaiserreich mit seinem Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus recht gradlinig auf den Nationalsozialismus zusteuern. Dieser aber, so Conze, müsse weiterhin der Fluchtpunkt für jede Beschäftigung mit dem Kaiserreich bleiben.23 Waren Kaiserreich und NS gemäß dieser Sicht aufs engste verbunden, negierte Conze jede Verbindung der bundesdeutschen Demokratie mit dem Kaiserreich: Allein die Weimarer Republik könne »einen...

Erscheint lt. Verlag 12.10.2022
Co-Autor Birgit Aschmann, Frank Becker, Robert Gerwarth, Heinz-Gerhard Haupt, Sandrine Kott, Ulrike Lindner, Thomas Mergel, Christina Morina, Frank L. Müller, Wilfried Nippel, Christoph Nonn, Werner Plumpe, Hedwig Richter, Wilfried Rudloff, Monika Wienfort
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
Schlagworte Adel • Antisemitismus • Demokratie • Demokratisierung • Geschichtswissenschaft • Geschlecht • Geschlechtergeschichte • Gesellschaft • Historikerstreit • Hohenzollern • Kolonialismus • Kontroverse • Monarchie • Nationalstaat • nation building • Otto von Bismarck • Politik • Preußen • Sonderweg • Sonderwegsthese • Sozialgeschichte • Sozialstaat • Stadt • Wilhelm II. • Wilhelminismus • Wirtschaft • Wirtschaftsgeschichte • Wissenschaft
ISBN-10 3-593-45133-6 / 3593451336
ISBN-13 978-3-593-45133-6 / 9783593451336
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