Zeitenwende (eBook)
176 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-3103-1 (ISBN)
Krieg in Europa. Mit rücksichtsloser Gewalt überfällt Wladimir Putins Russland die Ukraine und bringt sämtliche Eckpfeiler zum Einsturz, die seit Ende des Kalten Krieges den Frieden in Europa gesichert haben. Zeitenwende.
In was für einer Welt werden wir morgen aufwachen? Wie muss eine europäische Sicherheitspolitik aussehen? Und wie eine deutsche Energiepolitik angesichts von Zivilisationsbrüchen wie in Butscha? Rüdiger von Fritsch, ehemaliger Botschafter in Moskau, ist Wladimir Putin oft begegnet. Was diesen antreibt, was ihn stoppen könnte und was sein Krieg für uns bedeutet - davon handelt sein neues Buch.
'Eine hellsichtige Analyse.' Süddeutsche Zeitung über 'Russlands Weg'
Rüdiger von Fritsch, geboren 1953, bereitete die EU-Osterweiterung als Unterhändler in Brüssel vor, er war Leiter des Planungsstabes des Bundespräsidenten und Vizepräsident des BND. Von 2010 bis 2014 war er Botschafter in Warschau und von 2014 bis 2019 Botschafter in Moskau. Seine Bücher »Russlands Weg« und »Zeitenwende« wurden zu SPIEGEL-Bestsellern.
Einleitung
»Sie suchen weiterhin nach den imaginären Nazis, vor denen sie angeblich unsere Leute schützen wollten, und sie können noch immer keine Ukrainer finden, die sie mit Blumen empfangen.« Putins Krieg gegen die Ukraine dauerte bereits drei Wochen, als der ukrainische Präsident Selenskyj in einer jener legendär gewordenen nächtlichen Videoansprachen das ganze Dilemma der russischen Aggression auf den Punkt brachte. »Wir werden uns keinen russischen Ultimaten beugen«, fügte Wolodymyr Selenskyj hinzu.
Politiker und Analysten weltweit hatten gehofft – und wohl auch erwartet –, Wladimir Putin werde es bei einer bloßen Drohung belassen, als er Ende des Jahres 2021 einen umfassenden militärischen Aufmarsch an der russisch-ukrainischen Grenze in Gang setzte. Mit der Drohung, so die Annahme, wollte er weitergehende Ziele gegenüber dem Westen durchsetzen, die er am 17. Dezember 2021 präsentiert hatte. Diese Einschätzung teilten bis zuletzt auch sehr viele Beobachter in Moskau.
Auch die Vertreter der politischen Führung des Landes dürften vermutet haben, ihr Präsident werde einem klassischen Handlungsmuster sowjetischer und russischer Politik folgen, sich auf der internationalen Bühne durch maximalen Druck Gehör zu verschaffen. Sie werden auf ähnliche Weise im Dunkeln getappt haben wie wir im Westen. »Wir planen keine Offensive. Wir wollen keinen Krieg« – so Russlands Botschafter in Berlin in einem Interview mit einer deutschen Zeitung, das er am 23. Februar 2022, dem Tag vor dem russischen Angriff auf die Ukraine, auf der Website seiner Botschaft einstellen ließ. Er folgte damit der Sprachregelung seines Ministeriums, seines Ministers Sergej Lawrow. Es gehört zur russischen Politik, das als Wahrheit zu behandeln, was nützt, und nicht das, was stimmt. Doch bei einer unmittelbaren großen Lüge lässt man sich nicht gerne ertappen. Man belässt es lieber bei wolkigen Drohungen, die vieles möglich erscheinen lassen, so wie der russische Präsident es seit Wochen vormachte.
Russlands Diplomaten und möglicherweise auch Sergej Lawrow selbst werden von der Eskalation überrascht gewesen sein und – vermutlich erhebliche – Zweifel gehabt haben, ob dieser Überfall auf das Nachbarland mit all seinen Folgen wirklich den russischen Interessen diente. Ja, sie mögen sogar entsetzt gewesen sein. Die furchtbaren Bilder, die am 3. April um die Welt gingen, vom Massaker an der Zivilbevölkerung in Butscha, von Kriegsverbrechen, die ganz offensichtlich von russischen Soldaten verübt worden waren, werden auch sie erschüttert haben. Wie der Angriff auf Flüchtende im Bahnhof von Kramatorsk, die Bilder der Verwüstungen und Tötungen aus Borodjanka, die Entdeckung immer neuer Massengräber an Orten, die russische Truppen besetzt hatten. Sie werden gefürchtet haben, dass dies auch nicht die letzten solcher Bilder gewesen sein werden – und eine Ahnung davon gehabt haben, was sich in der seit Wochen bombardierten und ausgehungerten Stadt Mariupol zugetragen haben wird. Sie werden gewusst haben, dass dieser Krieg jene einholen könnte, die ihn ausgelöst hatten. Doch die russischen Diplomaten sind Gefangene eines Systems von Abhängigkeiten, von Gehorsam und Furcht. So flüchteten sie sich in hilflose Erklärungen und haltlose Anschuldigungen. Schuld am Überfall auf die Ukraine war nach russischer Lesart diese selbst, und dahinter steckte, wie fast immer, der Westen.
Der Krieg gegen die Ukraine hat deutlich gemacht, dass wir es im Kern mit den Entscheidungen eines einzigen Mannes zu tun haben. Wladimir Putins Treffen mit führenden Männern seines Landes – Frauen sind in der Führung so gut wie nicht vertreten – vor Beginn und zu Anfang des Krieges haben dies schlaglichtartig erhellt. Am 21. Februar übertrug das russische Fernsehen prominent die Sitzung eines Gremiums, das sonst stets im Geheimen tagt: des nationalen Sicherheitsrates. Alle sind dort vertreten, die Macht und Einfluss in der Staatsführung haben – oder haben sollten. Der Präsident saß den in einiger Entfernung im Halbkreis vor ihm Versammelten gegenüber. Und rasch wurde deutlich, dass hier keine Beratung stattfand, sondern eine Akklamation des bereits Entschiedenen: der Anerkennung der beiden Separatistengebiete im Südosten der Ukraine als »unabhängige Staaten«.
Außenminister Lawrow legte ausführlich dar, warum die Entscheidung unabdingbar sei; er war schon immer und jederzeit in der Lage, aus dem Handgelenk jede aktuelle Wahrheit seines Präsidenten zu erklären, jede Wendung nachzuvollziehen und wortreich zu rechtfertigen. Michail Mischustin, der Ministerpräsident Russlands, erklärte, wie gut man auf alles vorbereitet sei, vergaß aber zu sagen, dass er Wladimir Putins Entscheidung für richtig halte. Dieser musste ihn erst dazu anhalten. »Bitte etwas lauter«, ermahnte der Präsident anschließend Dmitri Kosak, seinen Sonderbeauftragten für den Ukraine-Konflikt und windungsreichen Strippenzieher.
Vollends zu einer Versammlung von Schulbuben und Claqueuren geriet die Veranstaltung, als Sergej Naryschkin das Wort ergreifen musste. Wenn in Diplomatenkreisen in Moskau darüber gesprochen wurde, wer den Präsidenten möglicherweise ersetzen könnte, sollte dies kurzfristig nötig sein, war stets auch Naryschkins Name gefallen. Ein weltgewandter Mann, der fließend Englisch und Französisch spricht. Parlamentspräsident war er gewesen und dann zum Chef des mächtigen Auslandsgeheimdienstes SWR ernannt worden. Das war quasi der Ritterschlag – seither gehörte er zum innersten Kreis. Da stand er nun, unsicher und verwirrt und musste sich von Wladimir Putin vorführen lassen: »Was meinen Sie?!? Wir sollen einen Verhandlungsprozess starten??« Und: »Werden Sie den Vorschlag unterstützen oder unterstützen Sie ihn?!?« Er unterstütze den Vorschlag über einen Beitritt, antwortet der Geheimdienstchef, zunehmend irritiert. »Darüber reden wir heute nicht«, musste er sich korrigieren lassen. »Ich unterstütze den Vorschlag über die Anerkennung.« – »Gut, nehmen Sie bitte Platz.«
Hier tagte nicht das Politbüro der KPdSU aus sowjetischer Zeit, wo mächtige und selbstbewusste Persönlichkeiten wie beispielsweise der Außenminister Andrej Gromyko ihrem Generalsekretär Leonid Breschnew hinter verschlossenen Türen auch einmal erfolgreich widersprochen haben werden. Hier hatte ein Mann eine Entscheidung getroffen, die er bestenfalls im Kreis engster Getreuer erörtert haben mochte, den Mitgliedern des nationalen Sicherheitsrates verkündet und diese genötigt, sogleich öffentlich zu akklamieren. Sergej Naryschkin hatte, wie auch der Sekretär des Sicherheitsrates, der Hardliner Nikolai Patruschew, in den Tagen zuvor dafür plädiert, »dem Westen noch eine letzte Chance« zu geben. Das hätte er besser nicht getan: Wladimir Putin trieb ihn vor laufender Kamera in die Selbstdemontage.
Sechs Tage später – der Krieg war bereits in vollem Gange – saßen dem Präsidenten an einem jener berühmt gewordenen langen Tische sein Verteidigungsminister Sergej Schoïgu und der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte Waleri Gerassimow gegenüber. Wenn hochrangige Offiziere versteinert schauen können, dann diese beiden, als Wladimir Putin sie anwies, die »Streitkräfte der Abschreckung« – so werden die Atomstreitkräfte der russischen Armee genannt – in eine erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen. Gehofft haben werden die beiden Offiziere in diesem Moment nur eines: Ihr Präsident spiele das alte Spiel sowjetischer und russischer Außenpolitik: Hat man etwas angerichtet, das internationale Empörung hervorruft, so setzt man noch einen drauf und bezichtigt unter heftigen Vorwürfen die andere Seite, an allem schuld zu sein. »Schuldlastumkehr« nennt sich das. Wenn man Glück hat, beginnt die andere Seite darüber nachzudenken, ob die Fehler nicht tatsächlich bei ihr liegen. In manchen Gesprächen in Moskau nach der Annexion der Krim 2014 hatte ich das Gefühl, wir seien auf der Halbinsel einmarschiert und nicht Russland. Ob denn auch sein Land einmal Fehler gemacht habe, hat die deutsche Russland-Expertin Sabine Fischer Wladimir Putin in einer Diskussion gefragt. »Unser größter Fehler war es, dass wir Ihnen zu sehr vertraut haben«, antwortete der russische Präsident, ohne nachzudenken und fügte hinzu: »Und Ihr Fehler war es, dass Sie uns dieses Vertrauen als Schwäche ausgelegt haben.« Umgehend ist die Verantwortung zurückgereicht.
Im...
Erscheint lt. Verlag | 17.5.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Asow • Azov • Bestseller • Bestsellerautor • Botschafter • Buchta • Butscha • Diplomatie • Donbas • Eskalation • Gaskrise • hybride kriegsführung • Imperialismus • Imperium • KGB • Kiev • Kiew • Kiewer Rus • Kreml • Krieg • Lanz • Maischberger • mariupol • Minsker Abkommen • NATO • Neoimperialismus • Opposition • Putin • Putinkenner • Russland • Russlandexperte • Russlands Weg • Russophobie • Selenskyj • Sowjetmensch • Sowjetunion • Ukraine • Ukrainekrieg • Wladimir Putin • Zeitenwende • Zelensky |
ISBN-10 | 3-8412-3103-9 / 3841231039 |
ISBN-13 | 978-3-8412-3103-1 / 9783841231031 |
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