Colonia Dignidad (eBook)
304 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45151-0 (ISBN)
Stefan Rinke ist Professor für die Geschichte Lateinamerikas an der FU Berlin. Philipp Kandler, Dr. phil., und Dorothee Wein sind wissenschaftliche Mitarbeiter_innen im Projekt »Colonia Dignidad. Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv« des Lateinamerika-Instituts und des Bereichs Digitale Interviewsammlungen an der FU Berlin.
Stefan Rinke ist Professor für die Geschichte Lateinamerikas an der FU Berlin. Philipp Kandler, Dr. phil., und Dorothee Wein sind wissenschaftliche Mitarbeiter_innen im Projekt »Colonia Dignidad. Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv« des Lateinamerika-Instituts und des Bereichs Digitale Interviewsammlungen an der FU Berlin.
»Sauberkeit und Edelsinn«. Die Private Sociale Mission in Siegburg als Keimzelle der Colonia Dignidad
Holle Meding
Entwurzelung, Traumatisierung, Armut und Perspektivlosigkeit hatten nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland die Entstehung verschiedenartigster Gemeinschaften und Bewegungen begünstigt, die Sinnstiftung und Orientierung versprachen. Im kirchlichen Bereich zeigten insbesondere evangelikale Gruppierungen ein gesteigertes Engagement und waren vielfältig in der Jugendarbeit tätig. Hierzu zählt auch die 1956 im damaligen Siegkreis vom Laienprediger Paul Schäfer gegründete Private Sociale Mission. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, verwahrlosten Jugendlichen auf einem religiösen Fundament einen festen Halt zu geben. Der Bau eines Jugendheims und der zur Schau getragene Gemeinschaftssinn beeindruckten Politiker und Lokalpresse gleichermaßen. Die Schattenseiten – eine autoritäre Führung, rigide Abschottung, drakonische Strafen, fundamentalistische Glaubensregeln – wurden zwar teilweise von den regionalen Behörden registriert, aber weitgehend hingenommen. Ermittlungen gegen Schäfer wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen blieben vor der Öffentlichkeit weithin verborgen. Allerdings beschleunigten sie die Vorbereitung für eine Gruppenauswanderung nach Chile, welche schließlich ab 1961 vollzogen wurde und in die Gründung der Colonia Dignidad mündete.
Zur Colonia Dignidad und ihrem Umfeld hat sich in jüngerer Zeit eine intensive Forschungsaktivität entwickelt.29 Der vorliegende Artikel erweitert den bisherigen Kenntnisstand unter Nutzung regionaler Archive. Er nimmt die Frühphase der Sekte in den Blick und vollzieht die Anfänge der Privaten Socialen Mission in der Bundesrepublik von der frühen Jugendarbeit Schäfers über die Gemeinschaftsbildung bis hin zur Auswanderung nach. Der Fokus liegt dabei auf dem seinerzeitigen Behördenverhalten und den verdeckten Aktivitäten der Privaten Socialen Mission. Die Darlegung basiert auf Zeitzeugeninterviews, die u.a. mit ehemaligen Angehörigen der Colonia Dignidad geführt wurden und nutzt Berichte der Lokalzeitungen aus den 1950er und 1960er Jahren. Zudem konnten Rundbriefe und Berichte Paul Schäfers eingesehen werden, die Rückschlüsse auf die beginnende religiöse Radikalisierung ziehen lassen. Weitere Quellenrecherche fand in den regionalen Archiven in Siegburg, Troisdorf und Lohmar statt. Insbesondere die Akten des Kreisjugendamts des damaligen Siegkreises zeigen eindrucksvoll die Anfänge des Missionshaus Heide und dokumentieren, wie die Behörden zwar erste vorsichtige Nachforschungen über die Private Sociale Mission einleiteten, sich aber insgesamt von der christlich-humanitären Fassade täuschen ließen. Während die Akten zur Privaten Socialen Mission im Archiv des Amtsgerichts Siegburg routinemäßig vernichtet wurden, bewahrte der Leiter des Kreisjugendamtes, Ferdinand Kaufmann, die Dokumente des Jugendamts vor der Zerstörung. Für diesen Artikel wurden sie erstmalig vom Kreisarchiv des Rhein-Sieg-Kreises für die wissenschaftliche Nutzung zur Verfügung gestellt.
Auf der Suche nach Sinn und Orientierung
»Es gab viele Sekten so nach dem Krieg. Aber das [mit Schäfer] war für uns Leben. Wir haben Gitarre gespielt, wir haben Ausflüge gemacht, gejubelt, wir haben uns gefreut.«30
Schon die Anfänge als Private Sociale Mission in Siegburg, die als evangelikale Religionsgemeinschaft begann und sich zu einer isolierten Sekte entwickelte, deuteten auf einen gezielten Rückzug aus der Gesellschaft hin. Mit der Gründung des Vereins Private Sozialmission am 31. Dezember 1956, die sich bald darauf in Private Sociale Mission umbenannte, und dem Kauf eines Grundstücks konstituierten Paul Schäfer, Hugo Baar und Hermann Schmidt ihre evangelikale-freikirchliche Gemeinde.31 Nach jahrelanger Mitgliederwerbung und einigen Ortswechseln wurde die Glaubensgemeinschaft in Siegburg und Lohmar, etwa 15 Kilometer nordöstlich von Bonn, etabliert und gründete ein unabhängiges Zentrum.
Bei der Rekapitulation ihrer Geschichte beschreiben die Zeitzeugen zumeist ähnliche Faktoren, die sie zu dem Anschluss an die Prediger und Gründungsväter des Vereins – Schäfer, Baar und Schmidt – bewogen haben.32 Inmitten der politisch und wirtschaftlich unsicheren Nachkriegszeit und der Furcht vor einem neuen Krieg suchten sie nach Orientierung. Einen sinnstiftenden Bezugsrahmen bot dabei die Religion.
Die Private Sociale Mission stellt dabei keinen Einzelfall dar. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist in Westdeutschland ein genereller Aufschwung von (pseudo)religiösen Bewegungen, außerkirchlicher Gemeinschaften, Freikirchen und Sekten zu bemerken.33 Emigration wird des Öfteren erwogen und bisweilen auch realisiert. Ein Beispiel für die Auswanderung einer Religionsgemeinschaft aus der Bundesrepublik nach Lateinamerika in den 1950er Jahren und die Ansiedlung in einem abgelegenen Gebiet stellt die Gemeinde von Paso Flores im Südwesten Argentiniens dar, die vom CVJM-Sekretär Willi Cordier gegründet wurde. Die Vorstellungswelt Cordiers, der gelebtes Christentum und eine Rückkehr zu den Lehren der Heiligen Schrift predigte, zeigt dabei frappierende Ähnlichkeit zu den von Schäfer verkündeten Grundsätzen der 1950er und 1960er Jahre.34
Viele der Mitglieder der Privaten Socialen Mission und späteren Colonia Dignidad beschreiben, dass sie auf ihrer Sinnsuche zunächst anderen Religionsgemeinschaften beitraten, beispielsweise den Baptisten. Bei diesen hätte ihnen jedoch der »Lebensgeist« gefehlt.
»[D]je Sache ist etwas religiös, nach der Flucht […] haben meine Eltern immer etwas gesucht. In der Kirche haben wir das nicht gefunden und in unserem Haus wohnten Baptisten. Und dadurch sind wir zu den Baptisten gegangen. Wir sind evangelisch. Und bei den Baptisten hat sich der Schäfer so ein bisschen reingeschlichen und uns hat das sehr gut gefallen. Da war ein Leben, wir haben gesungen, musiziert und das hat uns fasziniert.«35
Schäfer verstand es, in der Atmosphäre der Zerstörung und Traumatisierung durch den Zweiten Weltkrieg Hoffnung und Lebensfreude zu vermitteln. Er organisierte Zeltfreizeiten und Theateraufführungen. Besonders das gemeinsame Musizieren wird von den ehemaligen Mitgliedern der Privaten Socialen Mission als ein essenzielles Element der Gemeindebildung dargestellt. Schäfer selbst soll gut Gitarre gespielt haben und ist auf einigen Fotografien aus den 1950ern Jahren singend und spielend zu sehen. So standen auch auf den Packlisten für die von ihm organisierten Freizeitlager immer Musikinstrumente und Liederbücher.36
Auch im Jugendheim Heide trug Musik zur Festigung des Gemeinschaftssinns bei und diente darüber hinaus der Außendarstellung als kulturell bildendes Jugendheim. Es gab einen Schüler-Bläserchor der Jungen und einen der Mädchen sowie einen Jugendmusikerkreis und die Kinder bekamen Geigen-, Cello-, Klavier- und Akkordeonunterricht.37
Das Konzept ging auf. Schäfer beeindruckte mit Musik, Theateraufführungen und Zeltfreizeiten Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Auch die Siegburger Kommunalvertreter, Pädagogen und die Presse zeigten sich von Schäfers Jugendarbeit begeistert. Der gemeinnützige Anschein erreichte schließlich solche Ausstrahlungskraft, dass ein Siegburger Lokalblatt 1960 dem »bescheidenen, selbstlosen und zurückhaltenden Mann« und seiner »selbstlose[n] Liebe zur Jugend« das Portrait der Woche widmete.38
Paul Schäfers Jugendarbeit
Das Leben von Paul Schäfer war durch die Weltkriege und deren Folgen geprägt. Als jüngster von drei Brüdern wurde er am 4. Dezember 1921 in Bonn, seinerzeit Preußische Provinz...
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2023 |
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Co-Autor | Mariela Cecilia Ávila, Susanne Bauer, Iván Cáceres Roque, Karina Carrasco Jeldres, Meike Dreckmann-Nielen, M. Ángelica Franken, Henning Freund, Evelyn Hevia Jordán, Rainer Huhle, Philipp Kandler, Elizabeth Lira Kornfeld, Dieter Maier, Holle Meding, Rodrigo Núñez, Stefan Rinke, Cinthia Vargas Leiva, Tomás Villarroel Heinrich, Dorothee Wein |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 |
Schlagworte | Anthropologie • Aufarbeitung • Auswärtiges Amt • Bundesrepublik Deutschland • Chile • Colonia Dignidad • Deutschland • Diktatur • DINA • Erziehungswissenschaft • Forensik • Geschichte • Literaturwissenschaft • Paul Schäfer • Philosophie • Psychologie • Religionswissenschaft • Sekte • Sektensiedlung • Trauma • Verbrechen • Widerstand |
ISBN-10 | 3-593-45151-4 / 3593451514 |
ISBN-13 | 978-3-593-45151-0 / 9783593451510 |
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Größe: 5,2 MB
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