Was ist Moral? Eine ganz kleine Einführung. [Was bedeutet das alles?] (eBook)

Hoerster, Norbert - Erläuterungen; Analyse - 14174 - Durchges. und aktual. Ausgabe 2022
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2022 | 1. Auflage
104 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961990-3 (ISBN)

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Was ist Moral? Eine ganz kleine Einführung. [Was bedeutet das alles?] -  Norbert Hoerster
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Was bedeutet der Begriff »Moral«? Ist uns Moral vorgegeben? Kann Religion Moral begründen? Hilft uns die »Goldene Regel«? Muss die Moral alle gleich behandeln? Ist Trittbrettfahren unmoralisch? Und setzt Moral Willensfreiheit voraus? In seiner Einführung beleuchtet Norbert Hoerster auf ebenso zugängliche wie tiefsinnige Weise diese Fragen - und führt dabei auf kleinstem Raum in die Grundprobleme der Ethik ein.

Norbert Hoerster, geb. 1937, Jurist und Philosoph mit den Forschungsschwerpunkten Rechtsphilosophie, Ethik und Religionsphilosophie.

Norbert Hoerster, geb. 1937, Jurist und Philosoph mit den Forschungsschwerpunkten Rechtsphilosophie, Ethik und Religionsphilosophie.

Einleitung
I. Was bedeutet das Wort »Moral«?
II. Ist die Moral den Menschen vorgegeben?
III. Kann Religion die Moral begründen?
IV. Was leistet die Goldene Regel?
V. Kann die Moral unseren Interessen dienen?
VI. Muss die Moral alle gleichbehandeln?
VII. Warum soll man nicht »trittbrettfahren«?
VIII. Setzt die Moral Willensfreiheit voraus?

Zum Autor

II.
Ist die Moral den Menschen vorgegeben?


Norm 1: Die Tötung von Kindern in Gasöfen ist schlecht.

Mit diesem Beispiel beginnt Robert Spaemann, einer der einflussreichsten deutschen Ethiker, sein vehementes Plädoyer für die These, dass Moral nicht »relativ«, sondern »allgemeingültig« ist – allgemeingültig in Form eines »natürlichen Sittengesetzes«. Da Spaemanns ethische Position für eine in unserer Gesellschaft verbreitete Sichtweise typisch ist, möchte ich der folgenden Erörterung der Allgemeingültigkeitsthese das Plädoyer Spaemanns zugrunde legen.

Spaemann hält die Sichtweise, entsprechend der es keine allgemeingültige Moral gibt und alle Moralnormen relativ sind, für ein »Vorurteil«. Dieses Vorurteil widerspreche einem »natürlichen Empfinden«, nach dem eine Moralnorm wie Norm 1 nur allgemeingültig sein kann. Derjenige, der dieses natürliche Empfinden für falsch halte, trage hierfür die »Beweislast« – eine Beweislast, der er nicht gerecht werden könne (S. 1; die isoliert in Klammern stehenden Seitenzahlen verweisen auf die Broschüre von Robert Spaemann, Gut und böse – relativ? Über die Allgemeingültigkeit sittlicher Normen, Freiburg i. Br. 31992).

Bevor wir uns mit Spaemanns Position auseinandersetzen, müssen wir uns zunächst fragen: Was ist mit der These, nach der es allgemeingültige, nicht relative Moralnormen gibt, genauer gemeint? Mir scheint das folgende Verständnis der These am besten gerecht zu werden: Es gibt Moralnormen, denen jeder Mensch rationalerweise zustimmen muss. Und zwar muss er diesen Moralnormen nicht etwa deshalb zustimmen, weil das Ziel, dem sie dienen – wie das Ziel von Norm 1, dass Kinder nicht in Gasöfen getötet werden –, bloß Inhalt seiner eigenen Vorlieben bzw. Präferenzen oder Wünsche ist. Sonst wären diese Moralnormen ja trotz allem relativ – relativ zu den Präferenzen individueller Menschen. Und es könnte Menschen geben (selbst wenn es solche Menschen tatsächlich nicht gibt), die dieses Ziel nicht haben und die insofern keinen Grund hätten, dieser Moralnorm ihre Zustimmung zu geben.

Das aber wäre mit der Allgemeingültigkeit dieser Moralnorm offensichtlich nicht vereinbar. Eine allgemeingültige Moralnorm muss nämlich jedem Menschen in der Weise vorgegeben sein, dass er sie ganz unabhängig von seinen Vorlieben bzw. Präferenzen mit der bloßen Vernunft als eine objektiv gültige Norm erkennen kann und ihr schon deshalb rationalerweise einfach zustimmen muss und dementsprechend, falls er seiner Vernunft folgt, auch zustimmen wird.

Anders ausgedrückt: Allgemeingültige Moralnormen im Sinne Spaemanns sind Normen, die objektiv vorhanden sind und die als objektive Normen prinzipiell vom Menschen als solche erkannt werden können. Insoweit sind allgemeingültige Moralnormen mit empirischen Tatsachen vergleichbar. Eine empirische Tatsache wie die, dass die Erde fast rund ist, ist ja ebenfalls als objektiv vorhanden dem Menschen vorgegeben, ist prinzipiell von ihm erkennbar und findet, sofern er der Vernunft folgt, auch seine Zustimmung. Diesen Vergleich darf man allerdings nicht so verstehen, als ob allgemeingültige Moralnormen in derselben Realität wie empirische Tatsachen existent und damit auf dieselbe Weise wie diese erkennbar wären.

Nach alledem können wir allgemeinverbindliche Moralnormen auch als den Menschen objektiv vorgegebene – oder einfach als vorgegebene – Moralnormen bezeichnen.

Dabei ist zu betonen, dass in diesem Satz die Worte »den Menschen« im Sinn von »der Menschheit« zu verstehen sind. Denn die Tatsache, dass jedem einzelnen Menschen gewisse Moralnormen vorgegeben sind – nämlich als Forderungen seitens seiner Mitmenschen bzw. der Gesellschaft, in der er lebt –, ist ja zweifellos zutreffend, aber nicht mehr als eine triviale empirische Tatsache. Natürlich ist mir als Individuum in meiner Gesellschaft zum Beispiel die Moralnorm vorgegeben, dass ich nicht lügen soll, ebenso wie mir die Rechtsnorm vorgegeben ist, dass ich auf der Straße rechts fahren soll. Über die Frage, ob jedenfalls die erste dieser Normen aber auch der Menschheit in einem außerempirischen Sinn vorgegeben ist, ist damit nichts gesagt. Ja, eine bestimmte Moralnorm könnte auch dann der Menschheit vorgegeben sein, wenn sie im empirischen Sinn in keiner einzigen Gesellschaft existiert oder Geltung hat; denn es könnte der Fall sein, dass die Menschen die Norm entweder nicht erkennen oder dass sie ihr aus Willensschwäche die Zustimmung verweigern.

Hat Spaemann also recht, wenn er behauptet, es entspreche unserem »natürlichen Empfinden«, dass gewisse Moralnormen (wie Norm 1) als allgemeingültig dem Menschen vorgegeben sind und nicht etwa auf unseren Präferenzen beruhen?

Ich glaube nicht, dass es eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt. Ich glaube vielmehr, dass die Allgemeingültigkeitsthese zwar dem »natürlichen Empfinden« einiger, ja vielleicht auch der meisten, keineswegs aber aller Menschen entspricht.

Es dürfte sich hier ähnlich verhalten wie bei der Frage nach der Existenz Gottes. Auch die These der Existenz Gottes entspricht sicher dem »natürlichen Empfinden« vieler, aber keineswegs aller Menschen. Ja, in beiden Fällen beruht das betreffende Empfinden wohl weniger auf der Natur als auf der Erziehung und Sozialisation der Menschen. Das aber bedeutet: Die Berufung auf dieses Argument allein kann sicherlich in keinem der beiden Fälle ausreichen, die jeweilige These zu begründen.

Und in der Tat belässt es Spaemann nicht bei diesem einen Argument. Er nimmt vielmehr Bezug auf das, »was wir unter sittlichem Bewusstsein oder Gewissen verstehen«. Danach beruht, so meint er, das Sittliche darauf,

dass von bestimmten Dingen, Sachverhalten, Situationen, Lebewesen, Menschen für uns ein Anspruch ausgeht, dieselben adäquat aufzufassen und ihnen gemäß zu antworten (S. 7 f.).

Er spricht in diesem Zusammenhang auch von dem »Anspruch, der Wirklichkeit ›gerecht zu werden‹« (S. 7), bzw. von der »Forderung, den in Situationen begegnenden Dingen und Lebewesen ›gerecht zu werden‹« (S. 9), sowie von der hierzu notwendigen Einsicht in das, »was für den Menschen aufgrund seines Wesens gut ist und was zu beanspruchen ihm zusteht«. Hierfür aber gebe es »zweifellos […] objektive Maßstäbe« (S. 10 f.). Spaemann bezeichnet dabei diese Maßstäbe auch als die »Inhalte des natürlichen Sittengesetzes« (S. 14).

Mit welchen Handlungen aber werden wir »der Wirklichkeit gerecht« und mit welchen nicht? Ist dies nicht ein Kriterium, in das jeder mehr oder weniger einfach das hineinlegen kann, was ihm passt bzw. was seinen eigenen Wertmaßstäben oder Präferenzen entspricht? Anders gesagt: Handelt es sich bei diesem Kriterium nicht um eine bloße Leerformel? Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, sich die Beispiele für unmoralische Handlungen näher anzusehen, die Spaemann ausdrücklich anführt (S. 12 ff.).

Da finden sich in einer ersten Gruppe Beispiele wie Sklaverei, Tötung unschuldiger Geiseln, Folter und Lüge. Und da finden sich in einer zweiten Gruppe Beispiele wie Abtreibung, Gotteslästerung oder eine Weise des Geschlechtsverkehrs, bei der »der ›natürliche Zweck‹ der Weitergabe des Lebens […] durch zweckrationale Manipulation vereitelt wird« (S. 14).

Norm 2: Man darf Menschen nicht foltern.

Norm 3: Man darf nicht abtreiben.

Norm 4: Man darf keine Empfängnisverhütung ausüben.

Den Beispielen der ersten Gruppe (wie Norm 2) oder auch der obigen Norm 1 würde gewiss so gut wie jeder Mensch zustimmen; den Beispielen der zweiten Gruppe (wie Norm 3 und Norm 4) dagegen würden wohl vorwiegend religiös Strenggläubige zustimmen. Wieso, muss man sich fragen, wird ein Mensch, indem er abtreibt oder Empfängnisverhütung übt, »der Wirklichkeit nicht gerecht«? Auf der anderen Seite: Wieso wird ein Mensch, indem er unschuldige Kinder tötet oder Menschen foltert, »der Wirklichkeit nicht gerecht«? Welche Wirklichkeit, die unserer Erkenntnis zugänglich ist, verbietet diese, ja verbietet irgendwelche Handlungen?

Man darf sich durch die Tatsache, dass jeder von uns einer Moralnorm wie Norm 2 ohne weiteres zustimmen würde, nicht irreführen lassen: Eine Moralnorm ist nicht schon allein deshalb allgemeingültig und vorgegeben, weil jeder ihr tatsächlich zustimmt. Wir werden noch im Einzelnen sehen (in Kapitel V), dass es für die allgemeine Zustimmung zu einer Moralnorm eine andere, viel bessere Erklärung gibt. Andererseits ist eine Moralnorm wie Norm 4 nicht auch schon deshalb nicht allgemeingültig und vorgegeben, weil ihr nicht jeder zustimmt. Mit einem gewissen Recht schreibt Spaemann, dass die Tatsache, »dass die Inhalte des natürlichen Sittengesetzes oft strittig« sind, »keinen Zweifel an seiner Geltung« rechtfertige (S. 14). Das ist richtig: Die Strittigkeit allein rechtfertigt tatsächlich diesen Zweifel nicht; auch in der Naturwissenschaft gibt es strittige Fragen.

Das, was jedoch durchaus Zweifel an der...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2022
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek – [Was bedeutet das alles?]
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
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ISBN-10 3-15-961990-7 / 3159619907
ISBN-13 978-3-15-961990-3 / 9783159619903
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