Mentalisieren bei Traumatisierungen (Mentalisieren in Klinik und Praxis, Bd. 7) (eBook)
256 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11674-8 (ISBN)
Maria Teresa Diez Grieser, Dr. phil., Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Psychoanalytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin EFPP. Nach langjähriger Tätigkeit im klinischen Bereich und in der Präventionsforschung ist sie als psychoanalytische Psychotherapeutin und Supervisorin in eigener Praxis in Zürich tätig. Seit 2016 leitet sie den Forschungsbereich und die Angebotsentwicklung in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten St. Gallen.
Maria Teresa Diez Grieser, Dr. phil., Fachpsychologin für Psychotherapie FSP, Psychoanalytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin EFPP. Nach langjähriger Tätigkeit im klinischen Bereich und in der Präventionsforschung ist sie als psychoanalytische Psychotherapeutin und Supervisorin in eigener Praxis in Zürich tätig. Seit 2016 leitet sie den Forschungsbereich und die Angebotsentwicklung in den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten St. Gallen. Ulrich Schultz-Venrath, Prof. Dr. med., ist Arzt für Psychosomatik und Psychotherapie (DGPM) und Nervenheilkunde (DGN), Psychoanalytiker (DPV, DGPT, IPA) und Gruppenlehranalytiker (D3G, EFPP, GASI) in eigener Praxis in Köln. Er ist Professor für Psychosomatik an der Universität Witten/Herdecke. Bis 2019 war er Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des EVK Bergisch Gladbach. Des Weiteren ist er Sprecher der Herausgeber der Zeitschrift »Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik – Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gruppenanalyse« und Sprecher des Beirats für Wissenschaft und Forschung der Deutschen Gesellschaft für Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse (D3G). Herausgeber der Reihe »Mentalisieren in Klinik und Praxis«.
Vorwort
Vor über drei Jahrzehnten begann meine diagnostisch-psychotherapeutische Tätigkeit in der Neurochirurgie am Universitätsspital Zürich. Als angehende Neuropsychologin war ich stark am menschlichen Gehirn interessiert und der damals geltenden funktional-lokalisatorischen Logik verpflichtet. Umso größer war meine Überraschung, als meine erste Psychotherapiepatientin – eine junge Frau, die bei einem Unfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatte – trotz vollständiger Genesung und ohne Hinweise auf neuropsychologische Ausfälle weiterhin große Schwierigkeiten mit der Orientierung, der Aufmerksamkeit und dem Gedächtnis hatte. Emotional war sie ebenfalls stark belastet. Nachdem sie das Krankenhaus verlassen hatte, blieb sie ein Jahr lang bei mir in psychotherapeutischer Behandlung. Zwar half ein unterstützend durchgeführtes Biofeedback-Training, ihre Affektstürme und Angstzustände zu regulieren, doch bald musste ich einsehen, dass meine neuropsychologische Perspektive allein nicht genügte. Wir verbrachten aber viele Stunden damit, über den Unfall zu sprechen, über das Davor und das Danach in ihrem Leben. Auch ihre Albträume und Erinnerungsfetzen im Zusammenhang mit dem Unfall waren häufig Thema.
Zwar war mir nicht klar, wie ich der Patientin helfen konnte, doch ich hatte mich auf die therapeutische Beziehung mit ihr eingelassen, und wir arbeiteten an ihrem Narrativ bezüglich des Geschehenen. Das Thema »Traumatisierung« fand damals weder in den Fachbüchern noch in meinem klinischen Arbeitsumfeld besondere Beachtung. Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Ich hatte damals intuitiv verstanden, dass für meine Patientin ihr Unfall und die darauffolgenden medizinischen Maßnahmen traumatischen Wert hatten. Für die ärztliche Behandlung galt dies auch deshalb, weil ihre Fremdsprachigkeit das Verständnis der medizinischen Vorgänge und den Kontakt zum Pflegepersonal erschwerte.
Im Laufe unserer Arbeit zeigte sich aber auch, dass bereits in der frühen Kindheit verschiedene Belastungen in ihrer Entwicklung Spuren hinterlassen hatten. Die traumatischen Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Unfall trafen auf eine Psyche, die als Folge von emotionaler Vernachlässigung und Gewalt in der Familie bereits »Bruchstellen« aufwies, welche die Verarbeitung von Belastungen beeinträchtigten. Ohne einen konzeptionellen Kompass, jedoch mit einer neugierigen, wertschätzenden Haltung und der Bereitschaft, die Frau, die nicht viel jünger war als ich, zu begleiten und zu unterstützen, machten wir miteinander eine »traumatherapeutische Reise«. Meine damalige therapeutische Haltung war durch Resonanz und affektives Mitschwingen charakterisiert und könnte mit dem heute gängigen Ausdruck »compassionate« beschrieben werden.
Nach dieser ersten Erfahrung lernte ich in meiner diagnostischen und psychotherapeutischen Tätigkeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in der Neonatologie, in der Kinderschutzgruppe und in eigener Praxis mit erwachsenen Patientinnen und Patienten Hunderte von Menschen kennen, die Störungen aufwiesen, welche mit Erfahrungen der Vernachlässigung und Misshandlung in ihrer Kindheit zu tun hatten. Nicht zuletzt auch in Zusammenhang mit meiner psychotherapeutischen Arbeit mit erwachsenen Folteropfern aus Lateinamerika wurden das Thema »Traumatisierung« und die damit verbundenen Therapieansätze und Techniken immer wichtiger.
Das Trauma wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer regelrechten Modediagnose und Fortbildungen schossen gewissermaßen wie Pilze aus dem Boden. Große Hoffnung und hohe Erwartungen entstanden zunehmend bei Betroffenen und Fachpersonen, als über wirkungsvolle Behandlungsansätze und rasche Heilungsprozesse berichtet wurde, vor allem bei akuten Traumatisierungen. Strukturierte, konfrontations- und skills-orientierte Therapieansätze mit kognitiv-behavioralem Hintergrund, welche durch entsprechende Forschungsergebnisse untermauert wurden, galten als »State-of-the-art«-Vorgehensweisen. Psychoanalytische, beziehungsorientierte traumatherapeutische Ansätze wurden hingegen als nicht genügend wirtschaftlich, wissenschaftlich und wirksam qualifiziert, und ihr Anspruch, am wissenschaftlichen Diskurs teilzuhaben, wurde in Frage gestellt, wobei neue neurobiologische Befunde ab Ende der 1990er Jahre nach und nach zu einer (Teil-)Rehabilitierung der psychoanalytischen Sichtweise von Traumatisierungen führten und forschungsorientierte Kliniker wie Gottfried Fischer oder Peter Riedesser den Diskurs bezüglich Traumatisierungen und Traumaprozessen in entscheidender Weise bereicherten.
Aktuell wissen wir, dass wir bei der Erfassung und Behandlung von Störungen, die mit traumatischen Ereignissen verknüpft sind, nicht zu ausschließlich auf die mit der Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) verbundenen Symptome und Prozesse fokussiert sein sollten. Es ist bekannt, dass viele unserer Patientinnen und Patienten aufgrund von Belastungen in der Kindheit entweder eine komplexe Traumatische Belastungsstörung aufweisen, die sich in Form von verschiedenen traumaassoziierten Störungen äußern kann, oder aber sie bringen eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber Stress und Belastungen mit; diese kann aufgrund geringfügig erscheinender Ereignisse zu einer Dekompensation der Abwehrorganisation und zu erheblichen akuten Symptomen führen.
In den 1990er Jahren wurde von Peter Fonagy, Mary Target und Anthony Bateman die Theorie und therapeutische Praxis des Mentalisierens entwickelt, zunächst ausgehend von Erfahrungen mit Patientinnen und Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Seither haben viele Forscher(innen) und Praktiker(innen) die Theorie und therapeutische Praxis des Mentalisierens weiterentwickelt. Dies hat zum einen zu einem besseren Verständnis der Entwicklung des Selbst geführt und fruchtbare transdiagnostische Überlegungen ermöglicht und zum anderen bedeutsame Einsichten in Bezug auf die psychotherapeutische Haltung und die Form der Interventionen vermitteln können. Die Theorie und die Praxis des Mentalisierens verbinden entwicklungspsychologisches Wissen, Psychoanalyse, Bindungstheorie, Neurobiologie und Ergebnisse der Psychotherapieforschung; dabei wird darauf geachtet, dass die konkrete Arbeit mit unseren Patient(inn)en durch eine wohlwollende, wertschätzende, neugierige Haltung geprägt ist, die Brüche und Missverständnisse in der Kommunikation im Fokus hat und diese »zu reparieren« versucht. Es geht also darum, dass Psychotherapeutinnen und -therapeuten den Patient(inn)en ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und dass sich in der dabei entstehenden Beziehung psychische Räume auftun, in denen Patientinnen und Patienten bei sich Verbindungen zwischen Körper, Affekten, Gedanken und Verhalten entwickeln und solche Verbindungen bei anderen wahrnehmen können.
Traumatisierte Menschen haben aufgrund von Erfahrungen in der Kindheit, dass sie vernachlässigt und misshandelt wurden, oder wegen Extremtraumatisierungen über die Lebensspanne die Fähigkeit zur Selbst- und Beziehungsregulation nicht entwickeln können, oder die Fähigkeit ist durch diese Ereignisse beeinträchtigt worden. Haltungen und Interventionen, die mentalisierungsorientiert sind, eignen sich besonders gut, um traumatisierte Kinder, Jugendliche und Erwachsene wirksam zu unterstützen. Die Mentalisierungstheorie hat sich zudem schon früh mit präventiven Ansätzen und interdisziplinärer Zusammenarbeit auseinandergesetzt,1 so dass es heute eine reiche Sammlung von Konzepten und Interventionen für die Soziale Arbeit, die (Sozial-)Pädagogik und weitere spezifische Settings gibt. In der Arbeit mit Traumatisierungen eignet sich das Mentalisierungsmodell besonders gut für die Erarbeitung transdisziplinärer Konzepte und Vorgehensweisen, die eine große Schnittmenge mit der Traumapädagogik aufweisen.
Das vorliegende Buch kombiniert theoretische Ausführungen mit kurzen kasuistischen Beispielen, die Überlegungen und Vorgehensweisen illustrieren. Um meine therapeutischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte so gut wie möglich zu vermitteln und um Anonymität für die Patientinnen zu gewährleisten, werde ich im Folgenden besonders ausführlich das Fallbeispiel von Almudena vorstellen und in verschiedenen Kapiteln wieder aufgreifen: Almudena ist keine bestimmte Person, sondern eine Synopsis verschiedener Patientinnen und Patienten.
Ich danke deshalb allen meinen traumatisierten Patientinnen und Patienten dafür, dass ...
Erscheint lt. Verlag | 19.3.2022 |
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Reihe/Serie | Mentalisieren in Klinik und Praxis | Mentalisieren in Klinik und Praxis |
Mitarbeit |
Herausgeber (Serie): Ulrich Schultz-Venrath |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Affektregulation • Beziehungsregulation • DSM-5 • ICD-11 • MBT • Mentalisieren • Mentalisierungsstörung • Mentalisiserungsbasierte Therapie • Missbrauch • Misshandlung • PMOTT • Psychische Störungen • Psychoanalyse • Psychodynamisch-mentalisierungsorientierte Traumatherapie • Psychologie • Psychotherapie • Selbstregulation • transgenerationale Traumatisierung • Trauma • Traumafolgestörungen • Traumamodell • Traumaprozess • Traumata • Traumatherapeut • Traumatherapie • Traumatisierung • Vernachlässigung |
ISBN-10 | 3-608-11674-5 / 3608116745 |
ISBN-13 | 978-3-608-11674-8 / 9783608116748 |
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