Tagesbuch eines illegalen Einwanderers -  Rachid Niny

Tagesbuch eines illegalen Einwanderers (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
181 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-3623-4 (ISBN)
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Die deutsche Übersetzung des "Tagebuch eines illegalen Einwanderers" soll einen Beitrag dazu leisten, Vorurteile und Stigmatisierungen bewusst zu machen und abzubauen. Es soll die Lebensrealität von Menschen sichtbar machen, die ihre Heimat auf der Suche nach einem sichereren oder besseren Leben verlassen haben. Dabei zeigt das Buch auch deutlich, was das mit sich bringt: Elend, Hunger, Durst, Traurigkeit, Einsamkeit, Verachtung und Schmerz.

1


Gestern sah ich im Fernseher, wie ein kleines Boot kenterte. Am felsigen Ufer ruhten die sieben Leichen wie erschöpfte Schiffe. Ich habe gerade gegessen, als die Bilder an mir vorbeizogen. Plötzlich war ich satt. Jemand schleppte die Leichen auf den Sand und bedeckte sie mit einem Stück Stoff. Die Leichen waren nass und lagen ordentlich nebeneinander.

 Heute kehrte dieses Bild zurück und erschien in einigen Zeitungen. Das ist ekelhaft. Die Fernsehmoderatorin glaubt, dass die Regierung schläft. Ich weiß nicht genau, was ich hier mache.

 Gestern rief ich Bushra an. Sie erkannte meine Stimme nicht. Sie sagte, sie wisse nicht, warum ich nicht mehr anrufe. Bösartig. Ich sagte ihr, dass ich Marokko verlassen hatte. «Ich hänge ein bisschen in Europa rum.» Sie fragte, wann ich zurück sein würde. Ich sagte ihr, dass ich mich in Spanien niederlassen wolle. Sie meinte, dass das besser. «Viel besser», sagte ich. Ich weiß nicht mehr, warum ich ihre Nummer gespeichert oder warum ich überhaupt mit ihr gesprochen habe. Vielleicht musste ich eine Stimme hören. Sie schwärmte, Spanien sei wunderbar. Ich stimmte ihr zu: «Die Araber konnten die Schönheit Spaniens nicht ertragen, also verließen sie das Land. Jetzt bereuen sie es und kehren dorthin zurück. Einzeln und meistens als Ertrunkene.» Sie lachte und bat, ich solle ihr eine Tafel Schokolade schicken. Zynisch.

 Wir sind jetzt vier Leute im Haus. Ein anderer Algerier kam und brachte Miguel mit. Miguel hatte sich kaum gesetzt, als er über Argentinien zu sprechen begann. Er erzählte, dass sein Vater und seine Mutter, gleich nachdem er im Baskenland geboren worden war, mit ihm nach Buenos Aires auswanderten, wo sie nun schon dreißig Jahre lebten. Wegen des Hungers flohen die Spanier in Länder, in denen es genug Nahrung gab. Franco schien alles allein zu verschlingen. Miguel sprach von Menschen, die in den 1980er Jahren nach irgendwelchen Vorkommnissen verschwanden. Welche Vorkommnisse das waren, verstand ich wegen seines merkwürdigen Spanisch nicht. Ich wusste nur, dass es sich um schmerzhafte Ereignisse handelte. Miguels Lächeln war schüchtern. Er hatte schiefe Zähne. Wenn er lachte, versteckte er seine Zähne hinter seinen geschlossenen Lippen. Wenn Menschen verschwinden, deutet dies darauf hin, dass etwas höchst Unangenehmes passiert ist. Überall auf der Welt verschwinden Menschen. Die Ereignisse werden manchmal so dramatisch, dass ein Regime oder nur ein dummer Herrscher, der an Paranoia, Wahn oder Hämorrhoiden leidet, gezwungen ist, unschuldige Bürger zu verhaften und sie zu foltern. Vielleicht liquidiert er sie sogar auf die eine oder andere Weise. Ich habe über all diese Dinge nachgedacht, aber ich habe Miguel nichts davon erzählt. Ich weiß nicht, warum ich Vorbehalte hatte, darüber zu sprechen. Nachts, als ich meinen Kopf auf das Kissen legte, kam ich zum Schluss, dass es uninteressant wäre und es besser sei, meine Meinung nicht preiszugeben. Was kümmert es mich, wenn Leute so verschwinden? Ich bin hierhergekommen, um zu arbeiten. Politik habe ich hinter mir gelassen. Miguel wiederholte, dass die Juden in Argentinien alles im Griff haben. Er fragte mich, ob sie wirklich Kinder Gottes seien. Ich sagte ihm, dass alles, was ich über die Juden wisse, sei, dass sie lange Locken haben und schwarz gekleidet sind.  Und sie hätten Hakennasen, wie ich. Gott habe keine Kinder. Miguel verstand nicht, was ich sagte, also lächelte er schüchtern und versteckte seine schiefen Zähne. Wenn du keine schönen Zähne hast, bist du tatsächlich gezwungen, die anderen so wenig wie möglich anzulächeln. Manchmal vermeidest du es, mit ihnen zu reden. Dies führt zu einer Art Absonderung, die manche möglicherweise anders deuten. In Wahrheit sind es nur falsch gewachsene Zähne.

 Auf dem Feld weiß ich wegen der vielen Berge nicht, wo die Sonne aufgeht. Die vier Himmelsrichtungen verlieren sich inmitten all dieser Höhen. Auf den Gipfeln einiger Berge sehen wir manchmal alte und heruntergekommene Festungen. Ich zeigte auf sie und forderte Merici auf zu schauen: "Dort haben wir früher gelebt." Merici verstand nicht, warum wir den Berg hinauf mussten, um eine Bleibe zu finden.

 Ich sagte ihr, dass wir unsere Burgen auf dem Gipfel des Berges bauten, um sie zu beschützen, weil sie in den Tälern gelebt haben. Merici verstand die Geschichte nicht. Sie liebte Schokolade mehr als baufällige Schlösser.

 Orangenfelder variieren je nach Größe der Bäume, nach Höhe oder Breite. Es gibt hohe, große Bäume, die einen affenartigen Aufstieg erfordern. Ahmed, der Algerier, der Dünne, nennt sie Hochhäuser. Es gibt wundervolle Bäume, deren Früchte du alle plündern kannst, ohne deinen Platz auf dem Boden verlassen zu müssen. Manchmal verliert einer von uns die Beherrschung und beginnt laut mit den Bäumen zu sprechen, indem er sie verflucht. Wenn du wütend bist, kannst du dir den Baum als jemand anderes vorstellen und mit ihm sprechen. Aggressiv, wenn du möchtest. Dichte Bäume waren schon immer lästige Bäume, weil die Orangen ganz oben und normalerweise weit auseinander wachsen. Wenn du mit dem Baum fertig bist, stellt du fest, dass du viel Zeit verschwendet und viel Staub und giftige Pestizide eingeatmet hast. Dann hast du das Gefühl, der Sonne zu nahe zu kommen. Letztendlich habe ich eine seltsame Beziehung zu Bäumen aufgebaut. Die einfachen und geordneten Felder bleiben in Erinnerung. Was die ungünstigen und miteinander verflochtenen Felder betrifft, so ist die Erinnerung an sie immer mit Fluchen verbunden. Du kannst Bäume verfluchen, wann immer du willst. Diese interessiert das nicht.

 

Wenn ich auf einen Orangenbaum klettere, erinnere ich mich an all die Gelegenheiten, bei denen ich eine Bühne bestiegen und ein Mikrofon gehalten habe, um Gedichte vorzulesen. Ich sehe, dass das Leben manchmal zu einer endlosen Ironie wird. Meine Dichterfreunde sprechen in ihren Gedichten über den Körper. Sie sagen, das sei ein neuer Trend. Dichter mit meist schlanken und kranken Körpern. Wenn du fünfhundert Kisten mit Orangen in einen Anhänger laden kannst, ist der Körper «tot». Jede Reihe steht mit sieben Kästchen vertikal, wir haben nicht einmal die Möglichkeit, die Stirn zu trocknen. So lernst du deinen Körper gut kennen und siehst, ob ihr einander verdient. Ich denke, ich habe meinen Körper verdient, weil er mich nicht enttäuscht hat, als ich ihn brauchte. Nicht wie Bücher oder Gedichte, die manchmal zu Tode enttäuschen.

 Als Kind hatte ich eine quadratische Ledertasche. Eine kleine und alte Tasche. Eine von diesen Taschen, die normalerweise hart sind, wie die aus dem Film «Al-Ghoul». Ich habe sie jeden Morgen geöffnet, nahm die Bücher heraus, riss die obersten Blätter weg und räumte sie wieder in der Tasche ein. Es waren keine wichtigen Bücher. Es waren nur Bücher, über die ich im Laden meines Großvaters gestolpert war. Physikbücher, Lesebücher, Geschäftsbücher. Ich habe es geliebt, sie in der Tasche immer wieder neu zu ordnen. Jeden Tag eine andere Ordnung. Die Tasche stellte ich unter mein Bett. Wenn ich schlief, träumte ich von großen Bibliotheken, und dass ich zwischen ihren Gängen hindurchfliege. Manchmal träumte ich, dass ich auf dem Wasser gehe und wie der Heilige Petrus nicht nass werde, als wäre das Wasser ein großes Bett, über das ich laufe und springe. Wenn ich von Schlangen verfolgt wurde, öffnete ich meine Arme und flog wie ein Storch in die Höhe. Meine Mutter sagte, dass Schlangen im Traum die Feinde seien. Sie sind die neidischen Menschen.  Auch Hunde verfolgten mich. Schwarze und wilde Hunde.

 Eines Tages brauchte ich Geld. Ich überlegte, die Bücher zu verkaufen. Ich trug die Tasche zum Markt und legte die Bücher auf den Boden. Der Tag verging, ohne dass ich ein einziges Buch verkaufte. Ich steckte die Bücher zurück in die Tasche und räumte sie wieder unter das Bett.

 Seit damals öffnete ich die Tasche nicht mehr, um die Bücher zu ordnen. Ich brauchte Geld und dachte, meine Bücher könnten etwas für mich tun. Leider haben sie mich enttäuscht. Also habe ich sie verlassen, wie sie mich verlassen haben. Ich ließ sie unter dem Bett liegen. Ihr Schicksal ging mich von diesem Moment nichts mehr an.

 Als ich älter wurde, konnte ich meine Bücher verkaufen, wann immer ich Geld brauchte. Zu diesem Zweck bewahrte ich immer einige Bücher auf. Ich kann ein Buch nicht lieben. Nicht ohne daran zu denken, es zu verkaufen. Bücher, die mich im Stich lassen, lasse ich fallen.

 Merici kletterte nicht die Bäume hinauf. Nicht weil sie es nicht konnte, sondern weil wir sie daran hinderten. Nicht aus Sorge um ihre Sicherheit, sondern aus Sorge um unseren Wochenlohn. Wenn sie vom Baum gefallen wäre, wären wir ohne Arbeit auf der Straße gestanden. Das amüsierte sie sehr, oder vielleicht passte es ihr einfach. Ich weiß es nicht. Manchmal lag sie im Gras auf dem Bauch und schwor, dass sie keine einzige Orange pflücken würde. «Wenn Baku kommt, weckt mich auf», bat sie uns.

 Merici hatte große Angst vor Baku. Mehr als einmal sagte ich ihr, dass dieser Baku kein Gott ist, vor dem man Angst haben muss.

 Sie sagte, sie wisse das, aber er garantiere ihr das ganze Jahr über Arbeit. Ich stellte fest, dass sie immer Angst vor allem hatte, vor Baku, vor Roma, vor dem Wetter, vor Ratten und auch vor uns. Einmal erzählte sie uns, dass sie sich manchmal vorstelle, wir würden sie eines Tages töten, ihr Auto stehlen und dann verschwinden. Die Moros könnten alles. Sie lachte. Auf dem Rückweg vom Feld sah ich sie an diesem Tag lange an. Sie war sehr vorsichtig. Sie war immer so. Sie schaute weg, wie jemand, der über etwas Unangenehmes und Verblüffendes nachdenkt. Ich sagte ihr, dass wir sie nicht töten würden, weil wir ihr Auto nicht...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-7534-3623-2 / 3753436232
ISBN-13 978-3-7534-3623-4 / 9783753436234
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