»Ich gehörte nirgendwohin.« (eBook)

Kinderleben nach dem Holocaust
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
447 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77223-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Ich gehörte nirgendwohin.« -  Rebecca Clifford
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Schätzungen zufolge überlebten etwa 180.000 zwischen 1935 und 1944 geborene jüdische Kinder den Holocaust. Einige waren versteckt oder mit Kindertransporten in Sicherheit gebracht worden, andere wurden von alliierten Truppen aus Konzentrationslagern befreit. Nach 1945 ging man davon aus, sie würden das Erlebte rasch überwinden oder schlicht vergessen, schließlich hätten sie ja »Glück« gehabt. Ihre Erinnerungen galten als weniger authentisch; in der Forschung spielten sie lange nur eine marginale Rolle. Erst in den letzten Jahren haben sie Anerkennung als Überlebende und Zeuginnen gefunden.

In ihrer beeindruckenden Studie folgt Rebecca Clifford diesen sehr jungen Überlebenden auf ihren Wegen aus den Trümmern des Krieges ins Erwachsenenalter. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Wie können Menschen ihrem Leben einen Sinn abgewinnen, wenn sie nicht wissen, woher sie kommen? Wenn sie die Angehörigen verloren haben, die ihnen dabei helfen könnten, ihre fragmentierten Kindheitserinnerungen einzuordnen? Clifford wertet Archivmaterial und Oral-History-Interviews aus und bringt unerwartete und schockierende Geschichten ans Licht. Ihre Befunde zwingen uns, unsere Annahmen über die Folgen von Traumata und die Natur des Gedächtnisses zu revidieren.



Rebecca Clifford, geboren 1974 in der kanadischen Provinz Ontario, promovierte an der Oxford University und ist Professorin für Modern European History an der University of Swansea in Wales.

1
Ein anderer Krieg beginnt


Zilla C. wurde im Juni 1940 in Mannheim geboren. Im Alter von sechs Monaten wurde sie gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder Eric, der damals ein Kleinkind war, ins Internierungslager Gurs in Südfrankreich deportiert – ein Schicksal, das die Familie mit den meisten Juden aus Baden und der Pfalz teilte.1 Ihren ersten Geburtstag erlebte Zilla in Gurs. Dann wurden ihre Eltern in ein anderes Lager in Rivesaltes verlegt und schließlich nach Auschwitz deportiert. Zilla und ihr Bruder gehörten zu den Kindern, die vom Œuvre de Secours aux Enfants (OSE) aus Gurs gerettet wurden, einer Hilfsorganisation, die etwa 5000 in Vichy-Frankreich gestrandete jüdische Kinder in Sicherheit brachte.2 Zilla wurde in der Pouponnière in Limoges untergebracht, einem vom OSE betriebenen Kinderheim. Als das OSE nach der Besetzung Vichy-Frankreichs im November 1942 seine Heime schließen musste, wurde Zilla heimlich aufs Land gebracht und bei einer 18-jährigen Französin versteckt. Später, gegen Ende des Kriegs, wurde sie zu der Familie Apard in Oulches (im Departement Indre) gebracht, die sie unter dem Namen Cécile Apard in ihrem Haus versteckte.3 Nach der Befreiung Frankreichs nahm das OSE Zilla wieder auf und brachte sie zunächst in einem Heim in Montintin unter, von wo aus sie im August 1945 in eine Einrichtung in Draveil verlegt wurde, wo sie ihren Bruder Eric wiedertraf, an den sie sich jedoch nicht erinnern konnte. In ihren ersten fünf Lebensjahren hatte Zilla in sieben verschiedenen »Familien« gelebt: in ihrem Geburtshaus, in einem Internierungslager, in zwei Pflegefamilien und drei Kinderheimen. Der Krieg war vorüber, Europa war befreit, aber Zillas rastloses Dasein schien sich fortzusetzen: Die ständige Übertragung von Bindungen auf wechselnde Orte und Menschen war das einzige Leben, das sie kannte.4

Als die Psychoanalytikerin Judith Kestenberg Zilla im Jahr 1987 interviewte, erklärte diese, dass es ihr, obwohl sie mittlerweile 47 Jahre alt war, immer noch schwerfiel, die Bruchstücke ihres frühen Lebens zusammenzufügen. Das Kriegsende war für sie kein Abschluss gewesen. Stattdessen war es der Beginn eines jahrzehntelangen Bemühens, die Geschichte ihres Lebens zusammenzusetzen. Sie hatte bloß ein paar isolierte Daten, sie konnte nur wenige Angehörige um Hilfe bitten, und es gab keine Vorkriegsexistenz, auf die sie hätte zurückgreifen können:

Judith Kestenberg: Wohin gehören Sie?

Zilla C.: Ich gehöre nirgendwohin. […] Für die meisten Überlebenden, die diese Zeit nicht als kleine Kinder erlebt haben, gab es ein Vorher. Es gab eine Zeit, in der ihr Leben normal war, dann kam diese furchtbare Unterbrechung, und danach setzten sie ihr Leben fort, so gut sie konnten. Sie konnten an ein Familienleben, an ihre Religion anknüpfen, es gab … Sie hatten eine Normalität. Ich bin nie normal gewesen. […] Als der Krieg zu Ende war, gab es keinen Ausgangspunkt, zu dem ich hätte zurückkehren können.5

Für die Menschen, die den Holocaust als Kleinkinder überlebt hatten, begann nach dem Ende der Kämpfe auf dem europäischen Kontinent ein anderer Krieg. Erwachsene Überlebende und sogar ältere Kinder und Jugendliche hatten Erinnerungen an ein Leben vor dem Krieg und eine Vorkriegsidentität: Vielleicht konnten sie diese Identität nicht zurückgewinnen, vielleicht mussten sie sie nach Kriegsende aufgeben, aber es gab sie. Darin unterschieden sich die Leben und die Erfahrungen von Menschen, die den Holocaust als sehr junge Kinder erlebt hatten, deutlich von denen älterer Überlebender: Es gab für sie kein Vorkriegs-Ich, an das sie sich hätten erinnern können, keine Identität, auf die sie sich besinnen oder die sie ablegen konnten. Für diese kleinen Kinder waren die Kriegsjahre kein Abstieg in den Wahnsinn, sondern einfach die Zeit, in der ihr Leben begann. Kinder sind gut darin, das Außergewöhnliche als normal hinzunehmen, und da die jungen Überlebenden ihre Situation nicht mit einem anderen vergleichen konnten, empfanden sie die Jahre der Verfolgung nicht zwangsläufig als gefährlich, angespannt oder chaotisch. Viele von ihnen erfuhren nicht die Kriegsjahre als Zeit der Desorientierung und des Schocks, sondern die Monate und Jahre, die darauf folgten.

In emotionaler Hinsicht hatte die »Befreiung« auch eine dunkle Seite. Sie brachte große (körperliche, finanzielle, geografische, existenzielle) Unsicherheiten mit sich und konfrontierte jene Kinder erstmals mit unvorstellbaren Verlusten. Dieser Augenblick verlangte von Kindern, darunter solchen wie Zilla C., die kaum den Windeln entwachsen waren, dass sie ihre Identität grundlegend neu definierten – zu einem Zeitpunkt, als die Erwachsenen kaum Werkzeuge für die Bewältigung dieses Prozesses anbieten konnten. Diejenigen, die nach dem Krieg solche Kinder betreuten, seien es überlebende Eltern und Verwandte oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, bemühten sich, die Identität ihrer Schützlinge zu »rekonstruieren«, aber wenn jemand keinerlei Erinnerung an sein frühes Leben hatte, hatte es keinen Sinn zu versuchen, ihm eine Rückkehr zu einem authentischen Vorkriegs-Ich zu ermöglichen. Schließlich hatten diese Kinder oft ebendeshalb überlebt, weil sie ihre Herkunft, ihr Jüdischsein, ihre Muttersprache und sogar ihre Namen verborgen hatten. Neue Namen und Identitäten waren während des Kriegs in das Gewebe ihrer Kindheit, in ihre Vorstellung davon eingeflochten worden, wer sie waren, wohin sie gehörten und wie das Alltagsleben aussah. Das Kriegsende schlug diese Konstrukte in Stücke.

Während des Kriegs hatten sich die Strategien der Erwachsenen für das Überleben dieser Kinder (und deren eigene Strategien für ihr Überleben) im Wesentlichen auf die Gegenwart bezogen. Sie hatten all ihre Entscheidungen mit der Hoffnung getroffen, das Überleben für einen Tag, eine Woche oder einen Monat zu sichern, denn längerfristige Vorhersagen waren unmöglich. Nach dem Krieg mussten die Überlebenden beginnen, Vorkehrungen für die unmittelbare und langfristige Zukunft zu treffen, doch die Zukunft schien ihnen nicht mehr zu gehören. Sowohl minderjährige als auch erwachsene Überlebende hatten Monate und Jahre fern ihrer Heimat verbracht. Fast alle Familienverbände waren zerrissen worden, und keine einzige jüdische Gemeinde war verschont geblieben von der Ermordung ihrer Mitglieder. Häuser und Eigentum waren geraubt worden und konnten nicht wieder in Besitz genommen werden. Sowohl Erwachsene als auch Kinder mussten sich der Erkenntnis stellen, dass geliebte Menschen nie zurückkehren würden, einer Erkenntnis, die erst nach Jahren oder sogar Jahrzehnten zu vollkommener, entsetzlicher Klarheit reifte. Diese Überlebenden sahen sich nach dem Krieg mit Optionen konfrontiert, die keinen wirklichen Weg in die Zukunft wiesen. Sie mussten herausfinden, wie sie ihr Leben in Ermangelung jeglicher materieller oder emotionaler Mittel fortsetzen konnten.6

Obwohl das Hauptaugenmerk dieses Buchs auf dem Leben überlebender Kinder nach dem Krieg liegt, müssen wir verstehen, wie sie während des Kriegs lebten und warum sie so lebten, um uns ein Bild von ihren Gefühlen, Erfahrungen und Entscheidungen in der Zeit danach machen zu können. Kinder hatten es auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen geschafft, trotz ihrer fast aussichtslosen Lage den Holocaust zu überleben. Ich werde mir hier die vier für die Kriegserfahrungen dieser Kinder charakteristischen Wege ansehen: Überleben in einem Versteck, Flucht in ein neutrales oder von den Alliierten kontrolliertes Land, Überleben in Ghettos und Durchgangslagern und Überleben in Konzentrationslagern. Natürlich waren diese vier Szenarien sehr unterschiedlich (und die Grenzen zwischen ihnen sind künstlich, denn viele fanden sich in mehr als einem wieder), aber verblüffenderweise schlugen die Kinder alle ähnliche Wege ein, um sich emotional von diesen Situationen zu lösen. Nach dem Krieg begann für die meisten überlebenden Kinder eine Phase vollkommener Ungewissheit. An diesem Punkt tat sich eine Kluft auf zwischen der Geschichte eines Kindes und seiner Fähigkeit, seiner Vergangenheit einen Sinn zu geben: Da von ihm verlangt wurde, seine während des Kriegs entwickelte Identität rasch abzulegen und durch ein »rekonstruiertes« Ich zu ersetzen, passten die Erfahrungen, die es während des Kriegs gemacht hatte, nicht länger in seine Lebensgeschichte. Wenn sich seine erwachsenen...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2022
Übersetzer Stephan Gebauer
Sprache deutsch
Original-Titel Survivors. Children's Lives After the Holocaust
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Adoption • Anna Freud • Anne Frank • Auschwitz • Auschwitz-Birkenau • Australasien • Australien und Neuseeland / Aotearoa • Birkenau • Buchenwald Boys • Displaced Persons • DP • Europa • Flüchtlinge • Freud • Ghetto • Israel • Jean Piaget • Kindertransport • Kindheitstrauma • Konzentrationslager • Lager • Lodz • Nahostkonflikt • neues Buch • Nordamerika (USA und Kanada) • Palästina • posttraumatisch • PTSD • Rotes Kreuz • Shoa • Süd- und Zentralamerika (inklusive Mexiko) Lateinamerika • Survivors. Children's Lives After the Holocaust deutsch • Theresienstadt • Trauma • Weir Courtney • Windermere Children
ISBN-10 3-518-77223-6 / 3518772236
ISBN-13 978-3-518-77223-2 / 9783518772232
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